Es ist die fünfte Belagerungswoche, vielleicht auch die sechste, die Tage verschwimmen ineinander. Anna sitzt, Marias Kopf in ihrem Schoß gebettet, an die Wand gelehnt in ihrer Kammer, eine frische Kerze vor sich auf dem Boden zwischen all den weggeschmolzenen Stummeln. Draußen in der Gasse kracht es, ein Pferd wiehert, ein Mann flucht, und es dauert lange, bis sich die Aufregung wieder legt.
«Anna?»
«Ich bin hier.»
Marias Welt hat sich mittlerweile ganz verdunkelt. Ihre Zunge macht nicht mit, wenn sie etwas zu sagen versucht, und alle paar Stunden verkrampfen sich die Muskeln in ihrem Rücken und Nacken. Wenn die acht Stickerinnen, die noch im Haus von Kalaphates schlafen, nicht gerade in stiller Andacht versunken sind, starren sie in konfuser Trance ins Nichts. Anna hilft Chryse im vom Frost verkümmerten Garten oder versucht auf den wenigen noch offenen Märkten an Mehl, Obst oder Bohnen zu ergattern, was noch da ist. Den Rest der Zeit sitzt sie bei Maria.
Sie ist jetzt schneller beim Entziffern der ordentlichen, nach links geneigten Schrift im alten Kodex und vermag ohne Schwierigkeiten ganze Zeilen zu überblicken. Wann immer sie auf ein Wort stößt, das sie nicht kennt, oder Lücken, wo der Schimmel den Text weggefressen hat, erfindet sie Ersatz.
Aethon hat es endlich geschafft, ein Vogel zu werden, nicht die prächtige Eule, wie er gehofft hatte, sondern eine unansehnliche Krähe. Er fliegt über ein endloses Meer und sucht nach dem Ende der Welt, wird aber von einem Wasserwirbel weggefegt. Solange Anna liest, scheint Maria mit sich und der Welt zufrieden, und ihr Gesicht wirkt ruhig, ganz so, als säße sie nicht in einer feuchten Kammer in einer belagerten Stadt und lauschte einer albernen Geschichte, sondern in einem Garten im Jenseits und erfreute sich am Gesang der Engel. Anna muss an etwas denken, das Licinius gesagt hat – dass eine Geschichte eine Möglichkeit ist, die Zeit zu dehnen.
In den Tagen, sagte er, als Barden mit alten Liedern im Kopf von Stadt zu Stadt reisten und sie für alle, die ihnen zuhören wollten, zum Besten gaben, zögerten sie das Ende ihrer Geschichten so lange wie möglich hinaus, erfanden noch einen weiteren letzten Vers, ein weiteres Hindernis, das ihre Helden zu überwinden hatten, weil sie, sagte Licinius, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer eine Stunde länger zu fesseln vermochten, sie vielleicht einen weiteren Becher Wein bekamen, ein weiteres Stück Brot und fanden für eine weitere Nacht eine Unterkunft, die sie vor Regen und Kälte schützte. Anna stellt sich Antonios Diogenes vor, wer immer er gewesen sein mag, wie er Messer und Feder bereitlegt, die Feder in die Tinte taucht, ein weiteres Hindernis vor Aethon aufbaut und die Zeit damit dehnt: um seine Nichte etwas länger in der Welt der Lebenden zu halten.
«Er leidet so sehr», murmelt Maria. «Aber er gibt nicht auf.»
Vielleicht hat Kalaphates recht, vielleicht wohnt in den alten Büchern eine dunkle Magie. Vielleicht halten die Tore der Stadt, solange sie noch Zeilen hat, die sie ihrer Schwester vorlesen kann, solange Aethon seine närrische Reise fortsetzt und seinem Traum in den Wolken entgegenflattert. Vielleicht halten die Tore der Stadt dem Feind so lange noch stand. Vielleicht bleibt der Tod noch einen Tag draußen vor ihrer Tür.
An einem hellen, duftenden Maimorgen, als es sich anfühlt, als verlöre die so gar nicht zur Jahreszeit passende Kälte endlich an Kraft, wird die Hodegetria aus der Kirche geholt, die eigens für sie gebaut worden ist. Es ist die verehrenswerteste Ikone der Stadt, ein Gemälde der Jungfrau mit ihrem Kind auf der einen und der Kreuzigung auf der anderen Seite einer hundertvierzig Kilo schweren Schiefertafel. Wie es heißt, stammt sie vom Apostel Lukas und wurde tausend Jahre vor Annas Geburt von einer Kaiserin aus dem Heiligen Land hierher in die Stadt geholt.
Wenn irgendetwas die Stadt retten kann, dann die immense Macht dieses Objekts, die Ikone aller Ikonen, der schon die Rettung der Stadt während zahlreicher Belagerungen in der Vergangenheit zugeschrieben wurde. Chryse nimmt Maria und bindet sie sich mit einem Tuch auf den Rücken, und zusammen mit den übrigen Stickerinnen gehen sie zum Platz vor der Kirche, um an der Prozession teilzunehmen, und als die Ikone aus der Tür ins Sonnenlicht getragen wird, strahlt sie so hell, dass sie Annas Sicht mit verschwimmenden Goldmustern versieht.
