Kilometerweit in jeder Richtung erklingen Hämmer und Äxte, Kamele schreien, bellen, blöken. Er kommt durch Lager von Bogenmachern, Sattlern, Schustern und Schmieden. Schneider nähen Zelte in noch größeren Zelten, Jungen eilen mit Körben Reis hierhin und dorthin. Fünfzig Schreiner bauen Sturmleitern aus entrindeten Bäumen. Gräben sind gezogen worden, um menschlichen und tierischen Dung wegzutragen. Fässer mit Trinkwasser türmen sich zu wahren Bergen. Ganz hinten haben sie eine große mobile Gießerei aufgebaut.
Aus jeder Ecke des Lagers kommen Männer, um die schimmernde Kanone auf ihrem Karren zu bestaunen, so riesig und vielversprechend. Die Ochsen betrachten das Gewimmel argwöhnisch und bleiben nahe beieinander. Mondlicht scheint widerkäuend zu schlafen, unfähig, den Kopf höher als den Nacken zu heben, und Baum sucht sich einen Platz neben ihm, legt sich auf die Seite und zuckt mit einem Ohr. Omeir reibt Baums linkes Hinterbein mit einer Mischung aus Speichel und Ringelblumenblättern ein, wie es auch der Großvater tun würde. Er macht sich Sorgen.
Als es dämmert, versammeln sich die Männer, die die Kanone von Edirne hergeschafft haben, um dampfende Kessel. Ein Hauptmann klettert auf ein Podium, um zu verkünden, dass ihnen der Sultan außerordentlich dankbar ist. Sobald die Stadt eingenommen ist, sagt er, werden sie sich alle ein Haus aussuchen können, dazu einen Garten und auch, welche Frau ihnen gehören soll.
Die ganze Nacht wird Omeir immer wieder vom Lärm der Schreiner geweckt, die einen Unterbau für die Kanone zimmern und eine Palisade, um sie zu verbergen. Tags darauf haben Treiber und Ochsen von früh bis spät damit zu tun, das Geschütz an seinen Platz zu hieven. Gelegentlich kommt ein Armbrustbolzen von den Zinnen des Mauerrings um die Stadt herangepfiffen und bleibt in einem Brett oder der Erde stecken. Maher reckt drohend die Faust zur Mauer hin. «Wir haben ein bisschen was Größeres, womit wir euch antworten werden», ruft er, und alle lachen.
An jenem Abend auf der Weide, wo sie die Ochsen füttern, findet Maher Omeir, der wieder auf einem Sandsteinblock sitzt, hockt sich neben ihn und zupft an einer Kruste auf seinem Knie. Sie blicken über das Lager zum Graben und zu den kalkweißen, mit roten Ziegeln gestreiften Türmen der Stadt hinüber. In der untergehenden Sonne scheint das Gewirr der Dächer hinter den Mauern zu brennen.
«Glaubst du, morgen um diese Zeit gehört das alles uns?»
Omeir sagt nichts. Er schämt sich zuzugeben, dass ihn die Größe dieser Stadt in Schrecken versetzt. Wie können Menschen so etwas gebaut haben?
Maher schwärmt von dem Haus, das er sich aussuchen wird. Zwei Stockwerke wird es haben und Bewässerungskanäle in einem Garten mit Birnbäumen und Jasmin, und dass er sich eine dunkeläugige Frau nehmen wird, die ihm fünf Söhne schenkt. Und wenigstens ein Dutzend dreibeinige Hocker will er – Maher redet ständig von dreibeinigen Hockern. Omeir denkt an die Steinhütte in der Schlucht, an seine Mutter, wie sie Quark macht, und an den Großvater, der zum Stall hinüberhumpelt. Das Heimweh zehrt an ihm.
