Konstantinopel

In ebenjenen Monaten

Anna

Der Becher aus Blei taucht in die gluckernde Dunkelheit, das Wasser wird mit Quecksilber vermischt, und Maria trinkt es aus. Auf dem Nachhauseweg weht Schnee in dichten Schleiern über die Mauern und macht die Straße unkenntlich. Maria versucht sich aufrecht zu halten. «Ich kann alleine gehen», sagt sie, «ich fühle mich ausgezeichnet», gerät aber einem Fuhrmann in den Weg und wird beinahe überfahren.

Nach Einbruch der Dunkelheit zittert sie in ihrer Kammer. «Ich höre, wie sie sich draußen auf der Straße geißeln.»

Anna lauscht. Die Stadt ist ruhig. Nur der Schnee ist zu hören, der von den Dächern geblasen wird.

«Wer, Schwester?»

«Ihre Schreie klingen so schön.»

Das Zittern wird stärker. Anna wickelt sie in alles, was sie haben: ein leinenes Unterhemd, einen wollenen Rock, Mantel, Schal und eine Decke. Sie bringt Kohlen in metallenen Handwärmern, aber Maria hört nicht auf zu zittern. Ihre Schwester war ihr ganzes Leben da, aber wie lange noch?

Der Himmel über der Stadt ändert sich von Stunde zu Stunde, wird lila, silbrig, golden, schwarz. Graupel fällt, Eisregen, dann Hagel. Witwe Theodora späht durch die Fensterläden und murmelt Verse aus dem Matthäus-Evangelium: Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes am Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden. In der Spülküche sagt Chryse, die Köchin, wenn die letzten Tage schon kommen, sollten sie auf jeden Fall den Weinvorrat austrinken.

Auf den Straßen wird entweder über das merkwürdige Wetter oder über Zahlen geredet. Der Sultan, sagen manche, zieht mit einer zwanzigtausend Mann starken Armee von Edirne heran. Andere meinen, es sind eher hunderttausend. Wie viele Verteidiger kann die sterbende Stadt aufbringen? Achttausend? Andere sagen voraus, es werden wohl eher bloß viertausend sein, von denen nur dreihundert richtig mit einer Armbrust umzugehen wissen.

Dreizehn Kilometer Mauer zum Meer hin, sechseinhalb zum Land, dazu einhundertzweiundneunzig Türme, und das alles sollen viertausend Mann verteidigen?

Die Wache des Kaisers requiriert Waffen, um sie unter den Männern zu verteilen, aber im Hof vor den Toren von St. Theophanu erblickt Anna einen Soldaten, der mit nicht mehr als einem traurigen Haufen verrosteter Klingen ausgerüstet ist. Einmal hört sie, der Sultan sei ein Wundermensch, der sieben Sprachen spreche und alte Gedichte rezitiere, eifrig Astronomie und Geometrie studiere, ein milder und barmherziger Monarch sei und alle Religionen achte. Dann wieder ist er ein blutdürstiger Unhold, auf dessen Befehl sein kleiner Bruder im Bad ertränkt und der Mann, der es tun musste, anschließend enthauptet worden ist.

Im Arbeitsraum verbietet Witwe Theodora den Stickerinnen, von der heraufziehenden Bedrohung zu sprechen. Es soll nur um Nadeln, die Arbeit und den Ruhm Gottes gehen. Wickle den Silberfaden in gefärbtes Garn, nimm jeweils drei umwickelte Fäden zusammen, setz einen Stich und dreh den Rahmen um. Feierlich belobigt Witwe Theodora eines Morgens Maria für die Sorgfalt, mit der sie zwölf Vögel, einen für jeden Apostel, auf die große Samitkapuze gestickt hat, die an einen Bischofsumhang genäht werden wird. Maria macht sich mit zitternden Fingern gleich wieder an die Arbeit und murmelt ein Gebet, während sie ein Stück hellgrüne Seide in ihren Rahmen spannt und das Garn in die Nadel fädelt. Anna sieht zu und wundert sich: Zu welchen Heiligenfesten werden Bischöfe noch golddurchwirkte Umhänge tragen, wenn die Zeit des Menschen auf Erden endet?

