Sie wacht auf dem Boden auf und trägt immer noch den Bioplastikanzug, den ihr Vater gemacht hat. Die Maschine flimmert in ihrem Turm.
Guten Tag, Konstance.
Um sie herum liegen verstreut die Sachen, die ihr Vater in den Vorraum geworfen hat: der Perambulator, die aufblasbare Liege, die Recyclingtoilette, die Trockenwischtücher, die Säcke Nahrungspulver. Der Essensdrucker ist noch eingepackt. Die Stirnlampe der Sauerstoffhaube ist aus.
Tropfen um Tropfen sickert ihr Entsetzen ins Bewusstsein. Die beiden Gestalten in ihren Schutzanzügen, die bronzefarbenen Spiegel ihrer Gesichtsschilder zeigten ein verzerrtes Bild des Eingangs zu Abteil 17. Die Zelte im Versorgungsraum. Vaters ausgezehrtes Gesicht, die rosa Ringe um seine Augen. Die Art, wie er jedes Mal zusammenzuckte, wenn der Lichtstrahl der Stirnlampe ihn traf.
Mutter war nicht in ihrem Bett.
Konstance fühlt sich beobachtet, als sie die kleine Recyclingtoilette benutzt. Der untere Teil ihres Arbeitsanzugs ist verschwitzt. «Sybil, wie lange habe ich geschlafen?»
Du hast achtzehn Stunden geschlafen, Konstance.
Achtzehn Stunden? Sie zählt die Säcke Nahrungspulver: Es sind dreizehn.
«Meine Vitalfunktionen?»
Deine Temperatur ist ideal. Puls und Atmung perfekt.
Konstance geht einmal durch das Gewölbe, streicht mit den Fingern an der gekrümten Wand entlang.
«Sybil, bitte lass mich raus.»
Das kann ich nicht.
«Wie meinst du das, du kannst es nicht?»
Ich kann das Gewölbe nicht öffnen.
«Natürlich kannst du das.»
Meine Hauptaufgabe besteht darin, für das Wohlergehen der Crew zu sorgen, und ich bin sicher, es ist sicherer für dich hier drin.
«Bitte Vater, mich zu holen.»
Ja, Konstance.
«Sag ihm, ich möchte ihn jetzt sehen.» Die Liege, die Sauerstoffhaube, die Nahrungssäcke. Furcht durchdringt sie. «Sybil, wie viel Essen kann eine Person mit dreizehn Säcken Nahrungspulver drucken?»
Ausgehend von einem durchschnittlichen Kalorien-Output, kann ein Rekonstituierer 6526 vollwertige Mahlzeiten erzeugen. Hast du Hunger nach dem langen Schlaf? Soll ich dir helfen, ein nahrhaftes Essen zu bereiten?
Vater, der in der Bibliothek über technischen Zeichnungen brütet. Der Nähhocker, wie er unter dem Druck der äußeren Tür ächzt. Einer von uns fühlt sich nicht gut. Jessi Ko meinte, die einzige Möglichkeit, aus dem Abteil zu kommen, sei, Sybil zu sagen, dass du dich nicht wohlfühlst. Wenn Sybil sieht, dass mit dir etwas nicht stimmt, schickt sie Dr. Cha und Ingenieur Goldberg, damit sie dich in die Krankenstation eskortieren.
Vater ging es nicht gut. Als er es sagte, hat Sybil die Tür zu Abteil 17 geöffnet, damit er dorthin gebracht werden könnte, wo immer sie kranke Crew-Mitglieder isolieren. Aber erst hat er Konstance in Sybils Gewölbe gebracht. Mit genug Vorräten für sechseinhalbtausend Essen.
Mit zitternden Händen berührt sie den Vizer hinten auf ihrem Kopf, und der Perambulator erwacht surrend zum Leben.
