Die Argos

Missionsjahr 61

Konstance

Es ist der Morgen ihres zehnten Geburtstags. Im Abteil 17 wird NoLight zu DayLight, und sie geht auf die Toilette, bürstet sich die Haare, pudert sich die Zähne, und als sie den Vorhang zur Seite schiebt, stehen Mutter und Vater da.

«Schließ die Augen und streck die Hände aus», sagt Mutter. Konstance tut es, und noch bevor sie die Augen wieder öffnet, weiß sie, was die Mutter ihr da auf die Unterarme legt: einen neuen Arbeitsanzug. Er ist kanariengelb, Bündchen und Säume sind mit kleinen xxx geschmückt, und ihre Mutter hat eine winzige Schlangenhaut-Kiefer auf den Kragen gestickt, die zu dem zweieinhalb Jahre alten Setzling in Farm 4 passt.

Konstance drückt ihre Nase in den Anzug. Er riecht, wie es seltener nicht geht: neu.

«Du wirst in ihn hineinwachsen», sagt Mutter und zieht den Reißverschluss bis hoch zu Konstances Hals. Im Versorgungsraum sind alle versammelt: Jessi Ko, Ramón, Mrs Chen, Tayvon Lee und Dr. Pori, der neunundneunzigjährige Mathematiklehrer. Alle singen das Bibliothekstag-Lied, und Sara Jane stellt zwei große Pfannkuchen, mit richtigem Mehl gebacken, einen auf dem anderen, vor sie hin. An den Rändern fließt etwas Sirup herunter.

Alle sehen zu, die Jungen besonders gebannt, von denen keiner seit ihrem eigenen zehnten Geburtstag je wieder einen Pfannkuchen aus echtem Mehl gegessen hat. Konstance rollt ihren ersten Pfannkuchen auf und isst ihn mit vier Bissen. Mit dem zweiten nimmt sie sich Zeit. Als sie fertig ist, hebt sie den Teller hoch, leckt ihn ab, und alle applaudieren.

Dann bringen Mutter und Vater sie zurück ins Abteil 17, wo sie warten soll. Irgendwie ist ihr ein Tropfen Sirup auf den Ärmel geraten, und sie sorgt sich, dass es Mutter die gute Laune verderben wird, aber die ist viel zu aufgeregt, als dass es ihr auffallen würde, und Vater zwinkert ihr nur zu, feuchtet sich den Finger an und hilft ihr, den Fleck wegzuwischen.

«Es wird zunächst etwas viel sein», sagt Mutter, «aber am Ende wirst du es mögen, du wirst sehen. Es ist Zeit, etwas erwachsener zu werden, und es könnte mit deinem …» Bevor sie den Satz zu Ende bringen kann, kommt Mrs Flowers herein.

Mrs Flowers’ Augen sind ganz trüb vom grauen Star, ihr Atem riecht intensiv nach konzentrierter Möhrenpaste, und sie scheint mit jedem Tag etwas kleiner zu werden. Vater hilft ihr, den Perambulator, den sie dabeihat, neben Mutters Nähtisch zu stellen.

Mrs Flowers holt einen mit goldenen Lichtern blinkenden Vizer aus der Tasche ihres Arbeitsanzugs. «Beides ist natürlich gebraucht, er gehörte Mrs Alegawa, Friede ihrer Seele. Er mag nicht mehr perfekt aussehen, hat aber alle Tests bestanden.»

Konstance stellt sich auf den Perambulator, und er erwacht zum Leben. Mutter drückt ihr die Hand, wirkt gleichzeitig traurig und glücklich, und Mrs Flowers sagt: «Ich seh dich später.» Damit wackelt sie wieder aus der Tür und zurück in ihr Abteil sechs Türen weiter. Konstance spürt, wie Mutter den Vizer hinten an ihren Kopf anpasst, wie er ihr auf die okzipitalen Knochen drückt, an den Ohren vorbeireicht und sich vor ihren Augen schließt. Sie hatte Angst, dass es wehtun würde, aber es fühlt sich nur so an, als stünde jemand hinter ihr und drückte ihr zwei kalte Hände auf das Gesicht.

