London! Mai! Rex! Er lebt! Hundert Mal betastet er das Briefpapier, atmet seinen Geruch ein. Er kennt diese Handschrift, die oben ein wenig eingedrückt wirkt, so als hätte jemand auf die Zeilen getreten: Wie oft hat er diese Schrift im Frost und in der Erde von Korea gesehen?
Was für ein absolutes Wunder, gleichzeitig drei Briefe von dir zu bekommen.
Du könntest doch kommen, wenn es geht?
Wirklich ein absolutes Wunder. Alle paar Minuten erfasst Zeno eine neue Leichtigkeit, als purzelten da Felsbrocken aus einem Rucksack, von dem er gar nicht wusste, dass er ihn mit sich schleppte. Da ist dieser Name, Hillary, aber was soll’s? Wenn Rex eine Hillary gefunden hat, gut für ihn. Er hat es aus Korea herausgeschafft. Er lebt. Und er lädt Zeno zu «einer kleinen Feier» ein.
Er stellt sich Rex in einem wollenen Anzug vor, in einem beschaulichen Garten, wie er den Brief schreibt. Tauben gurren, Hecken rascheln, Uhrentürme ragen hinter Eichen in den nassen Himmel auf. Die elegante, matronenhafte Hillary kommt mit Tee heraus.
Nein, es ist besser ohne sie.
Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du es hinausgeschafft hast.
Eine Art Urlaub.
Er wartet, bis Mrs Boydstun einkaufen geht, und ruft dann ein Reisebüro in Boise an, flüstert Fragen in den Hörer, als beginge er ein Verbrechen. Als er Amanda Corddry vom Highway Department sagt, dass er sich im Mai Urlaub nehmen wird, macht sie große Augen.
«Nun, Zeno Ninis, das haut mich um. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast dich verliebt.»
Mit Mrs Boydstun ist es schwieriger. Alle paar Tage lässt er es ins Gespräch einfließen, als löffelte er Zucker in ihren Kaffee. London, im Mai, ein Freund aus dem Krieg. Und alle paar Tage gelingt es Mrs Boydstun, etwas von ihrem Essen vom Teller rutschen zu lassen, Kopfschmerzen zu bekommen oder einen neuen Tremor in ihrem linken Bein zu entdecken und das Gespräch zu beenden.
Rex schreibt zurück. Hocherfreut. Klingt, als kämst du zur Unterrichtszeit an. Hillary wird dich abholen, und der März vergeht, dann der April. Zeno legt seinen einzigen Anzug bereit, seine grün gestreifte Krawatte. Mrs Boydstun zittert unten an der Treppe in ihrem Morgenrock. «Du wirst doch nicht wirklich eine kranke Frau alleinlassen? Was für ein Mann bist du?»
Über den Kiefern draußen wölbt sich blau der Himmel. Er schließt die Augen. Die Jahre vergehen im Flug, hat Rex geschrieben. Wie viel mehr steht zwischen den Zeilen? Geh jetzt oder sag nie wieder etwas.
«Es sind insgesamt nur acht Tage.» Zeno verschließt seinen Koffer. «Ich habe die Schränke gefüllt. Extra Zigaretten gekauft, und Trish hat versprochen, dass sie jeden Tag nach dir sieht.»
Während der Flüge verbrennt er so viel Adrenalin, dass er, als er in Heathrow ankommt, praktisch halluziniert. Als er aus der Passkontrolle kommt, sieht er sich nach einer Engländerin um, doch da fasst ihn ein Zwei-Meter-Mann mit vorzeitig ergrautem Haar und einer aprikosenfarbenen Schlaghose am Arm.
«Oh, du bist ja ein Schokostück», sagt der Riese und haucht ihm Küsse auf die Wangen. «Ich bin Hillary.»
Zeno klammert sich an seinen Koffer und versucht zu verstehen. «Woher wusstest du, dass ich es bin?»
Hillary lässt die Eckzähne sehen. «Reine Intuition.»
