Die Straße nach Konstantinopel

Januar–April 1453

Omeir

Es sind 225 Kilometer vom Testgelände in Edirne zur König in aller Städte, und ein Mann kann sogar schneller kriechen, als sie die Kanone dorthin bewegen. Dreißig Paar Ochsen haben sie zusammengeschirrt, und ihr Zug ist so lang und das Geschirr so anfällig, dass sie täglich Dutzende Male anhalten müssen. Vor und hinter ihnen ziehen weitere Ochsen Kalverinen, Katapulte und Arkebusen, vielleicht insgesamt dreißig Geschütze, während andere vor Wagen voller Pulver und Steinkugeln gespannt sind, einige davon so groß, dass Omeir sie nicht mit den Armen umfangen kann.

Auf beiden Seiten der Gespanne eilen Männer und Tiere vorbei, wie Flüsse, die sich um Felsen winden: Maultiere mit prallen Satteltaschen, Kamele, über deren Rücken Dutzende Tonkrüge hängen, Karren voller Vorräte, Planken, Seile und Planen. Wie vielfältig die Welt doch ist! Omeir sieht Wahrsager, Derwische, Astrologen, Gelehrte, Bäcker, Munitionsmänner, Schmiede, Mystiker in zerfledderten Umhängen, Chronisten, Heiler und Fahnenträger mit Fahnen in allen Farben. Manche tragen Lederrüstungen, einige haben Federn an den Mützen, manche sind barfuß, andere tragen glänzende Stiefel aus Damaszener Leder, die hoch bis zu den Knien reichen. Er sieht eine Gruppe Sklaven mit drei waagerechten Narben auf der Stirn (eine für jeden ihrer Herren, die gestorben sind, erklärt ihm Maher). Einen Mann sieht er, dessen Stirn so schwielig ist vom Sichniederwerfen zum Gebet, dass es so aussieht, als trüge er einen großen, verwachsenen Fingernagel auf dem Kopf.

Eines Nachmittags: Ein Maultiertreiber in einem Bärenfell und einer Scharte in der Oberlippe, ganz ähnlich der Omeirs, kommt mit gesenktem Kopf an den Ochsengespannen vorbei. Kurz treffen sich ihre Blicke, und der Maultiertreiber wendet sich ab, Omeir sieht ihn nie wieder.

Seine Verfassung schwankt, mal ist er verwundert, verwirrt, dann wieder niedergeschlagen. Er schläft beim Feuer und wacht neben schwelender Asche auf, Reif funkelt auf seinen Sachen. Er setzt sich zu den anderen Ochsentreibern, die das Feuer neu zum Leben erwecken, alle essen zerdrückte Gerste, Kräuter und Pferdefleisch aus demselben Kupferkessel, und er fühlt sich angenommen wie noch nie zuvor. Sie alle sind Teil einer riesigen, gerechten Unternehmung, einer so würdigen Sache, dass es sogar Platz für einen Jungen mit einem Gesicht wie seinem gibt. Gemeinsam bewegen sie sich nach Osten zu den großen Städten, als würden sie von einem Flötenspieler aus Großvaters Geschichten angelockt. Jeden Morgen dämmert es früher, die Tage werden länger, Schwärme nach Norden ziehender Kraniche, dann Enten, dann Singvögel fliegen über sie hinweg, so als sei die Dunkelheit auf der Verliererstraße und ihr Sieg vorherbestimmt.

Dann aber wieder ist es mit dem Überschwang vorbei. Matsch klebt Baum und Mondlicht in großen Klumpen an den Hufen, Ketten knarzen, Stricke ächzen, Pfiffe ertönen entlang des Zuges, und die Luft ist gesättigt mit den Lauten leidender Tiere. Viele der Ochsen haben feste Joche, keine gleitenden, wie Großvater sie baut, und nur wenige sind eine derart schwere Last auf unebenem Grund gewohnt. Stündlich gibt es neue Verletzungen.