«Wir sind bei dir», sagt Mutter, und Vater fügt hinzu: «Die ganze Zeit direkt bei dir», und dann lösen sich die Wände von Abteil 17 auf.

Sie steht in einem riesigen Atrium. Drei Etagen Bücherregale, jedes fünf Meter hoch, mit Hunderten von Leitern erklimmbar, scheinen auf beiden Seiten kilometerweit zu reichen. Über der dritten Etage stützen die Marmorsäulen zweier Bogengänge ein großes, fassförmiges Gewölbe mit einer rechteckigen Öffnung in der Mitte, über der bauschige Wolken an einem kobaltblauen Himmel entlangziehen.

Hier und da vor ihr stehen Gestalten an Tischen oder sitzen in Lehnsesseln. In den oberen Etagen suchen manche in den Regalen, lehnen auf den Geländern oder steigen die Leitern hinauf und hinab. Und überall in der Luft, so weit sie sehen kann, fliegen Bücher, einige klein wie ihre Hand, andere groß wie die Matratze, auf der sie schläft, sie fliegen, heben ab aus den Regalen und kehren auch wieder in sie zurück. Manche schwirren herum wie Singvögel, manche bewegen sich eher schwerfällig wie große Störche durch die Luft.

Zunächst steht sie einfach nur da und staunt, sprachlos. Noch nie war sie in einem Raum, der auch nur annähernd so groß war. Dr. Pori, der Mathematiklehrer – nur dass sein Haar viel dichter ist und schwarz, nicht silbergrau, und feucht und zugleich trocken aussieht –, rutscht rechts eine Leiter herunter, überspringt dabei wie ein junger Athlet jede zweite Sprosse und landet sicher auf beiden Füßen. Er zwinkert ihr zu, seine Zähne sind milchweiß.

Das Gelb von Konstances Arbeitsanzug strahlt noch heller als in Abteil 17, und von dem Sirupfleck ist nichts mehr zu sehen.

Von weither kommt Mrs Flowers auf sie zu, einen kleinen weißen Hund direkt bei sich. Sie ist eine sauberere, jüngere, freundlichere Mrs Flowers mit klaren haselnussbraunen Augen und mahagonifarbenen, zu einem professoralen Bob geschnittenen Haaren. Sie trägt einen Rock und darüber einen Blazer, beides tiefgrün wie frischer Spinat, und auf einer Brust ist in goldener Stickerei zu lesen: Bibliotheksleiterin.

Konstance beugt sich über den kleinen Hund. Seine Barthaare zucken, die schwarzen Augen leuchten, das Fell fühlt sich wie Fell an. Sie muss fast vor Freude lachen.

«Willkommen», sagt Mrs Flowers. «Willkommen in der Bibliothek.»

Konstance und sie durchqueren das Atrium. Verschiedene Crew-Mitglieder sehen von den Tischen auf und lächeln, als sie sie passieren. Ein paar zaubern Ballons hervor, auf denen ES IST DEIN BIBLIOTHEKSTAG steht, und Konstance sieht zu, wie sie durch die Öffnung zum Himmel hinauffliegen.

Die Buchrücken ganz in der Nähe sind petrolfarben, kastanienbraun und tiefviolett, einige sehen schmal und empfindlich aus, andere wie Tischplatten, die man in Regale gestellt hat. «Nur zu», sagt Mrs Flowers, «du kannst sie nicht beschädigen», und Konstance berührt den Rücken eines kleinen Buchs, das daraufhin auffliegt und sich vor ihr öffnet. Aus den Dünndruckseiten wachsen drei Gänseblümchen, und im Zentrum jedes einzelnen leuchten die gleichen drei Buchstaben: M C V.