Willst du in die Bibliothek?, fragt Sybil. Natürlich, Konstance. Essen kannst du auch hinterh…
Es sitzt niemand an den Tischen, niemand steht auf den Leitern, und es fliegen auch keine Bücher durch die Luft. Die Bibliothek ist völlig verlassen. Über der Öffnung im Gewölbe strahlt der Himmel in einem angenehmen Blau. Konstance ruft: «Hallo?», und Mrs Flowers’ kleiner Hund kommt mit leuchtenden Augen unter einem Tisch hervor, den Schwanz steil in die Luft gereckt.
Keine Lehrer, die unterrichten lassen. Keine Teenager, die die Leitern in der Spieleabteilung herunterrutschen.
«Sybil, wo sind alle?»
Alle sind woanders, Konstance.
Die zahllosen Bücher warten in ihren Regalen. Die makellosen Papierrechtecke und die Stifte liegen in ihren Schachteln. Vor Tagen hat Mutter an einem dieser Tische noch laut den Satz vorgelesen: Die widerstandsfähigsten Viren können monatelang auf Oberflächen überdauern, auf Tischen, Türklinken, Badezimmereinrichtungen.
Eine kalte Schwere erfasst sie. Sie nimmt einen Zettel und schreibt: Wie viele Jahre braucht ein Mensch, um 6526 vollwertige Mahlzeiten zu essen?
Die Antwort kommt heruntergeschwebt: 5,9598.
Sechs Jahre?
«Sybil, bitte, sag meinem Vater, er soll in die Bibliothek kommen.»
Ja, Konstance.
Sie setzt sich auf den Marmorboden, und der kleine Hund klettert auf ihren Schoß. Sein Fell fühlt sich so echt an, und die kleinen rosa Polster unter seinen Füßchen sind so herrlich warm. Hoch über ihr zieht eine einzelne silberne Wolke wie eine Kinderzeichnung am Himmel entlang.
«Was hat er gesagt?»
Er hat noch nicht geantwortet.
«Wie viel Uhr ist es?»
Sechs Minuten nach DayLight dreizehn, Konstance.
«Sind alle beim dritten Essen?»
Sie sind nicht beim dritten Essen, nein. Möchtest du ein Spiel spielen, Konstance? Etwas puzzeln? Und da ist immer noch der Atlas. Ich weiß, dass du gern darin bist.
Der digitale Hund blinzelt mit seinen digitalen Augen. Die digitale Wolke zieht stumm durch die digitale Dämmerung.
Als sie ihren Perambulator verlässt, sind die Wände von Gewölbe Eins dunkler geworden. Bald ist NoLight, sie presst ihren Mund an die Wand und ruft: «Hallo?»
Lauter: «Hallo?»
Es ist schwer, etwas durch die Wände der Argos zu hören, aber nicht unmöglich. In ihrem Bett in Abteil 17 hat sie Wasser durch Rohre gluckern hören und ein paarmal ganz leise, wie Mr und Mrs Marri in Abteil 16 gestritten haben.
Sie schlägt mit den Handballen gegen die Wand, nimmt die aufblasbare Liege, die immer noch eingepackt ist, und wirft sie durch den Raum. Das Ding macht einen fürchterlichen Lärm. Sie wartet. Schleudert die Liege ein zweites Mal von sich weg. Jeder Herzschlag ist wie ein Stich, der ihre Angst noch weiter schürt. Sie sieht Vater, wie er in der Bibliothek über Pläne gebeugt sitzt. Hört, was Mr Chen vor Jahren gesagt hat: Dieses Gewölbe ist thermal und mechanisch autonom und verfügt über eigene Filter, die unabhängig von der übrigen … Vater muss sich dessen versichert haben. Er hat sie hierher gebracht, um sie zu schützen. Aber warum ist er nicht bei ihr geblieben? Warum hat er nicht noch andere mit hergebracht?
Weil er krank war. Weil sie mit einer ansteckenden tödlichen Krankheit infiziert sein könnten.
Der Raum wird schwarz.
«Sybil, wie ist meine Körpertemperatur?»
Ideal.
«Nicht zu hoch?»
Alle Werte sind ausgezeichnet.
