Korea

1952–1953

Zeno

Im Winter ragen Stalagmiten gefrorenen Urins aus den Latrinen. Der Fluss friert ein, die Chinesen heizen weniger Schlafbaracken, und die Amerikaner und Briten werden zusammengelegt. Blewitt murrt, dass sie bereits enger aneinanderkleben als zwei Schichten Farbe, aber Zeno erregt es, dass die britischen Gefangenen zu ihnen hereinkommen. Rex und er sehen sich an, und bald schon liegen ihre Strohmatten nebeneinander an der Wand. Jeden Morgen wacht Zeno in dem Wissen auf, Rex nur eine Armlänge entfernt auf der Erde neben sich zu haben, und dass es für sie beide keinen anderen Ort gibt, wohin sie gehen könnten.

Jeden Tag, während sie durch die Berge streifen und Feuerholz hacken, sammeln und ins Lager tragen, gibt es eine neue Lektion von Rex, wie ein Geschenk.

Γράφω, gráphō, ritzen, kratzen, zeichnen oder schreiben: die Wurzel von Kalligrafie, Geografie und Fotografie.

Φωνή, phōnḗ, Geräusch, Stimme, Sprache: die Wurzel von Sinfonie, Polyfonie, Kakofonie, Saxofon, Mikrofon, Megafon und Telefon.

Θεός, theόs: ein Gott.

«Koche die Wörter, die du kennst, auf ihr Skelett herunter», sagt Rex, «und für gewöhnlich entdeckst du ihre Ahnen, wie sie zwischen den Knochen hocken und zu dir aufsehen.»

Wer sagt denn solche Dinge? Zeno blickt verstohlen zu ihm hinüber: sieht seinen Mund, sein Haar, seine Hände, und es bereitet ihm das gleiche Vergnügen, diesen Mann anzusehen, wie in ein Feuer zu blicken.

Durchfall ereilt Zeno wie alle anderen. Kaum, dass er von der Latrine zurückkommt, muss er um Erlaubnis bitten, wieder hinzugehen. Blewitt bietet an, Zeno zum Lagerkrankenhaus zu tragen, doch das ist bloß ein Schuppen, in dem sogenannte Ärzte die Gefangenen aufschneiden und ihnen Hühnerlebern unter die Rippen schieben, um sie «zu heilen», und er stirbt lieber hier, damit sich Blewitt seine Socken sichern kann.

Dann ist er zu schwach, um es noch zur Latrine zu schaffen. Als er am Tiefpunkt ist, rollt er sich auf seiner Matte zusammen, wie gelähmt vom Thiamindefizit, und glaubt, wieder acht Jahre alt zu sein, in seinen Beerdigungsschuhen zu Hause auf dem zugefrorenen See zu zittern und sich Fußbreit um Fußbreit weiter vor ins wirbelnde Weiß zu schieben. Direkt vor sich sieht er eine Stadt, aus der Türme hervorragen: Sie flackert und zuckt. Alles, was er tun muss, ist, weiter vor zu gehen und das Tor zu erreichen. Aber sobald er es versucht, zieht Athene ihn zurück.

Manchmal erlangt er anhaltend genug sein Bewusstsein wieder, um Blewitt neben sich zu erblicken, der ihm Haferschleim eintrichtert und Dinge sagt wie: «Nein, nein, auf keinen Fall, Junge, du stirbst hier nicht, nicht ohne mich.» Dann wieder sitzt Rex neben ihm und trocknet Zenos Stirn, und die Gläser seiner Brille werden von rostigen Drähten zusammengehalten. Mit einem Fingernagel kratzt er einen griechischen Vers in den Reif auf der Wand, als wären es geheimnisvolle Symbole, die Diebe verschrecken sollen.

Kaum, dass er wieder auf die Beine kommt, muss Zeno erneut Holz sammeln. An manchen Tagen ist er zu schwach, um sein dürftiges Bündel mehr als ein paar Schritte zu tragen. Rex hockt sich mit einem Stück Kohle neben ihn und schreibt Aλφάβητος auf einen Baumstamm. A ist ἄλφα: Alpha, der umgedrehte Kopf eines Ochsen. Β ist βῆτα: Beta, wie der Grundriss eines Hauses. Ω ist ὦμέγα: Omega, das mega O, ein großes Walmaul, um alle vorherigen Buchstaben zu verschlingen.

«Das Alphabet», sagt Zeno.

«Gut. Und was ist hiermit?»

Rex schreibt: ὁ νόστος.

Zeno wühlt in den Fächern seines Gedächtnisses.

«Nostos.»

«Nostos, ja. Der Akt des Nachhausekommens, eine sichere Ankunft. Natürlich ist es immer eine unsichere Sache, ein einzelnes englisches Wort einem griechischen zuzuschreiben. Ein Nostos ist auch ein Lied über das Nachhausekommen.»

Zeno steht auf, ihm ist schwindelig, er nimmt sein Bündel.

Rex steckt sein Stück Kohle in die Tasche. «Zu einer Zeit», sagt er, «als Krankheit, Krieg und Hunger praktisch stündlich wüteten, als so viele vor ihrer Zeit starben, ihre Körper von Meer oder Erde geschluckt wurden oder sich einfach hinter dem Horizont verloren, um nie wiederzukehren, ihr Schicksal ungewiss …» Er blickt über die gefrorenen Felder zu den niedrigen, dunklen Gebäuden von Lager Fünf hinunter. «Stell dir vor, wie es sich da angefühlt haben muss, die alten Lieder von der Rückkehr der Helden zu hören. Daran zu glauben, dass es möglich war.»

Auf dem Eis des Yalu weit unter ihnen treibt der Wind den Schnee in langen Wirbeln dahin. Rex sinkt tiefer in seinen Kragen. «Es ist nicht so sehr der Inhalt des Liedes: Es ist die Tatsache, dass das Lied überhaupt noch gesungen wurde.»

Singular und Plural, Wortstämme und die Fälle, die Verben regieren: Rex’ Begeisterung für das alte Griechisch trägt sie durch die schlimmsten Stunden. Eines Februarabends nach Einbruch der Dunkelheit, als sie sich im Küchenschuppen ums Feuer drängen, schreibt Rex mit seiner Kohle zwei Zeilen auf ein Brett und reicht es ihm.

τὸν δὲ θεοὶ μὲν τεῦξαν, ἐπεκλώσαντο δ ̓ ὄλεθρον

ἀνθρώποις, ἵνα ᾖσι καὶ ἐσσομένοισιν ἀοιδή

Durch die Risse in den Schuppenwänden sieht man die Sterne über den Bergen stehen. Zeno spürt die Kälte auf seinem Rücken, den leichten Druck von Rex’ Körper an seinem: Sie sind kaum mehr als Skelette.

θεοὶ sind die Götter, Nominativ plural.

ἐπεκλώσαντο bedeutet sie spannen, Aorist indikativ.

ἀνθρώποις sind Männern, Dativ plural.

Zeno atmet, das Feuer flackert, die Wände des Schuppens öffnen sich, und in einer Falte seines Denkens, unerreichbar für die Wachen, für Hunger oder Schmerz, steigt die Bedeutung des Verses durch die Jahrhunderte auf.

«Das ist es, was die Götter tun», sagt er, «sie spinnen die Fäden des Verderbens in den Stoff unseres Lebens, und das alles, um ein Lied für kommende Generationen zu schaffen.»

Rex blickt auf das Geschriebene auf dem Brett, dann wieder zu Zeno, auf die Verse. Er schüttelt den Kopf. «Also, das ist einfach brillant. Absolut verdammt brillant.»