«Einige sind ziemlich verwirrend», sagt Mrs Flowers. Sie tippt gegen das Buch, und es schließt sich und stellt sich zurück an seinen Platz. Konstance sieht an den Bücherregalen entlang, bis dahin, wo das Atrium in der Ferne verschwimmt.

«Geht es immer so weiter?»

Mrs Flowers lächelt. «Nur Sybil könnte das sicher sagen.»

Drei Teenager, die Lee-Brüder und Ramón – nur dass es eine schlankere, ordentlichere Ausgabe von Ramón ist –, kommen herbeigerannt und springen auf eine Leiter, und Mrs Flowers ruft: «Langsam, bitte.» Konstance versucht sich derweil klarzumachen, dass sie immer noch in Abteil 17 ist, ihren neuen Arbeitsanzug und einen gebrauchten Vizer trägt und auf einem Perambulator steht, der zwischen Vaters Bett und Mutters Nähtisch steht – und dass Mrs Flowers, die beiden Lee-Brüder und Ramón in ihren eigenen Familienabteilen auf ihren eigenen Perambulatoren stehen und ihre eigenen Vizer tragen: dass sie alle in derselben Scheibe stecken, die durch den interstellaren Raum rast, und dass die Bibliothek nichts ist als ein Datenschwarm im flackernden Kronleuchter, der Sybil ist.

«Hier rechts haben wir die Geschichte», sagt Mrs Flowers, «links die moderne Kunst, dahinter die Sprachen; die Jungen wollen zu den Spielen, die sind natürlich sehr beliebt.» Sie bleibt vor einem unbesetzten Tisch mit einem Stuhl auf jeder Seite stehen und bedeutet Konstance, sich zu setzen. Zwei Schachteln stehen vor ihr, eine mit Stiften, eine andere mit Rechtecken aus Papier. Dazwischen gibt es einen kleinen messinggefassten Schlitz, in dessen Rand Für Fragen graviert steht.

«Wenn es», sagt Mrs Flowers, «beim Bibliothekstag eines Kindes so viel Neues gibt, versuche ich die Dinge möglichst einfach zu halten. Eine kleine Schnitzeljagd, Frage Nummer eins: Wie weit ist unser Ziel von der Erde entfernt?»

Konstance blinzelt unsicher, und Mrs Flowers sieht sie verständnisvoll an. «Das musst du nicht auswendig wissen, Liebes. Dafür ist die Bibliothek da.» Sie zeigt auf die Schachteln.

Konstance nimmt einen Stift: Er wirkt so real, dass sie am liebsten hineinbeißen würde. Und das Papier! Es ist so sauber, so frisch. Auf der gesamten Argos gibt es außerhalb der Bibliothek kein einziges Stück Papier, das so sauber ist. Sie schreibt: Wie weit von der Erde liegt Beta Oph2?, sieht Mrs Flowers an, Mrs Flowers nickt, und Konstance lässt den Zettel durch den Schlitz fallen.

Das Papier verschwindet. Mrs Flowers räuspert sich und zeigt hinter Konstance, und dort, in der dritten Etage, rutscht ein dickes braunes Buch aus dem Regal. Es fliegt durch das Atrium, weicht ein paar anderen Büchern aus, verharrt, kommt heruntergeschwebt und öffnet sich.

Im Buch entfaltet sich eine Karte mit der Überschrift Bestätigte Liste von Exoplaneten in der optimistisch betrachtet bewohnbaren Zone, B–C. In der ersten Spalte rotieren kleine Welten in jeglicher Farbe, einige felsig, andere von Gaswirbeln bedeckt, einige mit Ringen, andere, die Schweife aus Eis hinter ihren Atmosphären herziehen. Konstance fährt mit dem Finger die Spalten hinunter, bis sie Beta Oph2 findet.

«4,2399 Lichtjahre.»

«Gut. Frage Nummer zwei: Wie schnell sind wir unterwegs?»

