Die Argos

Missionsjahr 64
Tag 45–46 in Gewölbe Eins

Konstance

Sie steht allein in der Bibliothek, nimmt einen Zettel vom nächsten Tisch, schreibt Wolkenkuckucksland von Antonios Diogenes darauf und wirft ihn in den Schlitz. Aus etlichen Bereichen schießen Dokumente zu ihr herunter und ordnen sich in einem Dutzend Stapel. Das meiste sind akademische Abhandlungen auf Deutsch, Chinesisch, Französisch und Japanisch. Fast alle scheinen aus den Zehnerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu stammen. Sie schlägt das erste englische Buch auf: Ausgewählte alte griechische Erzählungen.

Im Jahr 2019 versetzte die Entdeckung der alten griechischen Erzählung Wolkenkuckucksland in einem schwer beschädigten Kodex in der vatikanischen Bibliothek kurzzeitig die griechisch-römische Gelehrsamkeit in Aufregung. Aber ach, was die Archivare an Text zu retten vermochten, ließ viel zu wünschen übrig: vierundzwanzig geschundene Tafeln, alle zu einem gewissen Grad beschädigt. Chronologie-Probleme und reichlich Lücken.

Aus dem nächsten Band treten die dreißig Zentimeter großen Projektionen zweier Männer, die sich auf gegenüberstehenden Podien platzieren. Es ist ein Text, sagt der Erste, ein Mann mit Fliege und silbergrauem Bart, der für eine einzige Leserin gedacht war, ein junges Mädchen auf dem Totenbett, und deshalb ist es eine Geschichte über die Angst vor dem Tod …

Falsch, sagt der zweite Sprecher, der ebenfalls einen silbergrauen Bart hat und eine Fliege trägt. Diogenes wollte mit Gedanken des Pseudo-Dokumentarismus spielen, mit Fiktion auf der einen Seite und Sachliteratur auf der anderen, indem er behauptete, die Geschichte sei das echte Transkript eines Manuskripts, das in einem Grab gefunden wurde, während er mit dem Leser übereinkam, dass die Geschichte natürlich erfunden war.

Konstance klappt das Buch zu, und die Männer verschwinden. Der nächste Titel scheint dreihundert Seiten auf die Untersuchung der Frage zu verwenden, woher die Tinte des Kodex stammen und sie ihren Farbton haben könnte. Ein weiterer ergeht sich in Spekulationen über das Baumharz, das auf einigen Seiten gefunden worden ist. Dann gibt es einen nervtötenden Bericht über die verschiedenen Versuche, die geretteten Tafeln in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Konstance stützt den Kopf in die Hände. Die Übersetzungen der Tafeln, die sie in den Stapeln finden kann, verwirren sie vor allem: Entweder sind sie todlangweilig, umständlich, enthalten tausend Fußnoten oder sind so bruchstückhaft, dass sie kaum einen Sinn ergeben. Sie kann die Grundzüge von Vaters Geschichten erkennen: Aethon kniet auf dem Boden im Schlafzimmer einer Hexe, Aethon wird zu einem Esel, der Esel fällt in die Hände von Banditen, die das Gasthaus ausrauben – aber wo sind die lustigen Zaubersprüche und die Tiere, die Mondmilch trinken, wo ist der heiße Sonnenfluss voll Wein? Wo steht was von den Schreien, die Vater nachgemacht hat, als Aethon eine Möwe für eine Göttin hält? Wo ist das Knurren des Zauberers im Wal?

Sie blickt noch einmal auf die Stapel vor sich, und die Hoffnung, die sie eben noch gespürt hat, erlahmt. All diese Bücher, all dieses Wissen, wofür ist das alles gut? Nichts davon hilft ihr zu verstehen, warum ihr Vater sein Zuhause verlassen hat. Warum sie dieses Schicksal erleidet.

Sie nimmt einen Zettel und schreibt: Zeig mir das blaue Buch mit der Zeichnung einer Stadt draußen auf dem Einband.

Ein Blatt Papier kommt heruntergeflattert. Die Bibliothek enthält kein solches Buch.

Konstance lässt den Blick an den endlosen Regalen entlangwandern. «Aber ich dachte, in dir gibt es alles?»

Ein weiteres NoLight, ein weiteres gedrucktes erstes Essen. Dann steigt sie zurück in den Atlas, sinkt hinab in die sonnenverbrannten Hügel um Nannup und geht die Backline Road zum Haus ihres Vaters hinauf. Σχερία steht auf dem handgemalten Schild.

Sie hockt sich hin, dreht sich, schiebt sich so nahe ans Haus heran wie nur möglich, der Blick durchs Fenster zerfällt zu einem zitternden Feld aus Farben. Das Buch auf dem Nachttisch ist königsblau. Die Wolkenstadt in der Mitte des Einbands scheint von der Sonne ausgebleicht. Sie reckt sich, hebt sich auf die Zehen, blinzelt. Unter dem Namen Diogenes stehen noch vier kleine Worte, die sie beim ersten Mal übersehen hat.

Übersetzt von Zeno Ninis.

In den Himmel, aus dem Atlas, zurück ins Atrium. Sie nimmt einen Zettel vom nächsten Tisch und schreibt: Wer war Zeno Ninis?