Sechs Mönche heben die Ikone an, legen sie einem massigen Mönch in purpurnem Samt auf die Schultern und binden sie mit einem breiten bestickten Band darauf fest. Unter seiner Last wankend, zieht der Ikonenträger barfuß von Kirche zu Kirche, geht, wohin immer die Hodegetria ihn führt. Zwei Diakone folgen ihm und halten einen goldenen Baldachin über die Ikone, hinter sich Würdenträger mit Stäben, dann Novizen, Nonnen, Bürger, Sklaven und Soldaten. Viele tragen Kerzen und singen ein unheimliches, schönes Lied. Kinder laufen nebenher und halten Rosengirlanden und kleine Stücke Baumwolle, um damit, wie sie hoffen, das Abbild der Jungfrau zu berühren.
Anna und Chryse mit Maria auf dem Rücken folgen der Prozession, während sich die Hodegetria auf den Dritten Hügel zubewegt. Den ganzen Morgen über strahlt die Stadt. Wildblumen bedecken die Ruinen, eine sanfte Brise treibt kleine weiße Blütenblätter über die Pflastersteine. Kastanien winken mit den Elfenbeinkerzen ihrer Blüten. Als sich die Prozession jedoch auf den großen verfallenden Brunnen des Nymphäums zubewegt, verdunkelt sich der Tag. Ein kalter Wind kommt auf, und wie aus dem Nichts ziehen schwarze Wolken heran. Die Tauben hören auf zu gurren, die Hunde beginnen zu bellen. Anna sieht zum Himmel hinauf.
Nicht ein Vogel. Donner rollen über die Häuser. Eine Böe lässt die Hälfte der Kerzen in der Prozession verlöschen, der Gesang gerät ins Stocken. In der entstehenden Stille kann Anna einen fernen Trommler im Lager der Sarazenen hören.
«Schwester?», fragt Maria, die Wange an Chryses Rücken geschmiegt. «Was ist passiert?»
«Ein Gewitter zieht auf.»
Lichtblitze treffen auf die Kuppeln der Hagia Sophia. Bäume werden hin und her geworfen, Fensterläden schlagen im Wind, Hagel prasselt auf die Dächer, und die Prozession fährt auseinander. Ganz vorn reißt der Wind den goldenen, die Jungfrau schützenden Baldachin von seinen Stäben und trägt ihn davon.
Chryse sucht nach einem Unterschlupf, aber Anna bleibt noch einen Moment lang stehen und sieht, wie der Mönch am Kopf der Prozession versucht, die Hodegetria weiter den Hügel hinaufzutragen. Der Wind drängt ihn zurück, bläst Schmutz und Geäst um seine Füße. Dennoch schreitet er voran. Fast erreicht er die Anhöhe. Dann stolpert er, rutscht weg, und das dreizehnhundert Jahre alte Gemälde fällt mit dem Kreuzigungsbild nach unten auf die regennasse Straße.
Agata wiegt sich am Tisch vor und zurück, den Kopf in den Händen. Witwe Theodora murmelt in den kalten Herd hinein. Chryse schimpft und flucht, weil das Unwetter ihren Gemüsegarten vernichtet hat. Die geheiligte Hodegetria hat versagt. Die Muttergottes hat sie vergessen. Das Ungeheuer Apokalypse steigt aus dem Meer auf. Der Antichrist kratzt an den Toren. Die Zeit ist ein Kreis, pflegte Licinius zu sagen, und jeder Kreis muss sich irgendwann schließen. Als es dunkel wird, hockt sich Anna auf ihre Pferdehaarpritsche, bettet Marias Kopf auf ihren Schoß und öffnet das alte Manuskript. Der Sturm treibt Aethon, die Krähe, am Mond vorbei in die Schwärze zwischen den Sternen. Es gibt nicht mehr viel, wohin er noch könnte.
Am selben Nachmittag rumpelt das Ochsengespann hinunter zum Goldenen Horn, um eine weitere Ladung Kanonenkugeln zu holen. Die Luft ist rein gewaschen vom morgendlichen Gewitter, das Delta glitzert blaugrün in der Sonne, und da bleibt Mondlicht stehen, nicht Baum, vergräbt die Vorderbeine unter dem Körper, sinkt zu Boden und stirbt.
Er wird noch um eine Körperlänge mitgezogen, dann hält das Gespann.
Baum steht da in seinem Geschirr, die drei gesunden Beine gespreizt, das Joch schräg vom Gewicht seines Bruders nach unten gezogen. Roter Schaum tropft aus Mondlichts Nüstern, ein kleines weißes Blütenblatt, vom Wind herangetragen, landet auf seinem offenen Auge. Omeir beugt sich über das Geschirr, versucht der großen Kraft des Ochsen mit seiner kleinen auszuhelfen, doch das Herz des Tieres hat aufgehört zu schlagen.
Die Treiber sind es gewohnt, Tiere unter dem Joch zusammenbrechen zu sehen, und sie hocken oder setzen sich an den Straßenrand. Der Truppführer ruft zum Anleger hinunter, und vier Dockarbeiter machen sich auf den Weg.
Baum beugt sich hinab, um es Omeir zu erleichtern, das Joch zu lösen. Die Dockarbeiter und vier Treiber, jeweils zwei Männer pro Bein, ziehen Mondlicht an den Straßenrand, der Älteste von ihnen dankt Gott, zieht sein Messer und schlitzt dem Tier die Kehle auf.