Konstance schreibt die Frage auf, steckt den Zettel in den Schlitz, und während das Buch an seinen Platz zurückkehrt, kommen Schaubilder angeflogen, die sich auf dem Tisch entrollen. Aus der Mitte erhebt sich eine leuchtend blaue Zahl.

«7.734.958 Kilometer in der Stunde.»

«Genau.» Jetzt heben sich drei von Mrs Flowers’ Fingern. «Wie groß ist die Lebensdauer eines genetisch optimalen Menschen unter Missionsbedingungen?» Auch die Frage wandert in den Schlitz, und ein halbes Dutzend Dokumente verschiedener Größe kommt von den Regalen heruntergeflattert.

114 Jahre, steht auf einem.

116 Jahre, auf einem anderen.

119 Jahre, besagt ein Drittes.

Mrs Flowers beugt sich zur Seite, um dem Hund zu ihren Füßen die Ohren zu kraulen. Währenddessen beobachtet sie Konstance. «Jetzt kennst du die Geschwindigkeit der Argos, die Entfernung, die sie zurückzulegen hat, und die Lebenserwartung eines unter diesen Bedingungen Reisenden. Die letzte Frage: Wie lang wird unsere Reise dauern?»

Konstance starrt auf den Tisch.

«Benutz die Bibliothek, Liebes.» Mrs Flowers klopft mit dem Fingernagel auf den Rand des Schlitzes. Konstance schreibt die Frage auf einen der Zettel, schiebt ihn in den Schlitz, und kaum, dass er verschwunden ist, schwebt ein einzelnes Stück Papier hoch oben aus dem Gewölbe hin und her schwingend wie eine Feder herunter und landet vor ihr auf dem Tisch.

«216.080 Erdentage.»

Mrs Flowers beobachtet sie, und Konstance blickt das lange Atrium hinunter bis zu dem Punkt in der Ferne, wo Regale und Leitern verschmelzen. Ein Verstehen glimmt auf und verlöscht wieder.

«Wie viele Jahre sind das, Konstance?»

Sie hebt den Blick. Ein Schwarm digitaler Vögel fliegt über dem Gewölbe vorbei, und darunter durchkreuzen hundert Bücher, Rollen und Dokumente die Luft in hundert verschiedenen Höhen, und sie spürt, wie sich die Aufmerksamkeit der anderen in der Bibliothek auf sie richtet. Sie schreibt: 216.080 Erdentage in Jahren?, steckt den Zettel in den Schlitz, und ein anderer kommt herabgeflogen.

592.

Das Muster der Holzmaserung des Tisches beginnt zu arbeiten, zumindest scheint es so, und auch die Marmorfliesen des Bodens wirbeln hin und her. Etwas in ihr gerät in Aufruhr.

Nur gemeinsam,

Alle gemeinsam …

Fünfhundertzweiundneunzig Jahre.

«Wir werden niemals …?»

«Das ist richtig, mein Kind. Wir wissen, dass Beta Oph2 eine Atmosphäre wie die Erde hat, dass es dort flüssiges Wasser wie auf der Erde gibt und wahrscheinlich auch irgendeine Art von Wäldern. Aber wir werden sie nie sehen. Keiner von uns. Wir sind die Brückengenerationen, die Mittler, die, die Arbeit tun, damit unsere Nachfahren bereit sind.»

Konstance presst die Hände auf den Tisch, sie hat das Gefühl, sie könnte ohnmächtig werden.

«Das zu verarbeiten, ist nicht leicht, ich weiß. Deshalb warten wir, bis wir Kinder in die Bibliothek lassen. Bis sie reif genug sind.»

Mrs Flowers nimmt einen Zettel aus der Schachtel und schreibt etwas darauf. «Komm, ich möchte dir noch etwas zeigen.» Sie steckt das Papier in den Schlitz, und ein ziemlich ramponiertes Buch, so breit und groß wie der Eingang zu Abteil 17, taumelt aus einem Regal in der zweiten Etage, flattert ein paarmal wenig elegant herum und landet aufgeschlagen vor ihnen. Die Seiten sind tiefschwarz, als hätte sich eine Falltür über einer unergründlichen Tiefe geöffnet.