Auf einem niedrigen Hügel zu ihrer Linken, umgeben von Schilden, Gräben und einer Wand aus Stoffen, steht die Zeltstadt des Sultans. Eine Brise lässt die Zelte im letzten Licht flattern. Es gibt welche für Leibwächter, für seinen Rat und den Kämmerer, für seine heiligen Reliquien und seine Falken, seine Astrologen, Gelehrten und Vorkoster. Es gibt Küchenzelte, Toilettenzelte, Besinnungszelte. Und neben einem Beobachtungsturm steht das persönliche Zelt des Sultans – rot und golden und groß wie ein Gehölz. Das Innere ist mit den Farben des Paradieses bemalt, hat Omeir gehört. Er würde es so gern sehen.
«In seiner unendlichen Weisheit», sagt Maher und folgt Omeirs Blick, «hat unser Fürst eine Schwäche des Gegners entdeckt. Eine Schwachstelle. Siehst du die Stelle, wo der Fluss in die Stadt fließt? Wo sich die Mauern neben dem Tor da absenken? Seit den Tagen des Propheten, Friede sei mit ihm, fließt dort das Wasser hindurch, weicht den Boden auf, spült Erde weg. Da sind die Fundamente schwach, die Steine gegehrt. Da werden wir durchbrechen.»
Überall auf den Mauern werden Wachfeuer entzündet. Omeir stellt sich vor, durch den Graben zu schwimmen, den Hang auf der anderen Seite hochzulaufen und die äußere Mauer zu erklimmen, sich ins Niemandsland dahinter vorzukämpfen, bis zum mächtigen Bollwerk der inneren Mauer, deren Türme so hoch sind wie zwölf Männer. Du würdest Flügel brauchen, du müsstest ein Gott sein.
«Morgen Abend», sagt Maher. «Morgen Abend werden uns zwei von den Häusern gehören.»
Nach den Waschungen und Gebeten am nächsten Morgen ziehen Fahnenträger zwischen den Zelten bis an die vorderste Front und hissen im ersten Licht leuchtende Standarten. Trommeln, Tamburine und Kastagnetten erklingen von überallher, ihr Lärm soll die Angreifer inspirieren und unter den Verteidigern Schrecken verbreiten. Omeir und Maher sehen den Pulvermischern zu, wie sie die riesige Kanone vorbereiten. Vielen fehlen Finger, oder sie haben Verbrennungen auf Hals und Gesicht. Die ständige Angst durch die Arbeit mit instabilen, explosiven Substanzen lässt sie angespannt wirken, sie stinken nach Schwefel und murmeln sich in ihrem merkwürdigen Dialekt unverständliche Dinge zu, wie Geisterbeschwörer. Omeir betet, dass sie ihn nicht ansehen, dass sie, wenn etwas schiefgeht, nicht ihm und seinem fehlerhaften Gesicht die Schuld geben.
Auf der Länge von fast acht Kilometern sind vierzehn Batterien Kanonen aufgebaut worden, keine so groß wie die, die Omeir und Maher hierherzubringen geholfen haben. Vertrautere Belagerungswaffen, Triböcke, Schleudern, Katapulte, werden ebenfalls geladen, wirken jedoch primitiv im Vergleich zu den polierten Geschützen, den dunklen Pferden, Karren und pulverfleckigen Uniformen der Artilleristen. Helle Frühlingswolken treiben wie Schiffe über sie weg, die einem parallel stattfindenden Krieg entgegenzusegeln scheinen. Die Sonne schiebt sich über die Dächer der Stadt, blendet kurzzeitig die Armeen außerhalb der Mauern, und schließlich, auf ein Signal des oben auf seinem Turm hinter einem dünnen Stoff verborgenen Sultans hin, verstummen die Trommeln und Schlaginstrumente, und die Fahnenträger holen die Standarten ein.
An mehr als sechzig Kanonen halten die Kanoniere Kerzen an das Zündpulver. Die ganze Armee, vom barfüßigen, zwangsverpflichteten Schäfer mit Knüppel oder Sense in der Vorhut bis zu den Imamen und Wesiren, von den Dienern, Pferdepflegern und Pfeilschmieden bis zu den Elitekorps der Janitscharen mit ihren makellos weißen Kopfputzen – alle sehen zu. Genau wie die Leute in der Stadt, die hier und da auf der äußeren und inneren Mauer zu sehen sind: die Bogenschützen, Reiter, Pioniere und Mönche, die Neugierigen und Unvorsichtigen. Omeir schließt die Augen, presst sich die Unterarme auf die Ohren und spürt, wie sich die Spannung erhöht, spürt, wie die große Kanone ihre furchtbare Kraft sammelt, und einen Moment lang betet er, dass er schläft, dass er sich, wenn er die Augen aufmacht, zu Hause wiederfindet, am Stamm der halb hohlen Eibe, und aus einem unglaublichen Traum aufwacht.