Schnee fällt, friert, schmilzt, und eisiger Nebel bedeckt die Stadt. Anna eilt über den Hof und hinunter zum Hafen, wo sie Himerius frierend neben seinem Boot findet. Eis überzieht die Bordwände und Ruder, glitzert auf den Falten seiner Ärmel und den Ketten der wenigen Handelsschiffe, die noch im Hafen vor Anker liegen. Himerius schiebt das Boot ins Wasser, stellt ein Feuerbecken zwischen sie, entzündet ein Stück Holzkohle und wirft die Angelschnüre aus. Anna verfolgt mit fast schon trunkenem Vergnügen, wie Funken in den Nebel aufsteigen und hinter ihnen wegschmelzen. Himerius holt einige getrocknete Feigen aus seiner Jacke, und das Becken glüht zu ihren Füßen wie ein warmes, glückliches Geheimnis – ein Glas Honig, versteckt für einen besonderen Abend. Es tropft von den Rudern, sie essen, und Himerius singt ein Fischerlied über eine Meerjungfrau mit Brüsten groß wie Lämmer. Wasser schlägt gegen den Rumpf, und seine Stimme wird ernst, als er erzählt, dass er von genuesischen Kapitänen gehört hat, die jeden, der dafür bezahlen kann, übers Meer nach Genua schmuggeln, bevor der Angriff der Sarazenen beginnt.

«Willst du fliehen?»

«An die Riemen würden sie mich setzen. Tag und Nacht unter Deck schuften und bis zur Hüfte in der eigenen Pisse sitzen? Während zwanzig Sarazenenschiffe versuchen, dich zu rammen und in Brand zu setzen?»

«Aber die Mauern», sagt sie. «Sie haben schon so viele Belagerungen überstanden.»

Himerius fängt wieder an zu rudern, die Dollen knarzen, die Mole zieht vorbei. «Mein Onkel sagt, im letzten Sommer hat ein ungarischer Metallgießer unseren Kaiser besucht. Der Mann ist berühmt dafür, Kriegsmaschinen zu bauen, die Steinmauern in Trümmer legen. Aber der Ungar verlangte zehnmal mehr Bronze, als wir in der ganzen Stadt haben. Unser Kaiser, sagt mein Onkel, kann es sich nicht einmal leisten, hundert Bogenschützen aus Thrakien anzuheuern. Er schafft es gerade mal, selbst nicht im Regen stehen zu müssen.»

Das Meer schlägt an die Mole. Himerius hält die Ruderblätter in die Höhe, sein Atem wölkt sich.

«Und?»

«Der Kaiser konnte ihn nicht bezahlen, also ist der Ungar losgezogen, um jemand anderen zu finden, der es konnte.»

Anna sieht Himerius an: Seine großen Augäpfel, die knubbligen Knie, seine Entenfüße – er sieht wie eine Mischung aus verschiedenen Wesen aus. Sie hört die Stimme des großen Schreibers: Der Sultan hat neue Kriegsmaschinen, die Mauern einstürzen lassen, als wären sie aus Luft.

«Du meinst, dem Ungarn ist es egal, wofür seine Kriegsmaschinen benutzt werden?»

«Es gibt viele Menschen in dieser Welt», sagt Himerius, «denen es egal ist, wofür ihre Maschinen verwendet werden, solange man sie nur gut bezahlt.»

Sie erreichen die Mauer, und schon steigt Anna hinauf, eine Tänzerin. Die Welt verblasst, und da sind nur die Bewegung ihres Körpers und die Erinnerung an die Haltepunkte für Finger und Füße. Schließlich kriecht sie durchs Löwenmaul und spürt die Erleichterung, festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Sie bleibt länger als gewöhnlich in der zerstörten Bibliothek und durchforstet die türlosen Schränke, aus denen sie schon so gut wie alles Vielversprechende geplündert hat. Sie sammelt ein paar wurmzerfressene Rollen ein, Verkaufsquittungen, vermutet sie, bewegt sich halbherzig und ohne große Erwartung durch die Düsternis. Weit hinten, zwischen mehreren nassen Pergamentstapeln, findet sie einen kleinen, fleckigen Kodex, gebunden in etwas, das sich wie Ziegenleder anfühlt, und steckt ihn in den Sack.