«Der Atlas», sagt Mrs Flowers, «ist ein bisschen veraltet, fürchte ich. Ich zeige ihn allen Kindern an ihrem Bibliothekstag, auch wenn sie später lieber raffiniertere, eindringlichere Dinge nutzen. Also los.»

Konstance steckt einen Finger in die Seite, zieht ihn zurück. Dann einen Fuß. Mrs Flowers nimmt sie bei der Hand, und Konstance schließt die Augen, atmet tief ein, und gemeinsam treten sie durch die Seite.

Sie fallen nicht: Sie hängen im Schwarz. In allen Richtungen durchlöchern Lichtpunkte die Dunkelheit. Über Konstances Schulter schwebt der Rahmen des Atlas, ein erleuchtetes Rechteck, durch das sie immer noch die Regale der Bibliothek erkennen kann.

«Sybil», sagt Mrs Flowers, «bring uns nach Istanbul.»

In der Schwärze tief unter ihnen wird einer der Lichtpunkte zu einem Kreis, dann zu einer blau-grünen Kugel, die mit jedem Herzschlag weiter wächst. Eine blaue Hemisphäre rotiert von Dämpfen umwirbelt durch Sonnenlicht, während sich ihr Gegenstück durch eine ultramarinblaue, von elektrischen Lichtern durchzogene Dunkelheit bewegt. «Ist das …?», fragt Konstance, doch jetzt fallen sie mit den Füßen voraus auf die Kugel zu, oder sie kommt auf sie zu: Sie dreht sich, wird riesig groß und füllt ihr gesamtes Gesichtsfeld aus. Konstance hält den Atem an, während sich eine Halbinsel unter ihnen auftut, jadegrün, mit Beige- und Rottönen gefleckt. Der Farbenreichtum ist fast zu viel für ihre Augen: Was da auf sie zurast, ist üppiger, vielfältiger, bunter und verschlungener als alles, was sie sich je hat vorstellen können. Das sind eine Million Farm 4s auf einmal, und jetzt fallen Mrs Flowers und sie durch eine Luft, die gleichermaßen durchsichtig und lebendig ist, sinken hinab in ein dichtes Gewirr aus Straßen und Dächern, und schließlich berühren ihre Füße die Erde.

Sie stehen auf einer leeren Parzelle. Der Himmel ist strahlend blau und ohne ein Wolke. Riesige weiße Steine, die wie ausgefallene Backenzähne von Riesen aussehen, liegen zwischen wild wucherndem Unkraut. Links führt eine massive, gewundene, verfallene Mauer, aus der hier und da Gras wächst und etwa alle fünfzig Meter ein breiter, von der Zeit schwer mitgenommener Turm aufragt, an einer belebten, in beiden Richtungen ins Unendliche reichenden Straße entlang.

Konstance hat das Gefühl, dass jedes einzelne Neuron in ihrem Kopf in Flammen steht. Gräser quellen rund um ihre Füße aus dem Boden. Dabei haben sie gesagt, die Erde sei zerstört.

«Wie du weißt», sagt Mrs Flowers, «sind wir zu schnell unterwegs, um irgendwelche neuen Daten zu bekommen, und so hängen wir von der Zeit ab, als diese Aufnahmen gemacht worden sind. Das hier ist Istanbul, wie es vor sechzig, siebzig Jahren ausgesehen hat. Bevor die Argos die erdnahe Umlaufbahn verlassen hat.»