Dann gehen die Kanonen los, weißer Rauch stößt aus den Rohren, während der Rückstoß die Geschütze nach hinten wirft und die Erde erbeben lässt. Über sechzig, darunter die besonders große, Steinkugeln fliegen schneller auf die Stadt zu, als dass man ihnen mit den Blicken folgen könnte.
Überall entlang der Mauern steigen Staub- und Steinsplitterwolken auf. Ziegel- und Sandsteinfetzen regnen auf bis zu vierhundert Metern entfernte Männer herunter, und ein wildes Tosen fährt durch die versammelten Armeen.
Als sich die Luft wieder klärt, sieht Omeir, dass ein Teil eines Turmes der äußeren Mauer eingebrochen ist. Ansonsten scheint alles unberührt. Die Kanoniere gießen Öl über die große Kanone, um sie zu kühlen, und ein Offizier bereitet seine Mannschaft darauf vor, sie mit einer weiteren Tausend-Pfund-Kugel zu laden. Maher blinzelt ungläubig, und es dauert lange, bis der Jubel so weit nachlässt, dass Omeir das Schreien hören kann.
Sie steht im Hof und hackt geplündertes Holz, als die Kanonen erneut feuern, ein Dutzend in schneller Reihenfolge, gefolgt vom fernen Krachen berstenden Steins. Vor Tagen noch haben die Kriegsmaschinen des Sultans die Hälfte der Frauen im Arbeitsraum in Tränen ausbrechen lassen. Heute Morgen bekreuzigen sie sich höchstens noch flüchtig über ihren gekochten Eiern. Ein Krug rappelt im Regal, und Chryse greift danach und stellt ihn woandershin.
Anna schleppt das Holz in die Spülküche, macht Feuer, und die acht verbliebenen Stickerinnen essen und gehen nach oben, um zu arbeiten. Es ist kalt, und keine von ihnen lässt sich hetzen. Kalaphates ist mit dem Gold, dem Silber und den Perlen geflohen, es ist kaum mehr Seide da, und welche Geistlichen kaufen noch in Brokat gefasste Gewänder? Alle sind sich einig, dass die Welt bald ihr Ende finden wird und die einzig wichtige Aufgabe darin besteht, die eigene Seele von jeder Art Schmutz zu befreien, bevor der Tag kommt.
Witwe Theodora steht auf ihren Stock gestützt am Fenster. Maria hält sich ihren Stickrahmen dicht vor die Augen, während die Nadel durch den Seidenstoff der Kapuze gleitet.
Abends, wenn sie ihre Schwester in der Kammer versorgt hat, geht Anna zu den anderen Frauen und Mädchen auf die Terrasse zwischen der inneren und äußeren Mauer. Sie arbeiten in Gruppen, um Fässer mit Gras, Erde und Gemäuerstücken zu füllen. Sie sieht Nonnen in ihren Kutten, die helfen und Fässer an Flaschenzügen befestigen, sieht Mütter, die sich wechselseitig um ihre Babys kümmern, damit auch sie mit anfassen können.
Die Fässer werden mit Kränen, die von Eseln betrieben sind, auf die äußeren Festungsmauern gehievt, und nach Einbruch der Dunkelheit kriechen unglaublich mutige Soldaten über hastig erbaute Palisaden, senken die Fässer hinein und füllen die leeren Zwischenräume mit Geäst und Stroh, und das alles vor den Augen der Sarazenenarmeen. Anna sieht, wie ganze Büsche und kleine Bäume in die Einpfählungen gepackt werden, sogar Teppiche und Wandbehänge. Alles, um die Schläge der schrecklichen Steinkugeln abzufedern.