Der Nebel wird dichter, das Mondlicht schwächer. Möwen kreischen mit dünnen Stimmen über dem kaputten Dach. Sie flüstert ein Gebet zur heiligen Koralia, verschnürt den Sack, schleppt ihn die Treppe hinab, kriecht durch den Wasserspeier, klettert die Mauer hinunter und springt ohne ein Wort zurück ins Boot. Ausgemergelt und zitternd rudert Himerius sie zurück in den Hafen, die Kohle im Feuerbecken verlischt, und der eisige Nebel scheint sich wie eine Falle um sie zu schließen. Am Tor zum venezianischen Viertel stehen keine Wachen, und als sie zum Haus der Italiener kommen, ist alles dunkel. Der Feigenbaum im Hof ist mit Eis überzogen, die Gänse sind nirgends zu sehen. Der Junge und das Mädchen lehnen zitternd an der Mauer, und Anna wünscht sich den Sonnenaufgang herbei.

Am Ende probiert es Himerius mit der Tür und stellt fest, dass sie unverschlossen ist. Die Tische im Arbeitsraum der Schreiber sind leer. Der Ofen ist kalt. Himerius macht die Fensterläden auf, und der Raum füllt sich mit bleichem, eisigem Licht. Der Spiegel ist verschwunden, genau wie der Terrakotta-Zentaur und das Brett mit den aufgespießten Schmetterlingen. Auch die Pergamentrollen sind nicht mehr da, die Spachtel, Ahlen, Messer. Die Dienstboten sind entlassen, die Gänse mitgenommen oder gekocht worden. Ein paar alte Federkiele liegen auf den Fliesen, Tintenflecke überall, der Raum ist völlig ausgeräumt.

Himerius lässt den Sack fallen. Für einen Moment wirkt er im ersten Morgenlicht gebückt und grau, wie der alte Mann, der er wahrscheinlich nie werden wird. Irgendwo im Viertel schreit ein Mann: «Weißt du, was ich hasse?», ein Hahn kräht, und eine Frau fängt an zu weinen. Die letzten Tage der Menschheit. Anna erinnert sich an etwas, das Chryse mal gesagt hat: «Die Häuser der Reichen brennen schneller als alle anderen.»

Trotz all ihres Geredes darüber, die Stimmen des Altertums retten zu wollen und aus der Weisheit der Alten den Samen einer neuen Zukunft zu ziehen: Waren die Schreiber aus Urbino in irgendeiner Weise besser als Grabräuber? Sie kamen, um zu sehen, was von der Stadt noch übrig war, das sich aufbrechen ließ, damit sie hineinkriechen und die letzten noch verbliebenen Schätze ergattern konnten. Und dann sind sie weggerannt, um sich in Sicherheit zu bringen.

Ihr Blick fällt auf etwas unten in einem leeren Schrank: eine kleine emaillierte Schnupftabakdose, eine aus der Sammlung der Schreiber. Auf dem gesprungenen Deckel spannt sich ein rosiger Himmel über der von Zwillingstürmen flankierten Fassade eines Palastes mit drei Reihen von Balkonen übereinander.

Himerius starrt aus dem Fenster, enttäuscht, verloren, und Anna steckt sich die Dose in ihr Kleid. Irgendwo über dem Nebel kommt die Sonne zum Vorschein. Blass und weit entfernt. Anna hält ihr Gesicht ins Licht, kann aber keine Wärme spüren.

Sie trägt den Sack voll feuchter Bücher ins Haus von Kalaphates und versteckt ihn in der Kammer, die sie sich mit Maria teilt. Niemand macht sich die Mühe, sie zu fragen, wo sie war oder was sie getan hat. Den ganzen Tag sitzen die Stickerinnen schweigend über ihre Arbeit gebeugt da, hauchen sich in die Hände oder stecken sie zwischendurch zum Aufwärmen in Fäustlinge. Vor ihnen auf der Seide nehmen die halb fertigen Gestalten klösterlicher Heiliger weiter Gestalt an.

«Der Glaube», sagt Witwe Theodora und geht zwischen den Tischen hindurch, «bietet uns einen Weg durch alle Leiden.» Maria hockt über der Samitkapuze, sticht ihre Nadel von Seite zu Seite. Die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt, zaubert sie mit Garn und Geduld eine Nachtigall auf den Stoff. Am Nachmittag heult ein Wind vom Meer heran und überzieht die der See zugewandte Seite der Kuppel der Hagia Sophia mit Schnee. Als die Nacht anbricht, erstarren die Bäume aufs Neue, die Äste sind mit Eis bedeckt, und die Stickerinnen sagen, dass auch das ein Zeichen ist.