Das Grün! Pflanzen mit Blättern wie Mutters Handarbeitsschere, Pflanzen mit Blättern wie Jessi Kos Augen, winzige lila Blüten auf winzigen grünen Stängeln. Wie oft schwelgt Vater in Erinnerungen an die Pracht des Unkrauts? Sind das Flechten? Vater redet immer von Flechten! Sie will sie anfassen, doch ihre Hand fährt durch sie durch.

«Du kannst alles nur ansehen», sagt Mrs Flowers. «Das einzig Feste im Atlas ist die Erde. Wie ich schon gesagt habe, wenn die Kinder erst mal die neueren Möglichkeiten ausprobiert haben, kommen sie kaum mehr zurück.»

Sie führt Konstance an den Fuß der Mauer. Nichts bewegt sich. «Früher oder später, mein Kind», sagt sie, «sterben alle lebenden Dinge. Du, ich, deine Mutter, dein Vater, alle und alles. Sogar die Sandsteinblöcke, aus denen diese Mauer erbaut worden ist, bestehen hauptsächlich aus den Skeletten lange toter Kreaturen. Aus Schnecken, Korallen … Komm.»

Im Schatten des nächsten Turms stehen die Abbilder von ein paar Menschen: Ein Mann blickt in die Höhe, eine Frau steigt eine Treppe hinauf. Konstance sieht ein Hemd mit Knöpfen, eine blaue Hose. Männersandalen, die Jacke einer Frau, aber die Software verwischt die Gesichter. «Zum Schutz der Privatsphäre», erklärt Mrs Flowers. Sie deutet auf die Treppe, die sich um den Turm windet. «Wir gehen da hinauf.»

«Ich dachte, nur der Boden ist fest?»

Mrs Flowers lächelt. «Wenn du hier lange genug umherspazierst, entdeckst du ein, zwei Geheimnisse.»

Mit jeder neuen Stufe erblickt Konstance mehr von der Stadt auf beiden Seiten der Mauer: Antennen, Automobile, Abdeckplanen, ein riesiges Gebäude mit tausend Fenstern, alles in der Zeit erstarrt. Sie kommt kaum zu Atem, so sehr nimmt sie das alles in Anspruch.

«Seit es uns als Spezies gibt, ob durch die Medizin oder durch Technologie, durch das Sammeln von Macht und durch Reisen oder das Erfinden von Geschichten, haben wir Menschen versucht, den Tod zu überwinden. Niemandem von uns ist es je gelungen.»

Sie erreichen die Spitze des Turms, und Konstance sieht sich um. Sie ist ganz benommen. Die rostroten Ziegel, der helle Stein aus den Körpern toter Kreaturen, das grüne Efeu, das in Wellen die Mauern hinaufschwappt. Es ist so viel.

«Aber einige der Dinge, die wir bauen», fährt Mrs Flowers fort, «halten lange. Etwa um das Jahr 410 der modernen Zeitrechnung begann der Herrscher dieser Stadt, Theodosius II., diese Mauer zu bauen, sechseinhalb Kilometer, um sie mit den dreizehn Kilometern entlang des Meeres zu verbinden, die es bereits gab. Die Mauer des Theodosius hatte einen zwei Meter dicken und neun Meter hohen äußeren Teil sowie einen inneren fünf Meter dicken und zwölf Meter hohen. Wer weiß, wie viele Menschen dem Bau zum Opfer gefallen sind …»

Ein winziges Insekt ist beim Überqueren des Geländers direkt vor Konstance festgehalten worden. Ihr Rückenschild ist schwarzblau und glänzt, die Beinchen sind unglaublich in ihrer Gelenkigkeit. Ein Käfer.

«Mehr als tausend Jahre haben diese Mauern allen Angriffen standgehalten», sagt Mrs Flowers. «Bücher wurden konfisziert und erst wieder zurückgegeben, nachdem man sie kopiert hatte, alle natürlich von Hand, und manche Leute glauben, dass die Bibliotheken der Stadt zu verschiedenen Zeitpunkten mehr Bücher enthielten als alle anderen Bibliotheken weltweit zusammengenommen. Und die ganze Zeit gab es Erdbeben, Überschwemmungen, Armeen griffen an, und die Menschen der Stadt arbeiteten zusammen und verstärkten ihre Mauern, selbst noch, als Unkraut daran emporwuchs und Regen in die Risse sickerte, bis sie sich nicht mehr an die Zeiten erinnern konnten, in denen es noch keine Mauer gegeben hatte.»