Halfter und Strick in einer Hand, führt Omeir Baum den Weg hinunter ins Schilf am Rand des Bosporus. Durchs grelle Sonnenlicht schwimmen Erinnerungen an Mondlicht als kleines Kalb. Er rieb sich die Rippen so gern an einer speziellen Kiefer neben dem Stall. Wie er es liebte, in den Bach zu waten, bis zum Bauch, und dort vor Vergnügen jauchzte. Beim Versteckspiel war er nicht so gut. Er hatte Angst vor Bienen.
Baums Fell zuckt über seinen Rücken, die Fliegen heben kurz ab und setzen sich wieder. Von hier sehen die Stadt und der sie umgebende Mauergürtel klein aus, sind nicht mehr als ein blasser Stein unter dem Himmel.
Ein paar Hundert Schritte entfernt fachen zwei Dockarbeiter ein Feuer an, während zwei andere Mondlicht zerlegen, den Kopf abtrennen, die Zunge herausschneiden, Herz, Leber und Nieren aufspießen. Die Oberschenkelmuskeln wickeln sie in Fett, treiben ebenfalls Spieße hinein und lehnen sie über das Feuer. Schiffer, Dockarbeiter, Treiber kommen in Gruppen herbei und hocken sich hin, während das Fleisch gart. Zu Omeirs Füßen trinken Hunderte kleine blaue Schmetterlinge Mineralien aus einem Stück Meeresschlamm.
Mondlicht, sein faseriger Schwanz, seine zotteligen Hufe. Gott hat ihn im Leib von Schönheit zusammen mit seinem Bruder zu einem gesunden Kalb werden lassen, er wuchs heran und hat drei Jahre schwere Lasten gezogen, um Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt zu sterben. Für was? Baum legt sich ins Schilf und verpestet die Luft um sich herum, und Omeir fragt sich, was das Tier von alldem versteht, und was wird mit Mondlichts zwei schönen Hörnern geschehen, und jeder Atemzug treibt einen weiteren Riss in sein Herz.
Am Abend scheinen die Kanonen ohne Unterlass zu feuern, schleudern ihre Kugeln gegen Mauern und Türme, und den Männern wird befohlen, so viele Fackeln, Kerzen und Kochfeuer wie nur möglich zu entzünden. Omeir hilft zwei Treibern, Olivenbäume zu fällen und zu einem großen Feuer zu schleppen. Die Ulemas des Sultans gehen von Feuer zu Feuer und ermutigen die Männer. «Die Christen», sagen sie, «sind hinterhältig und anmaßend. Sie beten Knochen an und sterben für Mumien. Sie können nur in Federbetten schlafen und kommen keine Stunde ohne Wein aus. Sie denken, die Stadt gehört ihnen, dabei ist sie längst in unserer Hand.»
Die Nacht wird zum Tag. Mondlichts Fleisch wandert durch die Innereien von fünfzig Männern. Großvater, denkt Omeir, hätte besser gewusst, was zu tun gewesen wäre, hätte bereits die ersten Anzeichen erkannt, hätte sich anders um Mondlichts Hufe gekümmert, hätte eine Medizin aus Kräutern, Balsam und Bienenwachs gekannt. Großvater, der Hinweise auf Federwild sah, wo Omeir nichts erkennen konnte, der Blatt und Nadel mit einem Zungenschnalzen zu lenken vermochte.
Er schließt die Augen vor dem Rauch und erinnert sich an eine Geschichte über einen Mann in der Hölle, die ihm ein anderer Treiber auf den Feldern außerhalb von Edirne erzählt hat. Die Teufel da, sagte er, fügten dem Mann jeden Morgen Schnitte zu, viele Tausend, aber die Schnitte waren so klein, dass sie ihn nicht umbrachten. Den Tag über trockneten die Wunden, verkrusteten, und am nächsten Morgen, als sie gerade zu heilen begannen, wurden sie neu geöffnet.
Nach dem Morgengebet geht er zu Baum auf die Weide, wo er ihn festgemacht hat, und der Ochse kann nicht aufstehen. Er liegt auf der Seite, ein Horn zeigt zum Himmel. Die Welt hat seinen Bruder verschluckt, und Baum ist bereit, ihm zu folgen. Omeir kniet sich hin, streicht dem Tier über die Flanke und sieht den Himmel im zitternden Auge des Ochsen beben.
Sieht Großvater heute Morgen zur selben Wolke hinauf, sehen Nida und ihre Mutter, Baum und er, sehen sie alle fünf gemeinsam hinauf zur selben dahintreibenden weißen Form, während sie über sie hinwegschwebt?
Die Kirchenglocken verkünden nicht länger die Stunden. Anna streift durch die Spülküche, der Hunger in ihrem Leib ist wie eine sich entrollende Schlange, dann tritt Anna in die offene Tür und blickt hinaus in den Garten. Himerius hat immer gesagt, solange der Mond zunimmt, geht die Welt nicht unter. Aber jetzt nimmt er ab.
«Zuerst», murmelt Witwe Theodora in den Herd, «wüten Kriege unter den Menschen der Erde. Dann steigen falsche Propheten auf. Bald schon werden die Sterne vom Himmel fallen, gefolgt von der Sonne, und alles wird zu Asche.»