Abends gibt es eine Brühe und Schwarzbrot. Einige Frauen sagen, die christlichen Nationen im Westen könnten sie retten, wenn sie wollten: dass Venedig, Pisa und Genua eine Flotte mit Waffen und Kavallerie schicken und den Sultan schlagen könnten, dass sie aber bereits Verträge mit dem Sultan geschlossen haben und es besser ist, von den Pfeilen der Sarazenen getötet zu werden, als den Papst herkommen und sich den Sieg auf die Fahnen schreiben zu lassen.

Die Parusie, die Wiederkunft Christi, das Ende der Geschichte. Im Kloster des heiligen Georg, sagt Agata, haben die Alten ein Gitter aus Kacheln, zwölf auf der einen und zwölf auf der anderen Seite, und jedes Mal, wenn ein Kaiser stirbt, wird sein Name in eine von ihnen geätzt. «Mittlerweile ist nur noch eine Kachel übrig», sagt sie, «und sobald der Name unseres Kaisers darauf steht, ist die Geschichte vollendet.»

Im Licht der Herdflammen sieht Anna die Umrisse von Soldaten, die vorbeieilen. Sie berührt die Schnupftabakdose in ihrem Kleid und hilft Maria, den Löffel in ihre Brühe zu tauchen, doch bevor die ihn bis zum Mund führen kann, verschüttet sie alles wieder.

Am nächsten Morgen sitzen alle zwanzig Stickerinnen an ihren Plätzen, als der Diener von Kalaphates die Treppe heraufgehetzt kommt, außer Atem und mit rotem Gesicht. Er eilt an den Garnschrank, wirft Gold- und Silberfäden, Perlen und Seidengarne in einen Lederkoffer und schleppt ihn ohne ein Wort zurück nach unten. Witwe Theodora folgt ihm nach draußen. Die Stickerinnen gehen ans Fenster: Im Hof lädt der Pförtner eingewickelte Seidenballen auf Kalaphates’ Esel, und seine Stiefel schlittern durch den Matsch, während Witwe Theodora etwas zu dem Diener sagt, das sie nicht hören können. Am Ende eilt er davon, und Witwe Theodora kommt wieder herauf, das Gesicht regennass, Schmutz auf dem Kleid, und sagt, alle sollen weiterarbeiten. Anna soll die Nadeln aufheben, die der Diener auf dem Boden verstreut hat. Aber ihnen allen ist klar, dass ihr Herr sie im Stich lässt.

Mittags reiten Ausrufer durch die Straßen und verkünden, dass die Stadttore bei Sonnenuntergang geschlossen werden. Die Barriere, eine Kette, dick wie ein Männerleib und mit Schwimmern versehen, soll es Schiffen unmöglich machen, das Goldene Horn heraufzusegeln und von Norden anzugreifen. Sie wird durch den Hafen gezogen und auf der anderen Seite des Bosporus an den Mauern von Galata verankert. Anna stellt sich Kalaphates an Deck eines genuesischen Schiffes vor, wie er hektisch seine Koffer überprüft, während die Stadt hinter ihm kleiner wird. Sie stellt sich Himerius vor, barfuß zwischen den Fischern im Hafen, die von den Admiralen der Stadt in Augenschein genommen werden. Der Schnitt seines Haares, das Messer mit dem Ledergriff in seinem Bund – er gibt sich solche Mühe, Erfahrung und Wagemut vorzutäuschen, ist aber doch nur ein Junge, groß, glupschäugig, der da mit seinem geflickten Mantel im Regen steht.

Bis zum Nachmittag haben die Stickerinnen, die verheiratet sind und Kinder haben, ihre Plätze verlassen. Von der Straße dringt Hufgetrappel herauf, Räder spritzen durch den Schmutz, Fuhrmänner schreien. Anna sieht zu Maria, die immer noch über ihre Seidenkapuze gebeugt ist. Sie hört die Stimme des großen Schreibers: Die Arche ist auf Felsen aufgelaufen, mein Kind. Und die Flut bricht herein.

Omeir

Alle studieren den wechselnden Himmel, alle sind beklommen. Laut sagen die Treiber, dass der Sultan geduldig und großzügig ist, dass ihm bewusst ist, was er von ihnen verlangt, und in seiner Weisheit versteht, dass die Kanone dann auf dem Schlachtfeld ankommt, wenn sie am nötigsten gebraucht wird. Aber nach all den Anstrengungen spürt Omeir eine unausgesprochene Unruhe unter den Männern. Das Wetter bringt einen Sturm nach dem anderen, Peitschen knallen, Unmut und Feindseligkeit schlummern unter der Oberfläche. Manchmal fühlt er, wie Leute sein Gesicht mit klarem Argwohn anstarren, und er steht immer öfter vom Feuer auf und tritt in den Schatten.