Er nimmt Zeno den Koffer ab und steuert ihn durch die Menge. Hillary scheint unter seiner blauen Weste so etwas wie eine bestickte Bluse mit Pailletten hier und da auf den Ärmeln zu tragen. Und hat er wirklich grün lackierte Fingernägel? Kann ein Mann sich hier so anziehen? Und doch scheint ihm, während er mit seinen Stiefeln durch das Terminal klackert und sie sich draußen durch Busse und Taxis hindurchwinden, keiner Beachtung zu schenken. Sie klettern in einen hosentaschengroßen, weinfarbenen Zweitürer, etwas, das sich Austin 1100 nennt. Hillary besteht darauf, Zeno die Tür aufzuhalten, geht hinten ums Auto herum und schiebt seinen Körper hinter das Steuer auf der rechten Seite, die Knie praktisch an den Zähnen, während er die Pedale betätigt. Er stößt mit dem Kopf ans Autodach, und Zeno versucht, nicht zu hyperventilieren.
London ist rauchgrau und endlos. Hillary plaudert: «Rechts liegt Brentford, ein alter Wichserfreund wohnte direkt da drüben. Großer, unartiger Junge. Rex ist in einer Stunde mit der Schule fertig, wir überraschen ihn zu Hause. Das da ist übrigens der Gunnersbury Park.»
Parkuhren, kriechender Verkehr, rußverschmutzte Fassaden. Wrigleys Spearmint, Gold Leaf – eine der besten Zigaretten, Bier, Schnaps, Wein. Sie parken vor einem von der Sonne abgewandten Backsteinhaus in Camden. Keine Gärten, keine Hecken, keine trillernden Grünfinken. Keine matronenhafte Frau mit Tee. Ein Flugblatt, vom Regen auf den Gehsteig geklebt: So zahlen Sie problemlos. «Wir gehen rauf», sagt Hillary und beugt sich wie ein biegsamer Baum durch die Tür. Er trägt Zenos Koffer vier Etagen hoch, seine langen Beine lassen jede zweite Stufe aus.
Die Wohnung scheint zweigeteilt. Auf der einen Seite ordentliche Bücherregale, auf der anderen Wandbehänge, Fahrradrahmen, Kerzen, Aschenbecher, Messingelefanten, abstrakte Gemälde, die Farbe dick aufgetragen, tote Topfpflanzen – alles wie von einem Wirbelsturm zu lauter Haufen aufgetürmt. «Machs dir gemütlich, ich weich mal ein paar Blätter ein», sagt Hillary, zündet sich eine Zigarette an der Gasflamme an und stößt einen gigantischen Seufzer aus. Keine Falte auf der Stirn, leuchtende Wangen. Als Zeno und Rex in Korea waren, kann er nicht älter als fünf gewesen sein.
Vom Plattenspieler ertönen überschwängliche Stimmen: Love Grows Where My Rosemary Goes, und die Erkenntnis kommt wie ein Schlag: Rex und Hillary leben zusammen. In einer Zweizimmerwohnung.
«Setz dich, setz dich.»
Zeno setzt sich an den Tisch, die Musik ist überall, Verwirrung und Erschöpfung erfassen ihn. Hillary duckt sich unter Lampen durch, als er die Platte umdreht, und schnipst seine Asche in einen Blumentopf.
«Es ist so toll, dass mal einer von Rex’ Freunden zu Besuch kommt. Das gibts eigentlich gar nicht. Manchmal denke ich, er hatte überhaupt keine, bevor wir uns kennengelernt haben.»
Schlüsselklingeln an der Tür, Hillary hebt eine Braue, und ein Mann kommt herein. Er trägt einen Regenmantel, Galoschen, sein Gesicht hat die Farbe von Frischkäse, ein kleiner Bauch ragt über den Gürtel, die Brust ist eingefallen, die Brille beschlagen, die Sommersprossen scheinen verblasst, sind aber nicht weniger geworden. Es ist Rex.
Zeno streckt eine Hand aus, Rex umarmt ihn.
Seine Gefühle drohen Zeno zu übermannen. «Der Jetlag», sagt er und wischt sich über die Augen.
«Natürlich.»