Konstance streckt die Hand aus, um den Käfer zu berühren, aber das Geländer verpixelt und ihr Finger geht wieder glatt durch ihn hindurch.

«Du und ich, wir werden Beta Oph2 nie erreichen, Liebes, das ist eine schmerzvolle Wahrheit. Aber mit der Zeit wirst du erkennen, dass etwas Großartiges darin liegt, Teil einer Sache zu sein, die dich überdauern wird.»

Die Mauern bewegen sich nicht, die Menschen unter ihr atmen nicht. Die Bäume wiegen sich nicht im Wind, die Autos stehen still, und auch der Käfer ist in seiner Zeit erstarrt. Ein Gedanke, eine Erinnerung, die in einem neuen Licht erscheint: an andere Zehnjährige vor ihr, wie sicher auch einmal ihre Mutter, die auf der Argos geboren wurden und an ihrem Bibliothekstag aufwachten, von dem Augenblick träumend, an dem sie den Fuß auf Beta Oph2 setzen und die Luft draußen vor der Argos einatmen würden, was für Unterkünfte sie sich bauen, welche Berge sie erklimmen und was für Lebensformen sie wohl vorfinden mochten. Eine zweite Erde! Und dann kommen sie nach ihrem Bibliothekstag ganz verändert aus ihren Abteilen, mit Furchen auf der Stirn, mit hängenden Schultern, das Licht in den Augen gedämpft. Sie hören auf, durch die Korridore zu rennen, nehmen SleepDrops, wenn NoLight einsetzt. Manchmal hat sie ältere Kinder schon auf ihre Hände oder ins Nichts starren sehen, wie sie gebeugt am Versorgungsraum vorbeiliefen, müde, als trügen sie Rucksäcke aus Stein auf dem Rücken.

Du, ich, deine Mutter, dein Vater, alle und alles.

Sie sagt: «Aber ich will nicht sterben.»

Mrs Flowers lächelt. «Ich weiß, Liebes. Du musst dabei mithelfen, eine außerordentliche Reise zu vollenden. Komm, es wird Zeit, wir müssen zurück; die Zeit verläuft merkwürdig hier drinnen, und das dritte Essen fängt an.» Sie nimmt Konstance bei der Hand, und sie steigen vom Turm auf, die Stadt fällt hinter ihnen zurück, eine Meerenge wird sichtbar, dann Meere, Kontinente. Die Erde schrumpft, bis sie wieder nicht mehr als ein Lichtpunkt ist, und sie treten aus dem Atlas zurück in die Bibliothek.

Der kleine Hund wackelt mit dem Schwanz und tappt mit der Pfote gegen Konstances Bein. Mrs Flowers blickt sie freundlich an, während der riesige alte Atlas in die Höhe steigt und sich zurück auf seinen Platz im Regal stellt. Der Himmel über dem Atrium ist jetzt lavendelfarben, und es fliegen nicht mehr so viele Bücher herum. Die meisten Crew-Mitglieder sind nicht mehr da.

Konstances Hände sind feucht, und ihr tun die Füße weh. Sie denkt an die jüngeren Kinder, die jetzt gerade auf dem Weg zum Essen durch die Korridore toben, und verspürt einen stechenden Schmerz. Mrs Flowers deutet auf die endlosen Regale. «Jedes dieser Bücher, mein Kind, ist eine Tür, ein Tor zu einem anderen Ort in einer anderen Zeit. Du hast dein Leben noch vor dir, und immer wirst du all das hier haben. Es ist genug, findest du nicht?»