Marias Beine sind ohne jede Farbe, sie muss zur Toilette getragen werden. Sie sind im letzten Teil des Kodex angelangt, und einige Seiten sind in so schlechtem Zustand, dass nur eine von drei Zeilen zu entziffern ist. Aber Anna lässt Aethons Reise für ihre Schwester weitergehen. Die Krähe flattert durch die Leere, taumelt durch den Tierkreis.
Von diesen ikarischen Höhen, die Federn voller Sternenstaub, sah ich weit unter mir die Erde, wie sie wirklich war, ein kleiner Lehmhaufen in einer riesigen Weite, die Königreiche nichts als Spinnweben, die Armeen nur Krümel. Vom Sturm gezeichnet und versengt, erschöpft und ohne mein halbes Federkleid trieb ich, dem Ende aller Hoffnung nahe, durch die Sternenbilder, als ich fern ein Leuchten sah, die goldene Zeichnung von Türmen, einen Wolkenbausch …
Der Text versiegt, die Zeilen verlieren sich in einem Wasserfleck, doch Anna beschwört sie für ihre Schwester herauf: eine Stadt mit silbernen und bronzenen Türmen, schimmernden Fenstern, auf Dächern flatternden Fahnen, und Vögel jeder Größe und Farbe kreisen darüber. Die müde Krähe senkt sich von den Sternen herab.
Kanonendonner treibt aus der Ferne heran. Die Kerzenflamme krümmt sich.
«Er hört nie auf, daran zu glauben», flüstert Maria. «So müde er auch ist.»
Anna bläst die Kerze aus und schließt den Kodex. Sie denkt an Odysseus, wie er ans Ufer der Phäakeninsel gespült wird. «Er konnte Jasmin zwischen den Sternen riechen», sagt sie, «Veilchen und Lorbeer, Rosen, Birnen und Trauben, Äpfel über Äpfel, zahllose Feigen.»
«Ich rieche sie auch, Anna.»
Neben der Ikone der heiligen Koralia liegt die Schnupftabaksdose, die sie aus dem Arbeitsraum der Italiener mitgenommen hat, auf dem Deckel die Miniatur eines mit Türmen bewehrten Palastes. Es gibt Männer in Urbino, haben die Schreiber gesagt, die machen Linsen, durch die du fünfzig Kilometer weit sehen kannst. Männer, die einen Löwen so echt zu malen verstehen, dass es aussieht, als könnte er aus dem Bild springen und dich fressen.
Unser Herr träumt davon, eine Bibliothek zu errichten, welche die des Papstes noch übertrifft, haben sie gesagt, eine Bibliothek, die jeden jemals geschriebenen Text enthält. Um bis ans Ende der Zeit zu überdauern.
Maria stirbt am siebenundzwanzigsten Mai, die Frauen im Haus stehen um sie herum und beten. Anna legt ihr eine Hand auf die Stirn und fühlt, wie die Wärme aus ihr weicht. «Wenn du sie wiedersiehst», sagt Witwe Theodora, «wird sie in Licht gekleidet sein.» Chryse hebt Marias Körper so leicht an, als wäre sie ein in der Sonne getrocknetes, erstarrtes Stück Stoff, und trägt sie hinüber nach St. Theophanu.
Anna rollt die Samitkapuze zusammen, fünf fertig gestickte Vögel, umgeben von blühenden Ranken, und folgt ihr. Vielleicht vergießt jetzt in einem anderen Universum eine große, helle Gemeinde Tränen, ihre Mutter und ihr Vater, ihre Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, in einer kleinen Kapelle voller Frühlingsrosen, tausend Orgelpfeifen erklingen, und Marias Seele treibt zwischen Putten, Weinstöcken und Pfauen – wie auf dem Bild einer ihrer Stickereien.
Im Katholikon von St. Theophanu halten die Nonnen eine fortwährende Gebetswache bis hinauf zu Gottes Thron. Eine von ihnen zeigt, wo Chryse den Leichnam hinlegen soll, und eine andere bedeckt Maria mit einem Schleier. Anna setzt sich auf die Steine neben ihre Schwester, während der Priester geholt wird.
Nach dem Tod seiner Ochsen zerfällt die Zeit. Er wird mit zwangsverpflichteten Christenjungen und indischen Sklaven zum Latrinendienst befohlen. Sie verbrennen die Fäkalien der Armee. Sie schaufeln sie in Gruben, kippen heißes Pech darüber, und ein paar ältere Jungen und er rühren die üble rauchende Schweinerei mit langen Stangen um, die nach und nach abbrennen und immer kürzer werden. Der Gestank frisst sich in seine Kleider, sein Haar, seine Haut, und bald schon ist es nicht mehr allein Omeirs Gesicht, das die Männer finster dreinblicken lässt.
Raubvögel kreisen über ihnen, überall sind große, gnadenlose Fliegen, und als aus dem Mai Juni wird, gibt es außerhalb der Zelte keinen Schatten mehr. Die große Kanone, die sie unter solchen Anstrengungen hergebracht haben, reißt schließlich, und die Verteidiger geben es auf, ihre zerschossenen Palisaden zu reparieren. Alle spüren, dass der Kampf auf der Kippe steht. Entweder kapituliert die hungernde Stadt, oder die Osmanen ziehen sich zurück, bevor Krankheit und Hoffnungslosigkeit außer Kontrolle geraten.