Dort draußen, an der Mauer, wann immer die Kanonen des Sultans donnern, spürt sie, wie die Detonationen ihre Knochen und selbst das Herz in seinem Käfig erfassen. Manchmal schießt eine Kugel über ihr Ziel hinaus, schlägt kreischend in der Stadt ein, und Anna hört, wie sie sich in einen Obstgarten, eine Ruine oder ein Haus bohrt. Dann wieder treffen die Geschosse in die Palisaden, aber statt zu zerbersten, schlucken sie die Kugeln, und die Verteidiger auf den Schutzwällen applaudieren.
Die ruhigen Momente machen ihr größere Angst: Wenn die Arbeiten pausieren und sie die Gesänge der Sarazenen auf der anderen Seite der Mauern hören kann, das Knarzen ihrer Belagerungsmaschinen, das Wiehern der Pferde und das Schreien der Kamele. Steht der Wind entsprechend, kann sie sogar riechen, was sie kochen. Männern so nahe zu sein, die sie tot sehen wollen. Zu wissen, dass nur die Trennlinie der Mauern, die zu bröckeln beginnt, sie davon abhält.
Sie arbeitet, bis sie die eigenen Hände nicht mehr sehen kann, trottet dann zurück nach Hause, nimmt eine Kerze aus der Spülküche und kriecht neben Maria auf die Pritsche. Ihre Fingernägel sind abgebrochen, Erde und Schmutz sitzen tief in den Poren ihrer Hände, und sie zieht die Decke um sie beide und öffnet den kleinen braunen, in Ziegenleder gebundenen Kodex.
Das Lesen ist mühsam. Einige Seiten sind teilweise mit Schimmel bedeckt, und der Kopist hat die Worte nicht mit Abständen getrennt. Zudem gibt die Talgkerze nur ein schwaches, flackerndes Licht, und Anna ist oft so müde, dass sich die Zeilen vor ihren Augen verdrehen und auflösen.
Der Hirte in der Geschichte wird unglücklicherweise zu einem Esel, dann zu einem Fisch, und jetzt schwimmt er durch die Innereien eines riesigen Seeungeheuers, mit dem er von Kontinent zu Kontinent reist, und weicht Untieren aus, die ihn fressen wollen: Es ist albern, es ist absurd. Das kann doch nicht die Art Kompendium sein, wie es die Italiener gesucht haben?
Und doch. Wenn der Strom der altgriechischen Erzählung an Fahrt aufnimmt und sie in die Geschichte hineinklettert, so als stiege sie die Mauer der alten Propstei auf den Felsen hinauf, da ein Halt für die Hände, dort einer für die Füße, schwindet die feuchte Kälte ihrer Kammer, und die helle, lächerliche Welt Aethons nimmt ihren Platz ein.
Unser Seeungeheuer kämpfte mit einem anderen, größeren, das noch schrecklicher war, und die Wasser vor uns erbebten, Schiffe mit hundert Seeleuten sanken vor meinen Augen, und ganze aus dem Boden gerissene Inseln trieben vorbei. Ich schloss die Augen vor dem Grauen und beschwor die goldene Stadt in den Wolken vor mir herauf …
Blättere eine Seite um, folge dem Gang der Sätze: Der Sänger tritt hervor und bläst den Atem einer Welt voller Farben und Geräusche in deinen Kopf.
Der Sultan hat nicht nur die Festung zur durchgeschnittenen Kehle erbaut, um der Stadt von Osten her die Luft abzuschnüren, verkündet Chryse eines Abends, er hat nicht nur seine Flotte in Stellung gebracht, um den Zugang von Westen übers Meer zu blockieren, und eine grenzenlos große Arme mit furchterregender Artillerie versammelt, jetzt hat er auch noch serbische Silbermineure geholt, die besten Mineure der Welt, um Gänge unter den Mauern zu graben.
Als Maria das hört, wird sie von Entsetzen vor diesen Männern gepackt. Sie stellt Schüsseln mit Wasser in ihrer Kammer auf, hockt ganz dicht über ihnen und studiert die Oberfläche auf unterirdische Erschütterungen hin. Nachts weckt sie Anna, damit sie den Hacken und Schaufeln unter der Erde lauscht.