«Würdest du jetzt bitte die Tür öffnen?»
Das Gewölbe bleibt versiegelt, Konstance. Das hier ist der sicherste Ort für dich. Am besten machst du dir ein gesundes Essen. Dann kannst du deine Liege aufbauen. Möchtest du etwas Licht?
«Frage meinen Vater, ob er seine Meinung ändern wird. Ich baue meine Liege auf, ich tu, was immer du sagst.» Sie packt die Liege aus, passt die Alufüße ein und öffnete das Ventil. Es ist sehr still im Raum. Sybil schimmert tief in ihren Falten, viermal so groß wie Konstance.
Vielleicht sind manche sicher in anderen Gewölben untergebracht, in denen das Mehl, neue Arbeitsanzüge und Ersatzteile aufbewahrt werden. Vielleicht haben sie ebenfalls ein eigenes Thermal- und Wasserfiltersystem. Aber warum kommen sie nicht in die Bibliothek? Haben sie ihre Perambulatoren nicht? Vielleicht schlafen sie ja. Sie legt sich auf ihre Liege, reißt eine Decke aus ihrer Hülle und zieht sie sich über die Augen. Zählt bis dreißig.
«Hast du ihn schon gefragt? Hat er seine Meinung geändert?»
Dein Vater hat seine Meinung nicht geändert.
In den nächsten Stunden fühlt sie zwanzig Mal, ob sie eine heiße Stirn und vielleicht Fieber hat. Kündigen sich da Kopfschmerzen an? Eine leichte Übelkeit? Die Temperatur ist gut, sagt Sybil. Atmung und Herzschlag sind ausgezeichnet.
Sie läuft in der Bibliothek auf und ab, ruft Jessi Kos Namen die Galerien hinauf und hinunter, spielt Die Schwerte des Silbermanns, rollt sich unter einem Tisch ein und schluchzt, während ihr der kleine Hund das Gesicht ableckt. Sie sieht niemanden.
Im Gewölbe schimmern die silbrigen Fäden in Sybils Turm über der Liege. Bist du bereit, deine Ausbildung wiederaufzunehmen, Konstance? Unsere Reise geht weiter, und es ist von größter Wichtigkeit, deine tägliche …
Sterben da Leute zehn Meter entfernt in ihren Abteilen? Warten die leblosen Körper von allen, die sie je gekannt hat, darauf, durch die Luftschleuse ausgestoßen zu werden?
«Lass mich raus, Sybil.»
Ich fürchte, die Tür bleibt versiegelt.
«Was», flüstert Konstance, «wenn ich nicht mehr sicher sein will?»
Dann kommt die Wut. Sie zieht die Alufüße aus der Liege und schleudert sie gegen die Wand, zerkratzt das Metall und fügt ihm Dellen zu. Als sich das als unbefriedigend erweist, wendet sie sich der durchsichtigen Hülle zu, die Sybil umgibt, schlägt darauf ein, bis das Aluminium reißt und ihre Hände nicht mehr können.
Wo sind alle hin, wie kann es sein, dass sie die Einzige ist, die noch lebt, und warum, um alles im Universum, hat Vater sein Zuhause verlassen und sie zu diesem fürchterlichen Schicksal verdammt? Die Dioden in der Decke sind sehr hell. Ein Tropfen Blut fällt von einer Fingerspitze auf den Boden. Die Röhre, die Sybil schützt, bleibt ohne jeden Kratzer.
Fühlst du dich besser?, fragt Sybil. Es ist nur natürlich, seiner Wut von Zeit zu Zeit Ausdruck zu geben.
Warum kann die Heilung nicht so schnell gehen wie die Verwundung? Du knickst um, brichst dir einen Knochen – es dauert gerade einen Herzschlag. Stunde um Stunde, Woche für Woche, Jahr um Jahr arbeiten die Zellen deines Körpers daran, sich so zu regenerieren, wie sie vor deiner Verletzung gewesen waren. Aber du wirst nie wieder dieselbe, nicht ganz.