Die Jungen in Omeirs Kompanie sagen, der Sultan, möge Gott ihn segnen und sein Königreich erhalten, glaube, der entscheidende Moment sei gekommen. Die Mauern sind an vielen Stellen geschwächt, die Verteidiger erschöpft, und ein letzter Ansturm wird das Gleichgewicht kippen lassen. Die besten Kämpfer, heißt es, werden zurückgehalten, während sie, die am schlechtesten ausgerüsteten und ausgebildeten, vorneweg über den Graben geschickt werden sollen, um die Verteidiger zu schwächen. Wir werden zwischen einem Hagelsturm aus Steinen und kochendem Teer von oben und den Messern und Peitschen der Janitscharen des Sultans hinter uns aufgerieben werden, flüstert ein Junge, aber ein anderer sagt, Gott werde ihnen da hindurchhelfen, und sollten sie sterben, werde ihr Lohn im nächsten Leben unbeschreiblich sein.
Omeir schließt die Augen. Wie großartig es sich angefühlt hat, wenn Neugierige stehen blieben und die Größe und Kraft von Baum und Mondlicht bestaunten. Als die Männer zu Tausenden kamen, um die schimmernde Kanone zu berühren. Eine Art, wie ein kleines Ding ein viel größeres zerstören kann. Aber was haben sie zerstört?
Maher sitzt neben ihm, zieht sein Messer aus der Scheide und kratzt mit dem Fingernagel am Rost auf der Klinge. «Ich habe gehört, dass sie uns morgen losschicken. Bei Sonnenuntergang.» Mahers Ochsen sind auch schon lange tot, und seine Augen liegen tief in ihren Höhlen. «Es wird wunderbar», sagt er, klingt aber nicht überzeugt. «Wir werden ihre Herzen mit Schrecken erfüllen.»
Die Bauernsöhne um sie herum haben Schilde, Knüppel, Speere, Äxte und Reiterhämmer – manche sitzen auch nur mit Steinen da. Omeir ist so müde. Es wird eine Erlösung sein zu sterben. Er denkt an die Christen, die oben auf der Mauer sitzen, die betenden Menschen in den Häusern und Kirchen der Stadt, und er fragt sich, es ist mysteriös, wie ein einziger Gott mit den Gedanken und Ängsten so vieler Leute umgehen kann.
In der Nacht geht sie zu den Frauen und Mädchen in den Raum zwischen innerer und äußerer Mauer und hilft, Steine auf die Brüstung zu hieven, damit sie den Sarazenen auf die Köpfe geworfen werden können, wenn sie kommen. Alle haben Hunger und zu wenig ausgeruht. Niemand singt mehr Kirchenlieder oder spricht den anderen Mut zu. Kurz vor Mitternacht schleppt eine Gruppe Mönche eine hydraulische Orgel auf die äußere Mauer, und sie produzieren ein schrecklich keifendes Ächzen, als sterbe da ein fürchterliches Ungeheuer in der Nacht.
Wie überzeugen sich Männer davon, dass andere sterben müssen, damit sie leben können? Sie denkt an Maria, der so wenig gehört hat und die so leise gegangen ist, an Licinius, der ihr von den Griechen erzählt hat, die zehn Jahre vor Troja lagen, und den hinter den Mauern gefangenen, voller Sorgen an ihren Webstühlen sitzenden trojanischen Frauen, die sich fragten, ob sie je wieder auf die Felder würden hinausgehen oder im Meer schwimmen könnten. Oder ob die Stadt fallen sollte und sie zusehen müssten, wie man ihre Babys nahm und über die Mauer warf, in den Tod?
Sie arbeitet bis Tagesanbruch, und als sie zurück nach Hause kommt, sagt Chryse, sie soll in den Hof gehen. Dann kommt die Köchin mit einem Stuhl in der einen und Witwe Theodoras Schere mit den Elfenbeingriffen in der anderen Hand heraus, Anna setzt sich, Chryse zieht ihr das Haar nach hinten, nimmt die Schere, und einen Moment lang fürchtet Anna, sie werde ihr die Kehle durchschneiden.
«Heute oder morgen», sagt Chryse, «wird die Mauer fallen.»
Anna hört die Schere und spürt, wie ihr die Haare auf die Füße fallen.
«Bist du sicher?»
«Ich habe das geträumt, mein Kind, und wenn es so weit ist, werden die Soldaten an sich bringen, was sie in die Hände bekommen. Essen, Silber, Seide. Aber das Wertvollste sind Mädchen.»
Anna sieht den jungen Sultan vor sich, irgendwo zwischen den Zelten seiner Männer. Er sitzt auf einem Teppich und hält ein Modell der Stadt auf dem Schoß, erforscht es mit seinem Finger, untersucht jeden Turm, jede Zinne, jeden Stein in der Mauer, um einen Weg hinein zu finden.
«Sie ziehen dich nackt aus und behalten dich entweder für sich oder bringen dich auf einen Markt und verkaufen dich. Ob sie es sind oder wir, es ist immer das Gleiche in einem Krieg. Weißt du, woher ich das weiß?»
Die Klingen gleiten so nahe an ihren Augen vorbei, dass Anna Angst hat, ihren Kopf zu bewegen.
«Weil es mir selbst so ergangen ist.»