«Sie werden lauter.»
«Ich höre nichts, Maria.»
«Bewegt sich der Boden?»
Anna nimmt sie in den Arm. «Versuche zu schlafen, Schwester.»
«Ich höre ihre Stimmen. Sie reden, direkt unter uns.»
«Das ist nur der Wind im Kamin.»
Doch trotz aller Logik spürt Anna, wie die Angst auch sie ergreift. Sie stellt sich eine Gruppe Männer in Kaftanen vor, in einem Loch direkt unter ihrer Pritsche, die Gesichter schwarz von Erde, riesige Augen in der Finsternis. Sie hält den Atem an und hört das Kratzen ihrer Messer unter den Bodendielen.
Eines Abends am Ende des Monats zieht Anna auf der Suche nach Essbarem durch den Osten der Stadt und umrundet gerade die große, verwitterte Masse der Hagia Sophia, als sie stehen bleibt. Dort zwischen den Häusern erblickt sie die Propstei auf den Felsen beim Hafen, wie sie sich vorm Meer erhebt. Sie brennt. Flammen zucken hinter verfallenen Fenstern, und eine schwarze Rauchsäule steigt in den tief purpurnen Himmel auf.
Glocken läuten – ob sie die Leute ermahnen sollen, gegen das Feuer anzukämpfen, oder ob es um etwas anderes geht, kann sie nicht sagen. Vielleicht sollen sie die Menschen nur mahnen, nicht aufzugeben. Ein Abt schlurft mit geschlossenen Augen vorbei. Er trägt eine Ikone, und ihm folgen zwei Mönche mit einem Räuchergefäß. Auch von der Propstei weht Rauch heran. Sie denkt an die nasskalten, modernden Räume und Gänge, die verrottende Bibliothek mit ihrem zerfallenden Gewölbe. Den Kodex in ihrer Kammer.
Tag für Tag, hat der große Italiener gesagt, Jahr um Jahr, lässt die Zeit alte Bücher aus der Welt verschwinden.
Eine Dienstmagd mit Narben im Gesicht bleibt vor ihr stehen. «Geh nach Hause, Kind. Die Glocken rufen die Mönche, um die Toten zu beerdigen. Das ist jetzt nicht die Zeit, um auf der Straße zu sein.»
Als sie zurück in ihre Kammer kommt, sitzt Maria in völliger Dunkelheit starr auf der Pritsche.
«Ist das Rauch? Ich kann Rauch riechen.»
«Es ist nur eine Kerze.»
«Ich fühle mich schwach.»
«Das ist wahrscheinlich der Hunger, Schwester.»
Anna setzt sich zu ihr, legt die Decke um sie beide und nimmt die Samitkapuze, die auf Marias Schoß liegt. Fünf der zwölf Vögel sind fertig – die Taube des Heiligen Geistes, der Pfau der Auferstehung, der Kreuzschnabel, der versucht hat, die Nägel aus Jesus’ gekreuzigten Händen zu ziehen. Sie rollt Marias Fingerhut und die Schere darin ein, holt den abgegriffenen alten Kodex aus der Ecke und öffnet ihn auf der ersten Seite: FÜR MEINE ALLERLIEBSTE NICHTE, IN DER HOFFNUNG, DASS DIES DIR GESUNDHEIT UND LICHT BRINGT.
«Maria», sagt sie, «hör zu», und sie fängt von vorne an.
Der trunkene, törichte Aethon verwechselt die Stadt in einem Theaterstück mit einem wirklichen Ort. Er macht sich auf nach Thessalien, dem Land der Magie, und wird schließlich unglücklicherweise zu einem Esel. Dieses Mal kommt Anna schneller voran, und während sie die Geschichte laut vorliest, geschieht etwas Merkwürdiges: Solange sie Maria in einen stetigen Wortfluss taucht, scheint ihre Schwester nicht mehr so zu leiden. Ihre Muskeln entspannen sich, ihr Kopf sinkt an Annas Schulter. Aethon, der Esel, wird von Banditen entführt, vom Sohn des Müllers geschlagen, wandert auf seinen brechenden Hufen bis an die Stelle, wo die Natur an ihr Ende kommt. Maria stöhnt nicht vor Schmerz und redet auch nicht mehr von unsichtbaren Mineuren, die sich schabend unter der Erde voranarbeiten. Sie sitzt neben ihrer Schwester, blinzelt ins Kerzenlicht, und Heiterkeit umspielt Augen und Mund.