Endlos weit über ihnen schnipst sich Hillary mit einem eingerissenen grünen Fingernagel eine Träne von der Wange. Er füllt zwei Tassen mit schwarzem Tee, stellt einen Teller mit Keksen auf den Tisch, schaltet den Plattenspieler aus, zieht einen großen lila Regenmantel an und sagt: «Also, dann lass ich euch zwei alte Kumpel mal allein.» Zeno hört zu, wie er, einer großen farbigen Spinne gleich, die Treppe hinuntereilt.
Rex schlüpft aus seinem Mantel und den Schuhen. «Du fährst also einen Schneepflug?» Die Wohnung scheint auf dem Rand einer Klippe zu wippen. «Und ich lese immer noch Jungs Bronzezeitgedichte vor, die sie nicht hören wollen.»
Zeno knabbert an einem Keks. Er möchte Rex fragen, ob er sich je gewünscht hat, wieder in Lager Fünf zu sein, ob er sich je nach den Stunden sehnt, da sie zu zweit im Licht der durch die Latten sickernden Sonne hinter dem Küchenschuppen gesessen und Buchstaben in die Erde gekratzt haben – eine perverse Art von Heimweh. Aber sich zu wünschen, wieder in einem Gefangenenlager zu sein, ist irrwitzig, und Rex erzählt von seinen Schülern und seinen Abstechern nach Nordägypten, um die Müllhalden der Alten zu durchkämmen. All die Jahre, all die Kilometer, so viel Hoffnung und Angst, und jetzt hat er Rex ganz für sich und weiß nach fünf Minuten schon nicht mehr weiter.
«Du schreibst ein Buch?»
«Eins habe ich schon geschrieben.» Rex zieht einen braunen Band mit schlichter blauer Schrift vorn aus einem der Regale. Kompendium verlorener Bücher. «Wir haben, glaube ich, zweiundvierzig Exemplare verkauft, sechzehn davon an Hillary.» Er lacht. «Wie sich herausstellt, will niemand ein Buch über Bücher lesen, die es nicht mehr gibt.»
Zeno streicht mit dem Finger über Rex’ Namen. Bücher waren für ihn immer etwas wie Wolken oder Bäume, Dinge, die einfach da waren und in den Regalen der Stadtbibliothek von Lakeport standen. Aber jemanden zu kennen, der eines geschrieben hat? «Nimm nur die Tragödien», sagt Rex. «Wir wissen, im fünften Jahrhundert wurden in griechischen Theatern wenigstens tausend geschrieben und aufgeführt. Was denkst du, wie viele es davon noch gibt? Zweiunddreißig. Sieben von den einundachtzig von Aischylos. Sieben von Sophokles’ einhundertdreiundzwanzig. Aristophanes hat vierzig Komödien geschrieben, von denen wir wissen. Wir haben noch elf, und nicht mal alle vollständig.»
Zeno blättert in dem Buch und sieht Einträge für Agathon, Aristarchos, Kallimachos, Menander, Diogenes, Chaeremon von Alexandria. «Wenn alles, was du hast, ein Stück Papyrus mit ein paar Worten ist», sagt Rex, «oder eine einzelne Zeile, die in einem anderen Text zitiert wird, geht dir das Potenzial dessen, was da verloren gegangen ist, gar nicht mehr aus dem Kopf. Es ist wie mit den Jungs, die in Korea gestorben sind. Wir trauern so sehr um sie, weil wir die Männer, die sie einmal geworden wären, nie kennengelernt haben.» Zeno denkt an seinen Vater: Wie viel leichter es ist, ein Held zu sein, wenn du nicht länger auf dieser Welt bist.
Aber jetzt wirkt seine Müdigkeit wie eine zweite Schwerkraft und droht, ihn vom Stuhl zu kippen. Rex stellt das Buch zurück ins Regal und lächelt. «Du bist erschöpft. Komm, Hillary hat dir ein Bett gemacht.»
Er wacht mitten in der Nacht auf dem Schlafsofa auf und spürt fast körperlich, dass sich da jenseits der Tür gleich hinter ihm zwei Männer ein Bett teilen. Als er das nächste Mal erwacht, mit schmerzendem Rücken vom Jetlag, oder vielleicht ist es auch das Herz, da ist es Nachmittag, und Rex ist schon seit Stunden in der Schule. Hillary steht an einem Bügelbrett, trägt etwas, das wie ein Seidenkimono aussieht, und beugt sich über ein Buch, offenbar ein chinesisches. Ohne den Blick von seiner Lektüre zu heben, hält er eine Tasse Tee in Zenos Richtung. Zeno nimmt sie, steht in seinen zerknitterten Reisesachen da und blickt aus dem Fenster auf Ziegelwände und Feuerleitern.