Das Haar frisch geschoren, isst Anna sechs grüne Aprikosen, legt sich mit schmerzendem Magen hin und sinkt in den Schlaf. In einem Albtraum geht sie durch ein gewaltiges Atrium mit einem Gewölbe so hoch, dass es den Himmel zu stützen scheint. Auf Etagen voller Regale links und rechts stehen Hunderte, Aberhunderte Texte, es ist wie eine Bibliothek der Götter, aber immer, wenn sie eines der Bücher öffnet, findet sie darin nur Worte in einer Sprache, die sie nicht kennt, ein unverständliches Wort nach dem anderen, nach welchem Buch sie auch greift, in welchem Regal sie es auch probiert. Sie sucht und sucht, und es ist immer das Gleiche, die Bibliothek ist so unlesbar wie unendlich, das Geräusch ihrer Schritte in der immensen Weite kaum zu hören.
Es dämmert am fünfundfünfzigsten Abend der Belagerung. Im Blachernae-Palast am Goldenen Horn sammelt der Kaiser seine Hauptmänner zum Gebet um sich. Überall auf der äußeren Mauer zählen die Wachen ihre Pfeile und stochern die Feuer unter den großen Teerkannen an. Auf der anderen Seite des Grabens, im privaten Zelt des Sultans, entzündet ein Diener sieben Kerzen, eine für jeden Himmel, zieht sich zurück, und der junge Souverän kniet nieder zum Gebet.
Über dem Vierten Hügel der Stadt, oberhalb der ehedem bedeutenden Stickerei des Kalaphates, fängt ein hoch über die Dächer aufgestiegener Schwarm Möwen die letzten Sonnenstrahlen ein. Anna erhebt sich von ihrer Pritsche, überrascht, dass sie den Tag verschlafen hat.
In der Spülküche treten die verbliebenen Stickerinnen, von denen keine jünger als fünfzig ist, vom Herd zurück, damit Chryse Teile eines Nähtischs hineinstecken kann. Witwe Theodora kommt herein mit dem Arm voller etwas, das wie Schwarze Tollkirschen aussieht. Sie entfernt die Blätter, gibt die schwarz schimmernden Beeren in eine Schüssel und die Wurzeln in einen Mörser. Während sie die Wurzeln zerstößt, erklärt Witwe Theodora, dass ihre Körper nur Staub sind und sich ihre Seelen ihr ganzes Leben schon nach einem ferneren Ort sehnen. Jetzt, da sie so nahe daran seien, sagt Witwe Theodora, zitterten ihre Seelen vor Freude über die Aussicht, die Hülle ihrer Körper zu verlassen, um heim zu Gott zu gelangen.
Das letzte Blau des Tages wird von der Nacht verschluckt. Die Gesichter der Frauen nehmen im Licht des Feuers eine Aura uralten Leidens an, die fast schon erhaben ist. Als hätten sie immer schon erwartet, dass die Dinge einmal so enden würden und als fügten sie sich dem. Chryse ruft Anna in den Vorratsraum und zündet eine Kerze an. Sie gibt ihr ein paar Streifen gepökelten Stör und einen in ein Tuch gehüllten Laib dunkles Brot.
«Wenn je ein Kind geboren worden ist», flüstert Chryse, «das sie überlisten, überdauern, ihnen entkommen kann, bist du das. Es gibt immer noch ein Leben für dich. Geh heute Nacht, und ich werde dir lauter Gebete hinterherschicken.»
Sie kann Witwe Theodora in der Spülküche sagen hören: «Wir lassen unsere Körper in dieser Welt zurück, damit wir in die nächste fliegen können.»
Als es dunkel wird, beten Jungen überall um ihn herum, denen ihre Körper noch fremd sind, sorgen sich, schärfen ihre Messer, schlafen. Jungen, die aus Wut hierhergelangt sind, aus Neugier, durch Mythen oder ihren Glauben verleitet, aus Gier, unter Zwang. Einige mit dem Traum von Ruhm und Ehre in diesem oder dem zukünftigen Leben, andere wollen einfach nur Gewalt ausüben, sich an denen rächen, denen sie die Schuld an ihren Leiden geben. Männer träumen ebenfalls, wollen sich vor Gott als aufrecht erweisen, die Liebe ihrer Kameraden verdienen und in ihr vertrautes Zuhause zurückkehren. Wünschen sich ein Bad, eine sie liebende Frau, ein Glas sauberes, kühles Wasser.
Draußen vor den Zelten der Kanoniere, wo er sitzt, kann Omeir sehen, wie das Mondlicht die Kuppeln der Hagia Sophia erfasst. Näher wird er ihr nie kommen. Feuer brennen auf den Wachtürmen, und aus dem östlichsten Teil der Stadt steigt eine weiße Wolke auf. Der Abendstern hinter ihm wird immer heller. Er denkt an seinen Großvater, und wie er von den Vorzügen der Tiere gesprochen hat, über das Wetter, die Eigenschaften von Gras. Großvaters Geduld gleicht der von Bäumen. Es ist erst ein halbes Jahr her, und doch scheinen jene Abende unendlich fern.
Während er so dort sitzt, gleitet seine Mutter zwischen Tieren und Zelten heran, legt ihm eine Hand auf die Wange und lässt sie dort liegen. Was kümmern mich, flüstert sie, Städte, Prinzen und Geschichten?