Es kann sein, dass sie für eine kurze Steigung einen ganzen Tag brauchen, Abhänge bringen jedoch die größeren Schwierigkeiten. Bremsen versagen, Achsen brechen, die gepeinigten, verängstigten Tiere brüllen, und mehr als einmal zerbirst ein Teil der Deichselkonstruktion, Holz splittert und treibt einen der Ochsen auf die Knie. Alle paar Tage wird einer von ihnen geschlachtet. Omeir sagt sich, dass alles, was sie tun, all die Strapazen, all die Leben, die geopfert werden, um die Kanone voranzubewegen, dass all diese Dinge gerechtfertigt sind. Es ist eine notwendige Unternehmung, der Wille Gottes. Doch dann überfällt ihn wieder sein Heimweh. Ein starker Rauchgeruch, das Wiehern eines Pferdes in der Nacht, und schon taucht das alte Leben zu Hause vor ihm auf – wie der Regen von den Bäumen tropft, das Gurgeln des Baches, Mutter, die das Bienenwachs über dem Herd ausschmelzt. Nida, wie sie im Farn steht und singt. Der arthritische Großvater mit seinen nur noch acht Zehen, wie er in seinen Holzschuhen zum Stall hinüberhumpelt.

«Aber wie soll er je eine Frau finden?», hat Nida mal gefragt. «Mit dem Gesicht?»

«Es ist nicht sein Gesicht, das sie in die Flucht jagen wird», antwortete Großvater, «es ist der Geruch seiner Zehen», und damit packte er einen von Omeirs Füßen, zog ihn sich hoch an die Nase und roch daran. Alle lachten, und Großvater umarmte den Jungen und drückte ihn fest an sich.

Am achtzehnten Tag reißen einige der Eisenbänder, mit denen die riesige Kanone auf ihrem Wagen befestigt ist, sie rollt herunter, und alle stöhnen. Die zwanzig Tonnen schwere Waffe liegt wie ein von den Göttern weggeworfenes Werkzeug schimmernd im Schmutz.

Und wie auf Stichwort beginnt es zu regnen. Den ganzen Nachmittag arbeiten sie daran, die Kanone zurück auf den Wagen zu bekommen, den Wagen zurück auf die Straße. Am Abend ziehen weise, heilige Männer durchs Lager und versuchen die Moral zu heben. Die Leute in der Stadt, sagen sie, können nicht einmal richtig Pferde züchten und müssen sie von uns kaufen. Den ganzen Tag über liegen sie auf Plüschsofas und richten ihre winzigen Hunde dazu ab, herumzulaufen und sich gegenseitig die Genitalien zu lecken. Die Belagerung steht kurz bevor, sagen sie, und die Waffe, die ihr hier voranschleppt, wird uns den Sieg sichern. Sie wird das Schicksal zu unseren Gunsten wenden. Durch eure Anstrengungen wird die Einnahme der Stadt leichter als das Pellen eines Eis werden. Leichter, als ein einzelnes Haar aus einer Tasse Milch zu fischen.

Rauch steigt in den Himmel. Als sich die Männer schlafen legen, spürt Omeir, dass etwas nicht stimmt. Er findet Mondlicht direkt außerhalb der Feuerstellen. Der Ochse zieht seinen Haltestrick hinter sich her.

«Was ist?»

Mondlicht führt ihn zu der Stelle, wo sein Bruder unter einem Baum steht und eines seiner Hinterbeine schont.

Obwohl es der Sultan so will und Gott es so verfügt hat, ist der Transport von etwas so Schwerem über solch eine lange Strecke eine fast unmögliche Aufgabe. Auf den letzten Kilometern scheint der Zug der Ochsen mit jedem Schritt voran auch einen Schritt weiter hinabzugelangen, nicht zur Königin der Städte, sondern durchs Erdreich hinein in die Unterwelt.