Er duscht, steht in der Wanne und lässt sich das lauwarme Wasser über den Kopf laufen. Als er aus dem Bad kommt, hält Rex im aufgeräumten Teil der Wohnung einen Handspiegel vor sich und betrachtet sein dünner werdendes Haar. Er lächelt Zeno zu und gähnt.
«So viele gut aussehende Burschen zu vögeln, macht den alten Mann müde», flüstert Hillary und zwinkert. Zeno ist entsetzt, bis er merkt, dass Hillary einen Scherz gemacht hat.
Sie sehen sich ein Dinosaurierskelett an, fahren in einem Doppeldeckerbus, und Hillary geht in die Make-up-Abteilung eines Kaufhauses und kommt mit zwei blauen Wirbeln um die Augen zurück. Rex erklärt Zeno die Unterschiede zwischen verschiedenen Ginsorten, und Hillary ist immer dabei, rollt seine kleinen, dünnen Zigaretten, trägt seine Plateauschuhe, Blazer und einmal ein unglaubliches monströses Ballkleid. Schon ist es der vierte Abend seines Besuchs, sie essen Fleischpastete in einem Kellerlokal, es ist nach Mitternacht, und Hillary fragt Zeno, ob er schon zu der Stelle in Rex’ Buch gekommen ist, wo er schreibt, dass es von jedem verlorenen Buch vor seinem endgültigen Verschwinden immer noch irgendwo ein Exemplar gab, und dass es ihn, Hillary, daran erinnert, wie er einmal in einem Zoo in der Tschechoslowakei ein weißes Nashorn gesehen hat, auf dessen Schild stand, es sei eines der letzten zwanzig Exemplare auf der ganzen Welt, das letzte, das es noch in Europa gebe, und wie ihn das Tier durch die Gitterstäbe angestarrt und ein Stöhnen von sich gegeben habe, während Fliegen um seine Augen schwärmten. Dann sieht Hillary Rex an, wischt sich mit der Hand über die Augen und sagt, jedes Mal, wenn er an die Stelle kommt, muss er an das Nashorn denken und weinen, und Rex tätschelt ihm den Arm.
Am Samstag fährt Hillary zur «Galerie», und Zeno weiß nicht, was er sich darunter vorstellen soll. Eine Kunstgalerie? Er und Rex sitzen in einem Café, einem Tea-Room, und sind von lauter Frauen mit Kinderwagen umgeben. Rex’ schwarze Tweedweste ist noch voller Kreidestaub vom vorhergehenden Tag in der Schule, was Zenos Herz rasen lässt. Ein winziger Kellner, der sich ohne jedes Geräusch herumbewegt, stellt ihnen eine mit Himbeeren bemalte Teekanne auf den Tisch.
Zeno hofft, dass das Gespräch auf den Abend in Lager Fünf kommt, als Bristol und Fortier Rex in seinem Fass auf den Pritschenwagen geladen haben, hofft, dass ihm Rex die Geschichte seiner Flucht erzählt und er erfährt, ob er ihm je vergeben hat, dageblieben zu sein. Aber Rex schwärmt von einem Besuch in der vatikanischen Bibliothek in Rom, wo er ganze Stapel alter Papyrusmanuskripte durchsehen konnte, die aus der Müllkippe von Oxyrhyntos geborgen worden waren, kleine Stücke griechischer Texte, die über zweitausend Jahre im Sand begraben lagen. «Neunundneunzig Prozent davon sind langweilig, natürlich, Bescheinigungen, Quittungen, Steuerauflistungen, aber auch nur einen einzigen Satz eines literarischen Werkes zu finden, Zeno, ein paar Worte, die bis dahin unbekannt waren? Einen Satz der Vergessenheit zu entreißen? Das ist das Wunderbarste überhaupt, ich kann es gar nicht genug betonen: Es ist, als grübest du das Ende eines Drahtes aus und stelltest fest, dass es mit jemandem verbunden ist, der seit achtzehnhundert Jahren tot ist. Es fühlt sich wie nostos an, erinnerst du dich?» Er gestikuliert mit seinen geschickten Händen und blinzelt, und da liegt die gleiche Sanftheit in seinem Ausdruck wie vor all den Jahren in Korea. Zeno würde am liebsten über den Tisch springen und seinen Mund auf Rex’ Hals pressen.