Acht Tage allein, zehn, elf, dreizehn, sie verliert den Überblick. Die Tür öffnet sich nicht. Niemand klopft von außen gegen die Wand. Niemand kommt in die Bibliothek. Die einzige Wasserleitung in Gewölbe Eins tropft langsam vor sich hin, und sie verbindet sie abwechselnd mit dem Essensdrucker und der Recyclingtoilette. Sie braucht mehrere Minuten, um ihren Trinkbecher zu füllen. Konstance ist ständig durstig. Manchmal presst sie die Hände an die Wand und fühlt sich gefangen, wie ein Embryo in einem Samenkorn, schlummernd, das darauf wartet aufzuwachen. Dann wieder träumt sie, dass die Argos in einem Flussdelta von Beta Oph2 landet, dass die Wände sich öffnen und alle hinaus in einen klaren, sauberen Regen treten, der dicht vom fremden Himmel fällt, Regen, der ganz leicht nach Blumen schmeckt. Eine sanfte Brise streicht über ihre Gesichter, Schwärme merkwürdiger Vögel steigen auf und kreisen über ihnen. Vater reibt sich Erde auf die Wangen und sieht sie voller Freude an, während Mutter mit weit offenem Mund in die Höhe starrt und trinkt, was da vom Himmel fällt. Wenn sie aus solch einem Traum erwacht, ist die Einsamkeit am schlimmsten.
DayLight, NoLight, DayLight, NoLight: Im Atlas wandert sie durch Wüsten, über Schnellstraßen, Feldwege, durch Prag, Kairo, Maskat, Tokio und sucht nach etwas, das sie nicht benennen kann. In Kenia steht ein Mann mit einem Gewehr auf dem Rücken da und hält ein Rasiermesser in der Hand, als die Kamera vorbeikommt. In Bangkok findet sie einen offenen Laden, in dem eine junge Frau an einem Tisch hockt. An der Wand hinter ihr hängen wenigstens tausend Uhren, Uhren mit Katzengesichtern, mit Pandabären als Zahlen, hölzerne Uhren mit Messingzeigern, alle Pendel sind angehalten. Bäume ziehen sie immer an, ein Gummibaum in Indien, vermooste Eiben in England, eine Eiche in Alberta, aber kein einziges Bild im Atlas, nicht einmal eine uralte Schlangenhaut-Kiefer in den Bergen Thessaliens, besitzt die haargenaue, überwältigende Komplexität eines einzelnen Salatblattes von Vaters Farm oder ihres Kiefernsetzlings in seinem kleinen Topf, seiner Textur und seiner Überraschungen – dieses satte, lebendige Grün der langen Nadeln mit ihren gelben Spitzen und das Blaulila der Zapfen. Das Xylem zieht Wasser und Mineralien aus den Wurzeln hoch, Phloeme transportieren Zucker aus den Nadeln, um ihn zu speichern, aber das alles geht so langsam, dass es dem Auge verborgen bleibt.
Am Ende sitzt sie erschöpft und zitternd auf der Liege, und die Dioden dimmen herunter. Mrs Chen hat gesagt, Sybil sei ein Buch, das die ganze Welt enthalte: tausend verschiedene Rezepte für Makkaroni mit Käsesoße, die Temperaturentwicklung der Arktis während der letzten viertausend Jahre, konfuzianische Literatur, Beethovens Sinfonien und die Genome der Trilobiten – das gesamte Erbe der Menschheit, Zitadellen, die Arche, den Uterus, alles, was man sich vorstellen kann und was wir je benötigen könnten. Mrs Flowers meinte, es sei genug.
Alle paar Stunden kommen ihr die Fragen auf die Lippen: Bin ich die Letzte, die noch übrig ist? Steuerst du einen fliegenden Friedhof durchs All, mit nur noch einer lebenden Seele an Bord? Aber sie kann sich nicht dazu bringen, sie auszusprechen.
Ihr Vater wartet nur. Er wartet darauf, dass alles sicher ist. Dann wird er die Tür öffnen.