«Glaubst du, das ist wirklich wahr, Anna? Ein Fisch so groß, dass er ganze Schiffe verschlucken kann?»
Eine Maus huscht über den Steinboden, bleibt stehen, hebt sich auf die Hinterbeine und neigt den Kopf mit schnüffelnder Nase leicht zur Seite, als warte sie auf Annas Antwort. Anna denkt an das letzte Mal, als sie mit Licinius zusammensaß. Μῦθος, schrieb er, mýthos, ein Gespräch, eine Erzählung, eine Legende aus der Dunkelheit der Tage vor Jesus Christus.
«Einige Geschichten», sagt sie, «können gleichzeitig wahr und falsch sein.»
Am Ende des Korridors sitzt Witwe Theodora im Mondlicht und hält die abgegriffenen Perlen ihres Rosenkranzes fest in der Hand. In der Kammer daneben trinkt Chryse, die Köchin, der nur mehr die Hälfte ihrer Zähne verblieben sind, aus einem Krug Wein, legt die rissigen Hände auf die Knie und träumt von einem Sommertag außerhalb der Mauern, einem Spaziergang unter Kirschbäumen und einem Himmel voller Krähen. Anderthalb Kilometer weiter östlich sitzt der Junge Himerius, der in die Behelfsmarine eingezogen worden ist, zusammen mit dreißig anderen Ruderern, im Bauch einer vor Anker liegenden Karacke, über den Schaft eines großen Ruders gebeugt. Sein Rücken schmerzt, seine beiden Hände bluten, er hat noch acht Tage zu leben. In den unterirdischen Wasserspeichern bei der Hagia Sophia schwimmen drei kleine Boote auf dem schwarzen Spiegel des Wassers, jedes voller Rosen, und ein Priester intoniert in der hallenden Dunkelheit ein Lied.
Als er das erste Mal nördlich um die Stadtmauern herumkommt und das Goldene Horn erblickt, einen achthundert Meter breiten silbrig glitzernden Fluss, der langsam in Richtung Meer treibt, scheint es ihm das Staunenswerteste auf dieser Welt zu sein. Möwen kreisen über ihm, watende Vögel, so groß wie Götter, treten aus dem Schilf hervor. Zwei der Barken des Sultans gleiten wie von Zauberhand gezogen vorbei. Großvater hat gesagt, das Meer sei groß genug, um jeden Traum zu enthalten, den je ein Mensch geträumt hat, aber Omeir hat nicht begriffen, was das bedeutet. Bis jetzt.
Das Westufer ist gespickt mit osmanischen Anlegestellen voller Menschen. Während sich der Zug der Ochsen dem Wasser nähert, erblickt er Kräne und Winden, Dockarbeiter, die Fässer und Munition ausladen, vor Karren gespannte wartende Zugpferde, und er ist sicher, so etwas Prächtiges wird er nie wieder sehen.
Doch als aus den Tagen Wochen werden, verblasst das anfängliche Staunen. Er und seine Bullen sind Teil eines Achtergespanns, das Wagen mit Granitkugeln aus Steinbrüchen an der Nordküste des Schwarzen Meeres zu einer provisorischen Fertigungsstelle transportiert, wo Steinmetze die Kugeln so zurechtmeißeln und polieren, dass sie in die Geschütze passen. Der Weg ist sechseinhalb Kilometer lang, geht meist bergauf, und der Hunger der Geschütze auf neue Projektile ist unstillbar. Die Ochsenzüge arbeiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und nur wenige der Tiere haben sich von der langen Reise hierher erholt. Die Qualen sind ihnen allen anzusehen.