Jeder Tag zeigt Omeir aufs Neue, wie unvorsichtig Leute sein können. Einige machen sich nicht die Mühe, ihre Tiere zu beschlagen, andere überprüfen ihr Joch nicht auf Risse, die den Nacken der Ochsen verletzen können. Wieder andere gönnen den Tieren keine Erholung, indem sie ihnen das Joch abnehmen, sobald nichts mehr gezogen werden muss. Oder sie umwickeln ihre Hörner nicht, um zu vermeiden, dass sie sich mit anderen verhaken. Es fließt ständig Blut, es ist ein fortwährendes Stöhnen, ständiges Leiden.

Straßenbauer marschieren ihnen in Gruppen voraus, befestigen Kreuzungen, legen Bohlen über verschlammte Passagen. Aber acht Tage hinter Edirne erreicht der Zug einen Strom ohne Brücke. Das Wasser steht hoch und ist trüb, und da, wo es am tiefsten ist, ist es eine breite, schlammige Brühe. Die Treiber vorne warnen, dass es im Flussbett glitschige Steine gibt, aber der Obertreiber sagt, es muss weitergehen.

Der Zug ist halb durchs Wasser, als der Ochse vor Baum ausrutscht. Das Joch auf dem Nacken seines Partners hält ihn noch einen Moment, dann bricht sein Bein so laut, dass Omeir es noch in seiner Brust spürt. Der verwundete Ochse zieht seinen brüllenden Partner mit zur Seite, und der ganze Zug ruckt nach links. Omeir fühlt, wie Baum und Mondlicht das zusätzliche Gewicht schultern, während die beiden Tiere in der Strömung um sich schlagen. Ein Treiber mit einem langen Speer eilt heran und rammt ihn dem ersten, dann dem zweiten wild ausschlagenden Ochsen in den Leib, und das Blut wird davongespült, während zwei Schmiede die Ketten kappen, um sie aus dem Zug zu lösen. Die Treiber laufen aufgeregt auf und ab und tun alles, um ihre Tiere zu beruhigen. Schon ziehen Reiter die beiden toten Tiere aus dem Wasser, damit sie zerlegt werden können, und die Schmiede bauen eine Esse samt Blasebälgen am vermatschten Ufer auf, um das Kettengeschirr zu reparieren. Omeir führt Baum und Mondlicht ins Gras und fragt sich, ob sie verstehen, was sie gesehen haben.

Als das Licht schwindet, bürstet er erst Baum, dann Mondlicht das Fell, während sie grasen, säubert ihnen die Hufe und sagt sich, dass er nichts von den hingemetzelten Ochsen essen wird, aus Achtung, aber später, im Dunkeln, als der Geruch gebratenen Fleisches die Luft erfüllt und Schüsseln herumgereicht werden, kann er nicht widerstehen. Er kaut und fühlt das Gewicht des Himmels auf sich und mit ihm eine dunkle Verwirrung.

Mit jedem neuen Sonnenuntergang schwindet auch Licht aus seinen Ochsen. Hin und wieder blinzelt Baum mit seinen großen nassen Augen Omeir zu, als wollte er ihm vergeben, und morgens, bevor sie unters Joch kommen, ist Mondlicht immer noch voller Neugierde und sieht Schmetterlingen oder einem Kaninchen hinterher, oder er zuckt mit den Nasenlöchern und versucht verschiedene Gerüche im Wind auszumachen. Aber meist lassen die beiden, wenn sie ohne das Joch sind, die Köpfe hängen und fressen, als wären sie für alles andere zu müde.

Der Junge steht neben ihnen, die Füße im Matsch versunken, verbirgt sein Gesicht unter der Kapuze und beobachtet, wie Mondlichts Lider sich geduldig und milde auf und ab bewegen. Sein Fell, das, als er jung war, fast silbern leuchten konnte, voller kleiner Regenbogen in der Sonne changierend, ist nur mehr mausgrau. Eine Wolke Fliegen wimmelt über der nässenden Wunde auf seiner Schulter – die ersten Fliegen, wird Omeir bewusst, des Frühlings.