Er ist noch ein Junge, hat der Großvater dem Reisenden und seinem Diener erklärt.
Das denken Sie heute, doch seine wahre Natur wird sich bald schon zeigen.
Vielleicht hatte der Diener ja recht, vielleicht beherbergt Omeir einen Dämon in sich. Einen Ghul oder Magier. Etwas Schreckliches. Er spürt, wie sich etwas in ihm bewegt und aufwacht. Sich streckt, sich die Augen reibt und gähnt.
Steh auf, sagt dieses Etwas. Geh nach Hause.
Er legt sich Mondlichts Strick und das Geschirr über die Schulter und steht auf. Steigt über den auf der nackten Erde schlafenden Maher hinweg. Bahnt sich einen Weg zwischen den verängstigten jungen Leuten hindurch.
Komm zurück zu uns, flüstert seine Mutter, und um ihren Kopf schwimmt eine Wolke Bienen.
Er umgeht eine Gruppe Trommler, die Schwirrgeräte aus Ochsenleder dabei haben und sich weiter vor zu den ersten Reihen bewegen. Passiert eine Schmiede mit ihren Ambossen und Schürzen. Pfeil- und Bogenmacher. Es ist, als hätte Omeir ein Joch auf den Schultern getragen, wäre vor einen Wagen voller Steinkugeln gespannt gewesen, und als würde die Last mit jedem Schritt, der ihn weiter von der Stadt entfernt, leichter und leichter. Als blieben die Kugeln hinter ihm zurück.
Umrisse von Pferden, Zelten und Karren tauchen aus der Dunkelheit auf. Sieh niemanden an. Du hast gelernt, dein Gesicht zu verstecken.
Er fällt über eine Zeltleine, steht wieder auf, weicht dem Licht der Feuer aus. Jeden Moment, denkt er, wird mich jemand fragen, was ich hier mache, zu welcher Einheit ich gehöre, warum ich in die falsche Richtung laufe. Jeden Moment wird mich ein Militärpolizist des Sultans mit seinem langen Säbel auf seinem Pferd anhalten und mich einen Deserteur nennen. Aber die Männer schlafen, beten, reden murmelnd miteinander oder sind in ihren Gedanken über den bevorstehenden Angriff versunken. Niemand scheint ihn zu bemerken. Vielleicht nehmen sie an, dass er unterwegs zu den Pferchen ist, um nach einem der Tiere zu sehen. Vielleicht, denkt er, bin ich schon tot.
Er behält die Straße nach Edirne zu seiner Rechten. Hinter der Lagergrenze wachsen die Frühlingsgräser brusthoch, der Ginster ragt gelb auf, und es ist leicht, sich dahinter wegzuducken, während er weiter voranschreitet. Im Lager erreichen die Trommler die vordersten Reihen, lassen doppelköpfige Stöcke über ihren Köpfen Achter beschreiben und beginnen dann so schnell auf ihre Trommeln zu schlagen, dass es weniger ein Puls als ein fortdauerndes Tosen ist.
Überall im osmanischen Lager hämmern die Soldaten mit ihren Waffen gegen ihre Schilde. Omeir erwartet, dass Gott einen Lichtblitz durch eine Wolkenlücke schickt und ihn als das entlarvt, was er ist, ein Verräter, ein Feigling, ein Abtrünniger. Ein Junge mit dem Gesicht eines Ghuls und dem Herzen eines Dämons. Ein Junge, der seinen eigenen Vater umgebracht hat. Der, als man ihn in die Berge gebracht hat, um zu sterben, den eigenen Großvater verhext hat, damit er ihn wieder mitnehme. Alles, was die Dorfbewohner von Beginn an geahnt haben, erweist sich als wahr.
In der Finsternis zieht er keine Aufmerksamkeit auf sich. Der Lärm der Trommeln, Becken und Stimmen hinter ihm schwillt weiter an. Jeden Moment wird die erste Welle über den Graben geschickt.
Selbst noch ins kilometerweit entfernte Haus des Kalaphates dringt der Trommellärm: der Zeigefinger des Sultans, selbst eine Waffe, fährt forschend durch Straßen und Gassen, sucht, sucht, sucht. Anna blickt zur Spülküche zurück, wo Witwe Theodora den Mörser mit den zerdrückten Tollkirschen in den Händen hält. Im Dunkel zieht Kalaphates Maria an den Haaren den Korridor hinunter, vorbei an ihren Füßen, und sie sieht Licinius’ gefleckte Seiten in Flammen aufgehen.
Ein schlecht gelaunter Abt, sagte der große Schreiber, ein tollpatschiger Bruder, ein einfallender Barbar, eine umfallende Kerze, ein hungriger Wurm – und was all die Jahrhunderte überdauert hat, ist verloren. Du kannst dich tausend Jahre lang an diese Welt klammern, und doch wirst du mit einem Schlag aus ihr herausgeholt.
Sie wickelt den alten Ziegenlederkodex und die Schnupftabaksdose in Marias Seidenkapuze und steckt alles in Himerius’ Sack. Das Brot und der gepökelte Fisch kommen obenauf. Das ist alles, was sie auf dieser Welt besitzt.