Mondlicht tritt jeden Tag stärker für seinen Bruder mit ein, und abends, sobald sie aus dem Joch kommen, schafft Baum nur noch ein paar Schritte, bevor er sich hinlegt. Omeir verbringt den Großteil seiner Nächte damit, ihm Futter und Wasser zu bringen. Nie im Leben würde ein gesunder Ochse so daliegen, das Kinn auf der Erde, den Hals verrenkt, Baums Rippen heben und senken sich, heben und senken sich. Die Männer beäugen ihn, sie spüren, dass es da ein gutes Stück Fleisch geben könnte.
Regen, dann Nebel, und die nachfolgende Sonne ist heiß genug, um schwirrende Fliegenwolken zum Leben zu erwecken. Die Infanterie des Sultans, die unter den dahinpfeifenden Projektilen arbeitet, füllt Abschnitte des Grabens beim Fluss Lycus mit gefällten Bäumen, kaputten Belagerungsmaschinen, Zeltstoffen, mit allem, was sie finden können, und alle paar Tage peitschen die Kommandierenden die Männer an und schicken eine weitere Welle hinüber.
Sie sterben zu Hunderten. Viele riskieren alles, um ihre Toten zu bergen, und werden dabei ihrerseits getötet, worauf noch mehr zu bergen sind. Meist hebt sich morgens Rauch von den Scheiterhaufen zum Himmel, wenn Omeir seinen Ochsen das Joch anlegt.
Die Straße zu den Anlegern entlang des Horns hinunter verläuft mitten über einen christlichen Friedhof, der zu einem Feldlazarett unter offenem Himmel umfunktioniert worden ist. Verletzt und sterbend liegen die Männer zwischen den alten Grabsteinen: Mazedonier, Albaner, Walachen, Serben, und viele von ihnen leiden solche Qualen, dass sie kaum mehr menschlich erscheinen. Der Schmerz scheint ihnen ihre Persönlichkeit zu nehmen und zu vernichten, was sie einmal ausgemacht hat. Heiler bewegen sich mit Bündeln glimmernder Weidenzweige zwischen den Verwundeten. Sanitäter kommen mit Ochsenkarren voller Tonkrüge, aus denen sie Handvoll um Handvoll Maden holen, um die Wunden zu säubern, und die Männer winden sich und schreien oder werden ohnmächtig. Omeir stellt sich die Toten vor, die nicht mehr als ein paar Spatenstiche unter den Sterbenden liegen, das Fleisch grün verrottet, die skelettierten Kiefer kauend, und ihm ist hundeelend.
Eselskarren eilen in beiden Richtungen an den Ochsengespannen vorbei, und die Gesichter der Kutscher sind von Ungeduld, Angst und Wut gezeichnet, vielleicht auch von allem. Hass, sieht Omeir, ist ansteckend und verbreitet sich wie eine Krankheit in den Reihen. Bereits nach drei Wochen Belagerung kämpfen einige der Männer nicht mehr für Gott, den Sultan oder die erhoffte Beute, sondern aus reiner, banger Wut. Bring sie alle um. Mach dem ein Ende. Manchmal flammt auch in Omeir Zorn auf, und er will nichts mehr, als dass Gott seine wütende Faust aus den Wolken niederfahren lässt und die Häuser hinter der Mauer eins nach dem anderen zermalmt, bis alle Griechen tot sind und er zurück nach Hause kann.
Am 1. Mai türmen sich Wolken am Himmel. Das Wasser im Goldenen Horn wird träger, schwarz, Hunderte Millionen Regentropfen übersäen es mir pockenartigen Ringen. Die Treibermannschaften warten, dass die von weißen Quarzen durchzogenen mächtigen Granitkugeln die Rampe herunterkommen und auf die Wagen geladen werden.
In der Ferne schleudern Triböcke in wilden Bögen Felsbrocken über die Mauern. Sie sind noch keinen Kilometer die Straße hinauf, ihr Wagen hängt tief in den Fahrspuren, die Ochsen geifern und keuchen, und die Zungen hängen ihnen heraus, als Baum ins Wanken gerät. Es gelingt ihm, sich wieder zu fangen und breitbeinig aufrecht zu halten, doch ein paar Schritte später wankt er erneut. Das ganze Gespann bleibt stehen, und die Männer beeilen sich, die Räder des Wagens zu blockieren, während der übrige Verkehr vorbeieilt.