«Irgendwann werden wir etwas wirklich Bedeutendes zusammenpuzzeln, eine Tragödie von Euripides oder eine verlorene Politikgeschichte, oder, besser noch, eine alte Komödie, die unglaubliche Reise eines Narren bis an den Rand der Welt und wieder zurück. Das wäre mein größter Wunsch, verstehst du?» Er hebt den Blick, und in Zeno lodert es. Einen Moment lang malt er sich eine mögliche Zukunft aus, einen nachmittäglichen Streit zwischen Rex und Hillary: Hillary schmollt, und Rex sagt ihm, er solle gehen. Zeno hilft, Hillarys Chaos loszuwerden, trägt Kisten hinaus, packt seine eigenen Sachen mit in Rex’ Schlafzimmer und setzt sich auf den Bettrand. Sie machen Spaziergänge, fahren nach Ägypten, sitzen schweigend mit einer Teekanne zwischen sich da und lesen. Einen Moment lang hat Zeno das Gefühl, es mit den richtigen Worten wahr werden lassen zu können: Wenn er genau das Richtige sagt, jetzt, in diesem Augenblick, wie einen Zauberspruch, wird es geschehen. Ich denke die ganze Zeit an dich, die Adern an deinem Hals, den Haarflaum auf deinen Armen, deine Augen, deinen Mund, ich habe dich damals geliebt, und ich liebe dich immer noch.
Rex sagt: «Ich langweile dich.»
«Nein, nein.» Alles kippt. «Im Gegenteil, es ist nur …» Er sieht die Straße im Tal, die Fräse, die aufwirbelnden Schneegeister. Tausend finstere Bäume rauschen vorbei. «Es ist alles so neu für mich, verstehst du, die Gin and Tonics, die Underground, du – Hillary. Er liest chinesische Bücher, du gräbst alte griechische Schriftrollen aus. Es ist ein bisschen einschüchternd.»
«Ah.» Rex winkt ab. «Hillary ist voller Projekte, die nirgendwohin führen. Bringt nie was zu Ende. Und ich bin Lehrer an einer stinknormalen Jungenschule, und in Rom hole ich mir zwischen Hotel und Taxi einen Sonnenbrand.»
Im Café herrscht Hochbetrieb, ein Baby schreit, der Kellner tappt geräuschlos hin und her. Regen tropft von der Pergola. Zeno spürt, wie der Moment vorbeigeht.
«Aber ist das nicht genau das», sagt Rex, «was Liebe ausmacht?» Er reibt sich die Schläfen, trinkt seinen Tee und sieht auf die Uhr. Zeno hat das Gefühl, in den Yalu-Fluss gestiegen zu sein, der ihn davonträgt.
Die Geburtstagsparty fällt auf Zenos letzten Tag. Sie nehmen ein schwarzes Taxi zu einem Club namens The Crash. Rex lehnt sich an Hillary und sagt: «Versuchen wir es heute Abend in Grenzen zu halten, okay?», und Hillary klimpert mit seinen Wimpern. Sie steigen hinunter in eine Reihe miteinander verbundener Räume, die immer merkwürdiger und verlieshafter werden, alle sind voller Jungen und Männer in Silberstiefeln und Zebraleggings, manche tragen Zylinder auf den Köpfen. Viele von ihnen scheinen Rex zu kennen, fassen ihn beim Arm, küssen ihn auf die Wangen oder blasen mit Partytröten in seine Richtung. Einige versuchen mit Zeno ins Gespräch zu kommen, aber die Musik ist zu laut, und so nickt er hauptsächlich und schwitzt in seinem Polyesteranzug.