Draußen auf der Straße vermischt sich das Trommeln mit fernen Schreien: Der entscheidende Angriff hat begonnen. Sie eilt hinunter zum Hafen. Aus manchen Häusern dringt kein Lebenszeichen, während in anderen etliche Lampen brennen, als hätten sich die Bewohner entschlossen, auch noch das Letzte, was sie besitzen, aufzubrauchen und den Eindringlingen nichts zu hinterlassen. Einzelheiten treten hell und klar hervor: Die jahrhundertealten Rillen der Kutschräder in den Pflastersteinen vor dem Philadelphion. Grüne Farbe, die von der Tür eines Schreiners blättert. Der Wind trägt Blütenblätter aus einem Kirschbaum und lässt sie durchs Mondlicht taumeln. Das alles sieht sie womöglich zum letzten Mal.
Ein einzelner pechbedeckter Pfeil trifft auf ein Dach, scheppert hinunter aufs Pflaster und qualmt. Ein Kind, nicht älter als sechs, taucht aus einem Hauseingang auf, nimmt ihn hoch und hält ihn wie etwas vor sich, das man essen könnte.
Die Kanonen des Sultans feuern, drei, fünf, sieben, und in der Ferne wächst der Lärm. Ist es so weit? Durchbrechen sie die Tore? Der Turm des Belisarius, unter dem sie sich für gewöhnlich mit Himerius traf, ist dunkel, das kleine Fischertor unbesetzt, alle Wachen sind abkommandiert, um die Schwachstellen der Mauern zum Land hin zu schützen.
Sie hält den Sack an sich gedrückt. Nach Westen, denkt sie, das ist alles, was sie weiß, nach Westen, wo die Sonne untergeht, über die Propontis, und in ihrem Kopf scheinen Bilder der gesegneten Insel Scheria auf, vom hellen Öl und weichen Brot Urbinos und von Aethons Stadt in den Wolken, ein Paradies vermischt sich mit dem nächsten. Es gibt sie, hat Aethon, der Fisch, dem Zauberer im Wal erklärt. Auch wenn du nicht an sie glaubst, ich schon. Wofür sonst war das alles gut?
Sie findet Himerius’ Boot am gewohnten Platz auf dem Kiesstrand, die letzte seetüchtige Nussschale der Welt. Ein Schreck: Was, wenn die Ruder nicht da sind? Aber sie sind unter dem Boot verstaut, da, wo er sie immer hingelegt hat.
Der Rumpf schabt gefährlich laut über die Steine. Im seichten Wasser treiben Umrisse wie Leiber. Sieh nicht hin. Das Boot schwimmt, sie steigt hinein und geht auf die Knie, den Sack vor sich auf der Ruderbank. Sie zieht am rechten, dann am linken Ruder und macht kleine diagonale Bewegungen auf die Mole zu. Die Nacht bleibt zum Glück finster.
Drei auf dem Wasser auf und ab tanzende Möwen treiben an ihr vorbei. Eine Glückszahl, hat Chryse immer gesagt. Vater, Sohn und Heiliger Geist. Geburt, Leben und Tod. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Sie vermag das Boot nicht in einer geraden Linie zu halten, und der Lärm, den die Ruder in den Dollen machen, ist auch viel zu groß. Erst jetzt erkennt sie Himerius’ Geschick. Aber mit jedem Herzschlag scheint sich die Küste weiter zu entfernen, und sie rudert weiter, das Meer im Rücken, die Stadtmauer vor sich, sieht auf das, was sie bereits hinter sich gebracht hat.
Als sie sich der Mole nähert, legt sie eine Pause ein, um mit dem Tonkrug Wasser aus dem Boot zu schöpfen, wie es Himerius immer getan hat. Irgendwo in der Stadt wird es hell. Ein Sonnenaufgang am falschen Ort zur falschen Zeit. Seltsam, dass Leiden schön aussehen kann, wenn du nur weit genug entfernt bist.
Sie klammert sich an die Worte von Himerius: Je nach den Gezeiten gibt es hier eine Strömung, die dich geradewegs hinaus aufs Meer trägt. Das wäre genau das, was sie jetzt braucht.
Direkt vor dem Bug, in der Dünung vor der Mole, sieht sie etwas Langes, Dunkles. Ein Schiff. Ist es ein Sarazene oder ein Grieche? Ruft der Kapitän gerade seinen Ruderern etwas zu? Richten die Kanoniere ihre Geschütze aus? Sie macht sich so klein, wie sie nur kann, duckt sich tief ins Boot, den Sack vor der Brust. Kaltes Wasser schwappt an ihren Rücken, und nun verlässt Anna doch der Mut. Angst sickert durch tausend Risse in sie hinein, Tentakel wachsen aus der Düsternis rings um ihr Boot, und Kalaphates’ Geieraugen blicken vom sternenlosen Himmel auf sie herab.
Mädchen gehen nicht zu Lehrern.
Du warst das? Die ganze Zeit?
Die Strömung ergreift das kleine Boot und trägt es davon. Sie denkt daran, wie sich Aethon gefühlt haben muss, gefangen in all diesen verschiedenen Körpern, unfähig, seine Sprache zu sprechen, misshandelt, verspottet. Es war ein schreckliches Schicksal, und es war grausam, darüber zu lachen.
Niemand ruft, keine Pfeile sirren vorbei. Das Boot dreht sich, schwankt und treibt durch die Mole hinaus in die Dunkelheit.