Omeir schiebt sich zwischen die Tiere. Als er Baums Bein berührt, erschaudert der Ochse. Schleim läuft ihm in zwei Rinnsalen aus den Nasenlöchern. Wieder und wieder leckt sich Baum den Gaumen mit seiner enorm großen Zunge, und seine Augen irrlichtern sanft in ihren Höhlen hin und her. Müde und vernebelt sehen sie aus, mit der leicht entrückten Verträumtheit eines Altersstars. Als hätten ihn die letzten fünf Monate um zehn Jahre älter werden lassen.
Seinen Stachelstock in der Hand, geht Omeir in seinen kaputten Schuhen an den keuchenden Ochsen entlang zum Truppführer, der mit finsterer Miene vorne auf der Kugelladung hockt.
«Die Tiere brauchen eine Pause.»
Der Mann sieht halb staunend, halb angeekelt auf ihn hinab und greift nach seiner Bullenpeitsche. Omeir spürt, wie sein Herz in eine schwarze Leere sinkt. Eine Erinnerung kommt in ihm hoch: Einmal, vor Jahren, hat Großvater ihn hoch in die Berge mitgenommen, um zuzusehen, wie Holzfäller eine mächtige, uralte Weißtanne fällten, groß wie fünfundzwanzig Mann, eine Welt in sich. Sie sangen ein leises, entschlossenes Lied und trieben ihre Äxte in einem Rhythmus in den Stamm, als hämmerten sie Nadeln in den Fuß eines Riesen. Großvater erklärte ihm die Namen der Werkzeuge, die sie benutzten, deutete auf die Stiefel mit den Dornen, die Warnpfeifen, Rundhölzer und Seilzüge, aber woran Omeir in diesem Moment denken muss, als der Mann mit der Peitsche ausholt, ist der Moment, als der Baum auf die Erde traf, der Stamm explodierte und die Männer Hallo! riefen. Plötzlich war die Luft vom reifen, scharfen Geruch berstenden Holzes erfüllt, und was er, Omeir, fühlte, war keine Freude, sondern Trauer. Die Holzfäller schienen ihre Macht zu bejubeln, als sie die Äste, die über Generationen nur Sternenlicht, Schnee und Raben gekannt hatten, ins Unterholz krachen sahen. Omeir dagegen verspürte etwas, das an Verzweiflung grenzte, und wusste doch gleichzeitig auch, in seinem Alter schon, dass seine Gefühle nicht willkommen wären und er sie besser sogar vor seinem Großvater verbarg. Warum betrauern, was Menschen zu tun vermögen?, hätte der gesagt. Es stimmt etwas nicht mit einem Kind, das noch mit anderen Wesen mitfühlt als mit Menschen.
Das Ende der Bullenpeitsche knallt nur Zentimeter von Omeirs Ohr entfernt.
Ein weißbärtiger Treiber, der seit Edirne bei ihnen ist, ruft: «Lassen Sie den Jungen. Er ist nur gut zu seinen Tieren. Der Prophet selbst, Friede sei mit Ihm, hat dereinst ein Stück seines Gewandes abgeschnitten, um die Katze nicht zu wecken, die darauf schlief.»
Der Truppführer blickt ihn an. «Wenn wir die Lieferung nicht bringen», sagt er, «werden wir alle ausgepeitscht, ich mit euch. Und ich werde dafür sorgen, dass du und diese Fratze dann am meisten abbekommt. Treibt eure Ochsen voran, oder wir werden alle Krähenfutter.»
Die Männer gehen zurück zu ihren Tieren. Omeir steigt die zerfahrene, zerstörte Straße hinauf, hockt sich neben Baum, sagt seinen Namen, und der Ochse steht auf. Er streicht Mondlicht mit seinem Stock über den Nacken, die Ochsen lehnen sich ins Joch und beginnen wieder zu ziehen.