Trotz Omeirs Sorge und Pflege zeigt Baum am Ende der Reise keinerlei Willen mehr, Gewicht auf sein linkes Hinterbein zu verlagern. Mondlicht kann kaum mehr den Kopf heben, und die Zwillinge ziehen nur mehr, wie es scheint, Omeir zuliebe mit den anderen mit, als wäre es nur noch von Bedeutung für sie, seine Wünsche zu erfüllen, ganz gleich, wie unverständlich sie sind. Nur, weil der Junge es so will.

Er geht mit Tränen in den Augen neben ihnen her.

Sie erreichen die Felder vor der Mauer Konstantinopels in der zweiten Aprilwoche. Trompeten erschallen, Jubel brandet auf, und die Männer kommen gelaufen, um einen Blick auf die große Kanone zu erhaschen. In seinen Tagträumen hat sich Omeir die Stadt, und was sie erwartet, auf zahllose verschiedene Weisen vorgestellt – Türme voller Unholde mit Klauenfüßen, Höllenhunde, die Ketten hinter sich herziehen, aber als sie um die letzte Biegung kommen und er Konstantinopel zum ersten Mal sieht, schnappt er nach Luft. Vor ihm liegt eine große Fläche voller Zelte, Ausrüstung, Tiere, Feuer und Soldaten, die bis an einen zwanzig Meter breiten Graben reicht. Auf der anderen Seite des Grabens, hinter einer kleinen Steigung, erhebt sich die Mauer, die nach links und rechts kilometerweit über das Land reicht, wie eine Abfolge stummer, unüberwindlicher Klippen.

Im unwirklichen, verrauchten Licht unter einem niedrigen grauen Himmel wirken die Mauern endlos und bleich, so als sicherten sie eine aus Knochen bestehende Stadt. Selbst mit der Kanone, wie sollen sie je eine solche Barriere überwinden? Sie sind Flöhe, die einem Elefanten ins Auge springen wollen. Ameisen am Fuß eines Berges.

Anna

Sie wird mit etlichen Hundert anderen Kindern verpflichtet, dabei mitzuhelfen, verfallene Teile der Mauer abzustützen und zu verstärken. Sie schleppen Pflastersteine heran, Bodenfliesen, ja sogar Grabsteine, und reichen sie Maurern, die sie in die schwachen Stellen zementieren. Als würde die ganze Stadt zerlegt, um als endlose Mauer neu errichtet zu werden.

Den ganzen Tag über schleppt sie Steine, trägt Eimer. Unter den Maurern, die auf dem Gerüst über ihr arbeiten, sind ein Bäcker und zwei Fischer, die sie erkennt. Niemand spricht den Namen des Sultans laut aus, als könnte das dazu führen, dass seine Armee hinter den Mauern materialisiert. Der Tag schreitet voran, ein kalter Wind kommt auf, die Sonne verschwindet hinter Wolkenwirbeln, und der Frühlingsnachmittag fühlt sich an wie eine Winternacht. Barfüßige Mönche tragen ein Reliquiar hinter einem Kreuzträger über die Befestigungsanlagen und singen ein leises, düsteres Lied. Was, fragt sie sich, wird mehr helfen, die Angreifer zurückzuhalten: Mörtel oder Gebete?

In dieser Nacht, der Nacht des zweiten April, kehren die Kinder frierend und hungrig nach Hause zurück. Anna geht durch die Obstgärten beim Fünften Militärtor und steigt in den alten Bogenschützenturm.

Der Seiteneingang ist noch da, voller Schutt. Sechs Umdrehungen bis nach oben. Sie reißt ein paar Efeuranken herunter, das Fresko der silbernen und bronzenen Stadt schwebt nach wie vor zwischen den Wolken, blättert aber weiter ab. Als sie sich auf die Zehenspitzen erhebt, kann sie den Esel berühren, der für immer auf der falschen Seite des Meeres festsitzt, und klettert dann auf den nach Westen hinausgehenden Bogenschützenstand.

Was sie da hinter der äußeren Mauer sieht, jenseits des Grabens, lässt ihr den Atem stocken. Wäldchen und Obstgärten wie die, durch die Maria und sie noch vor einem Monat auf ihrem Weg zur Muttergottes von der lebensspendenden Quelle gegangen sind, wurden komplett abgeholzt, und hinter angespitzten und in die Erde gerammten Holzpfählen, die wie die Zähne eines riesigen Kamms aussehen, erstreckt sich ein mächtiges Ödland. Palisaden, so weit das Auge reicht, und dahinter liegt eine zweite Stadt, welche die erste wie ein Heiligenschein umgibt.

