Die Stadtbibliothek von Lakeport

20. Februar 2020, 17:41 Uhr

Seymour

Den Hörschutz um den Hals gehängt, lauscht er. Irgendwo bei den Sachbüchern scheppert ein Heizkörper. Der verwundete Mann unten an der Treppe atmet schwer. Draußen im Schnee plärrt ein Funkgerät der Polizei. Blut rauscht in seinen Ohren. Sonst nichts.

Aber er hat da oben ein Poltern gehört, oder? Er sieht noch vor sich, wie der SUV der Polizei auf den Bordstein gefahren ist, sieht vor sich, wie Marian einen Stapel Pizzaschachteln in den Schnee fallen lässt. Warum bringt sie so kurz vor Schluss noch Pizzas in die Bibliothek?

Es ist noch jemand hier.

Die Beretta in der rechten Hand, schleicht Seymour zur Treppe, wo der verwundete Mann auf der Seite liegt und schläft, oder Schlimmeres. Der Glitter in den Haaren auf seinem Arm funkelt. Seymour kommt der Gedanke, dass er sich als eine Art Barrikade dorthin gelegt hat.

Er hält den Atem an, macht einen Schritt über die andickende Blutlache, über den Mann hinweg und geht nach oben. Fünfzehn Stufen, die jede am Rand mit einem rutschfesten Streifen beklebt sind. Der Eingang zur Kinderbuchabteilung wird von etwas Unerwartetem blockiert, einer golden bemalten Sperrholzwand, und die goldene Farbe wirkt im Dämmerlicht des AUSGANG-Zeichens fast grün. In ihrer Mitte ist eine kleine Tür mit einem Bogen oben, und darüber verläuft eine einzelne Zeile mit Worten, deren Buchstaben er nicht kennt.

Ὦ ξένε, ὅστις εἶ, ἄνοιξον, ἵνα μάθῃς ἃ θαυμάζεις

Seymour legt die Hand an die kleine Tür und drückt.

Zeno

Er hockt zwischen den Kindern hinter der L-förmigen Barriere der Regale und sieht sie einzeln an: Rachel, Alex, Olivia, Christopher, Natalie. Pssst, pssst, pssst. In der Dunkelheit werden ihre Gesichter zu denen eines Dutzend kleiner koreanischer Rehe, denen er und Rex eines Tages beim Holzsammeln im Schnee nicht weit von Lager Fünf begegnet sind: Gehörn und Nasen tauchten aus dem Weiß auf, die schwarzen Augen groß, die Ohren zuckten.

Alle hören, wie sich die Sperrholztür quietschend schließt. Schritte bewegen sich zwischen den Klappstühlen herum. Zeno drückt sich den Zeigefinger auf die Lippen.

Eine Diele knarzt. Unterwasserblasen gurgeln aus Natalies Lautsprecher. Ist es nur einer? Es klingt, als wäre es nur einer.

Sei ein Polizist. Sei Marian. Sei Sharif.

Alex hält eine Dose Ingwerbier mit beiden Händen, als wäre sie voll Nitroglyzerin. Rachel beugt sich über ihr Skript. Natalie macht die Augen zu. Olivias Blick ist fest auf Zenos gerichtet. Christopher öffnet den Mund – einen Moment lang denkt Zeno, dass der Junge losschreien will und dass sie entdeckt und hier, wo sie sitzen, ermordet werden.

Die Schritte halten inne. Christopher schließt den Mund wieder, ohne einen Laut. Zeno versucht sich daran zu erinnern, was die Kinder und er da draußen zwischen den Stühlen liegen gelassen haben. Die Kiste mit dem Ingwerbier. Etliche Dosen sind zwischen die Stühle gerollt. Rucksäcke. Seiten des Skripts. Natalies Laptop. Olivias Möwenflügel. Die goldene Enzyklopädie auf dem Lesepult. Gott sei Dank ist der Karaokestrahler aus.

Schritte jetzt auf der Bühne. Das Rascheln einer Nylonjacke. Eisige Bänder schnüren ihm die Brust ein, und Zeno verzieht das Gesicht gegen den Druck. θεοὶ sind die Götter, ἐπεκλώσαντο bedeutet sie spannen, ὄλεθρον ist Zerstörung, Seuche, Untergang. Der Tod. Nicht jetzt, ihr Götter. Nicht heute Abend. Lass diese Kinder noch einen weiteren Abend Kinder sein.

Seymour

Der Geruch frischer Farbe auf der kleinen Bühne ist intensiv. Er kratzt ihm in der Kehle. Regale verdecken die Fenster, das Licht ist aus, und die merkwürdigen Unterwassergeräusche – kommen woher? Sie machen ihn nervös. Da liegt ein Kinderparka, da ein Paar Schneestiefel, da eine Dose. Über ihm hängen gemalte Wolken. Vor der hinteren Kulisse liegt ein dickes Buch auf einem Lesepult. Was ist das?

Neben seinem Fuß erblickt er einen Stapel von Hand beschriebenes Fotokopierpapier. Er hebt ein Blatt auf und hält es sich dicht vor die Augen:

Wache Nr. 2: Obwohl es zunächst einfach zu sein scheint, ist es tatsächlich ziemlich kompliziert.

Wache Nr. 1: Nein, nein, es scheint zunächst kompliziert, ist dann aber recht einfach.

Wache Nr. 2: Fertig, kleine Krähe? Hier ist unser Rätsel: «Er, der alles weiß, was an Wissen je niedergeschrieben worden ist, weiß nur das.»

Die Pistole in der einen Hand, das Blatt in der anderen, steht Seymour auf der Bühne und betrachtet das auf den Vorhang gemalte Bild. Die Türme, die auf Wolken treiben, Bäume, die sich in der Mitte hindurchwinden – es kommt ihm wie eine Erinnerung vor oder wie ein Bild aus einem Traum, den er vor langer Zeit einmal geträumt hat. Das handgeschriebene Schild an der Bibliothekstür unten fällt ihm wieder ein:

Die Welt, sie ist alles, was er je geliebt hat: der Wald hinter der Arcady Lane, die geschäftigen Wanderzüge der Ameisen, das Zirpen und Schweifen der Grillen, das Rascheln der Espen, die herbe Süße der ersten Heidelbeeren im Juli, die Wache stehenden Gelbkiefern, älter und geduldiger als alle Wesen, die er je kennenlernen würde, und Trustyfriend, die Eule auf ihrem Ast, die alles überblickt hat.

Gehen in diesem Moment in anderen Städten, in anderen Ländern Bomben hoch? Werden Bishops Kämpfer aktiv? Und ist Seymour der Einzige, der es verpatzt hat?

Er tritt von der Bühne und geht hinüber zu der Ecke, wo drei Regale so zusammengeschoben stehen, dass sie eine abgeschlossene Nische bilden, als der verwundete Mann unten von der Treppe heraufruft.

«Hey, Junge! Ich habe deinen Rucksack. Wenn du nicht wieder nach unten kommst, trage ich ihn nach draußen und übergebe ihn der Polizei.»