Im letzten Raum ganz hinten im Club kommt Hillary mit drei Gläsern Gin. In seinen hochhackigen Stiefeln und seinem smaragdgrünen Überrock ragt er wankend wie ein wandelnder Baumgott über die Menge hinaus, und der Gin schickt Hitzewellen durch die Korridore von Zenos Körper. Er versucht Rex’ Aufmerksamkeit zu erlangen, aber die Musik wird wie auf ein Signal hin doppelt so laut, und alle im Raum beginnen zu singen: «Hey, hey, hey, hey!» Stroboskoplichter in den Wänden flackern auf und verwandeln den Raum in ein Daumenkino. Körper, Arme zucken hierhin und dorthin, Münder verziehen sich anzüglich, Knie und Ellbogen blitzen auf, und Hillary schleudert seinen Drink in die Luft und schlingt seine Baumarme um Rex. Alle tanzen den gleichen Tanz, recken erst den einen, dann den anderen Arm zur Decke, als gäben sie sich Zeichen, die Luft brennt vor Lärm, und statt loszulassen, statt mitzumachen, fühlt Zeno sich elend, so unzulänglich, ist überwältigt von seiner Naivität. Sein Pappkoffer, sein völlig falscher Aufzug, seine Holzfällerstiefel, seine ganze Idaho-Art und die falsche Hoffnung, Rex hätte ihn eingeladen, weil er etwas Romantisches von ihm wollte – wir könnten etwas Griechisch hinkritzeln, mit Stiften auf Papier statt mit Stöcken im Dreck –, er ist, das sieht er jetzt, ein solcher Tölpel, fast schon ein Barbar. In der pulsierenden Musik, zwischen den zuckenden Körpern muss er überrascht feststellen, dass er sich nach der einfarbigen Vorhersehbarkeit von Lakeport sehnt, nach Mrs Boydstuns nachmittäglichem Whiskey, den ausdruckslosen Porzellankindern, dem Holzrauch in der Luft und der Stille über dem See.
Er kämpft sich durch die verschiedenen Räume hinaus auf die Straße und wandert verängstigt und beschämt zwei Stunden lang durch Vauxhall, ohne jedes Gefühl dafür, wo er ist. Als er endlich den Mut fasst, ein Taxi anzuhalten, und den Fahrer fragt, ob er ihn zu einem Backsteinhaus in Camden neben einer Gold-Leaf-Zigarettenreklame bringen kann, nickt der Mann nur und fährt geradewegs zu Rex’ Haus. Zeno steigt die vier Etagen hinauf und findet die Tür unverschlossen vor. Eine Tasse Tee steht noch auf dem Tisch. Als Hillary ihn ein paar Stunden später weckt, sanft, damit er seinen Flug nicht verpasst, berührt er ihn so zärtlich an der Stirn, dass Zeno sich abwenden muss.
Rex parkt den Austin vorm Abflugterminal, nimmt eine eingepackte Schachtel vom Rücksitz und legt sie Zeno auf den Schoß.
Drinnen ist ein Exemplar seines Kompendiums und ein noch größerer, dickerer Band. «Liddell and Scott, ein griechisch-englisches Wörterbuch. Unverzichtbar. Für den Fall, dass du dich wieder ans Übersetzen machen möchtest.»
Draußen neben dem Wagen eilen Passagiere vorbei, und einen Moment lang öffnet sich die Erde unter Zenos Sitz und verschlingt ihn. Aber schon ist er wieder da.
«Du hattest ein Talent dafür, weißt du. Mehr als das.»
Zeno schüttelt den Kopf.
Autos hupen, und Rex blickt hinter sich. «Gib dich nicht so schnell geschlagen», sagt er. «Manchmal sind die Dinge, die wir für verloren halten, nur versteckt und warten darauf, wiederentdeckt zu werden.»
Zeno steigt aus, den Koffer in der rechten Hand, die Bücher unter dem linken Arm, und etwas in ihm (Bedauern) stößt vor und weicht zurück wie ein schwer bewaffneter Lanzenträger, zerstört Knochen und lebenswichtiges Gewebe. Rex beugt sich vor, streckt die Hand aus, und Zeno drückt sie mit seiner Linken, unbeholfener wurde nie eine Hand geschüttelt. Dann wird das kleine Auto vom Verkehr verschluckt.