Tausende Sarazenenzelte flattern im Wind. Feuer, Kamele, Pferde, Karren, ein wildes Durcheinander von Staub und Männern in solchen Mengen, dass sie keine Zahlen mehr dafür kennt. Wie hat der alte Licinius die Armeen der Griechen noch beschrieben, als sie sich vor den Mauern Trojas sammelten?

Doch nie hab ich ein solches, so großes Volk noch gesehen!

Gleich den Blättern des Waldes an Zahl und dem Sande des Meeres

Zieh’n sie daher im Gefilde, die Stadt ringsum zu bestürmen!

Der Wind dreht sich, tausend Kochfeuer flackern auf, tausend Fahnen flattern an tausend Stangen, und Annas Mund wird ganz trocken. Selbst wenn sie in der Lage wäre, aus einem Tor zu schlüpfen, um zu fliehen, wie sollte sie je dort hindurchgelangen?

Tief aus ihrer Erinnerung steigt etwas auf, das Witwe Theodora einmal gesagt hat: Wir haben den Herrn erzürnt, mein Kind, und jetzt reißt er die Erde unter uns auf. Sie flüstert ein Gebet an die heilige Koralia, falls es irgendeine Hoffnung gebe, ihr doch ein Zeichen zu schicken, und sie steht da und zittert, und der Wind zerrt an ihr, und kein Zeichen kommt.

Kalaphates ist geflohen, der Wachmann verschwunden. Die Tür zu Witwe Theodoras Kammer ist versperrt. Anna nimmt eine Kerze aus dem Schrank in der Spülküche – wem gehören sie jetzt? –, steckt sie am Herd an und geht zu Maria. Ihre Schwester sitzt an die Wand gelehnt da, dünn wie ein Strich. Ihr ganzes Leben ist ihr gesagt worden zu glauben, und sie hat es versucht, hat glauben wollen, dass ein Mensch, wenn er nur lange genug leidet und hart genug arbeitet, am Ende an einen besseren Ort gelangt, so wie Odysseus, der an die Küste des Reichs vom wackeren Alkinoos gespült wird. Dass wir durch den Tod zu neuem Leben erwachen. Und vielleicht ist das am Ende das Einfachste. Aber Anna mag nicht mehr leiden, und sie ist nicht bereit zu sterben.

Die kleine, hölzerne heilige Koralia sieht ihr aus ihrer Nische mit zwei erhobenen Fingern zu. Im streuenden Kerzenlicht, in ihr Kopftuch gehüllt, greift Anna unter die Pritsche, holt den Sack feuchter Manuskripte hervor, die sie mit Himerius erst vor ein paar Tagen aus der Propstei geholt hat, und leert ihn aus. Erntelisten, Steueraufzeichnungen, und da ist auch der kleine fleckige, in Ziegenleder gebundene Kodex.

Wasserflecken bedecken das Leder, die Ränder sind mit schwarzen Sprenkeln überzogen. Aber das Herz hüpft ihr in der Brust, als sie die Schrift auf den Seiten sieht, ordentlich und leicht nach links gebeugt, so als lehnte sie sich in den Wind. Es geht wohl um eine kranke Nichte und Männer, die als Untiere auf Erden wandeln.

Auf der nächsten Seite:

… ein Palast mit goldenen Türmen hoch oben in den Wolken, um die Falken und Rotschenkel flogen, mit Wachteln, Sumpfhühnern und Kuckucken, wo Fleischbrühe aus Wasserspeiern strömte und …

Sie blättert weiter:

… das Fell, das da aus meinen Beinen wächst, oh, das sind keine Federn! Mein Mund, er fühlt sich nicht wie ein Schnabel an! Und das sind keine Flügel, das sind Hufe!

Ein Dutzend Seiten weiter:

… ich überquerte Bergpässe, umrundete Bernsteinwälder, kämpfte mich über eisbedeckte Berge zum gefrorenen Rand der Welt, wo die Menschen zur Sonnenwende vierzig Tage ohne Licht waren und weinten, bis Boten hoch auf den Bergen die wiederkehrende Sonne sahen …

Maria stöhnt im Schlaf. Anna zittert, sie kennt diese Stadt, ihr Bild blitzt vor ihr auf. Eine Stadt in den Wolken. Ein Esel am Rand des Meeres. Ein Buch, das die ganze Welt enthält, und die Geheimnisse jenseits von ihr.