Wenn die Dünung sie in die Höhe hebt, kann sie die jetzt fernen, schwach leuchtenden Umrisse der Stadt im Nordosten sehen. In allen anderen Richtungen ist nichts als wogende Schwärze. Nass, erschöpft, seekrank, den Sack fest an die Brust gedrückt, holt Anna die Ruder ein und gibt das Wasserschöpfen auf. Das Meer ist zu groß und das Boot zu klein. Maria, du warst immer die bessere Schwester, die weisere Schwester, bist in die nächste Welt gewechselt, als diese hier entzweibrach. Ein Engel in der einen, pflegte Witwe Theodora immer zu sagen, und ein Wolf in der anderen.
In etwas, das tiefer ist als ein Traum, läuft sie erneut über den gekachelten Boden eines riesigen Atriums, das auf beiden Seiten von Etagen voller Bücher gesäumt wird. Sie beginnt zu rennen, aber wie weit sie auch kommt, es scheint kein Ende zu geben. Die Lichter werden schwächer, und Angst und Verzweiflung wachsen mit jedem Schritt. Endlich nähert sie sich einem einzelnen Licht vorn, wird langsamer, ein einsames Mädchen hockt neben einer Kerze an einem Tisch über einem Buch und sieht zu Anna auf, als sie näher kommt. Das Mädchen hebt das Buch, das es hält, und Anna versucht den Titel zu entziffern, als Himerius’ Boot auf einen Felsen trifft und sich quer zu den Wellen stellt.
Sie hat gerade noch genug Zeit, den Sack an sich zu drücken, da wird sie auch schon über Bord geworfen.
Sie schlägt um sich, schluckt Meerwasser. Eine Woge saugt sie auf und schleudertt sie nach vorn, ihr Knie stößt unter Wasser gegen einen Stein, das Wasser ist nur hüfttief. Sie spuckt, rappelt sich hoch und kämpft sich vor zur Küste. Der Sack ist durchgeweicht, aber sie hält ihn auch weiter an die Brust gedrückt.
Anna kriecht auf einen steinigen Strand, hockt sich, über ihr pochendes Knie gebeugt, hin und öffnet den Sack. Die Seide, das Buch, das Brot, alles durchnässt. Draußen auf den dunklen, brodelnden Wellen ist von Himerius’ Boot nichts mehr zu sehen.
Der Strand zeichnet einen Bogen in das dunkelnde, der Dämmerung vorausgehende Licht. Hier gibt es keinen Schutz. Sie klettert durch einen vom Sturm aufgetürmten Wall aus Treibholz und gelangt in ein zerstörtes Land: niedergebrannte Häuser, sämtliche Bäume eines Olivenhains gefällt, die Erde zerfurcht, als hätte Gott selbst sie mit den Händen durchwühlt.
Als das erste Licht heraufzieht, klettert sie einen sanft ansteigenden Hügel mit Weinterrassen hinauf. Das Donnern der Brandung wird leiser. Sie zieht ihr Kleid aus, wringt es aus und zieht es wieder an. Sie isst ein Stück Stör und streicht sich mit der Hand durch die Haare, als die Dämmerung eine rosa Linie auf den Horizont malt.
Sie hatte gehofft, über Nacht an die Küste eines neuen Landes geschwemmt zu werden, bis nach Genua, Venedig oder Scheria, ins Königreich des tapferen Alkinoos, wo sie eine Göttin in ihren magischen Nebel hüllen und in einen Palast bringen könnte. Aber sie ist nur ein paar Kilometer die Küste hinaufgetragen worden. In der Ferne ist die Stadt immer noch sichtbar, ein Sägeblatt aus Dächern, überragt von den Kuppeln der Hagia Sophia. Ein paar Rauchsäulen steigen in den Himmel. Strömen da bewaffnete Männer durch die Viertel, brechen in die Häuser ein und treiben die Leute hinaus auf die Straßen? Gegen ihren Willen steigt ein Bild von Witwe Theodora, Agata, Thekla und Eudokia vor ihr auf, wie sie tot in der Spülküche sitzen, eine Kanne Tollkirschentee auf dem Tisch, und sie zwingt das Bild aus ihrem Kopf.
Aus den Reben erklingt Vogelgesang. Sie erspäht einen Trupp Soldaten, beritten, etwa einen Kilometer entfernt, der auf die Stadt zureitet. Ihre Umrisse zeichnen sich vor dem Himmel ab, und sie presst sich so flach auf die Erde wie nur möglich, den feuchten Sack neben sich, eine Wolke Mücken über dem Kopf.
Als die Männer außer Sicht sind, läuft sie zum Weinberg hinüber, watet durch einen Bach und eilt den nächsten Hügel hinauf, weg vom Meer. Oben auf der Anhöhe drängt sich eine Gruppe Haselnussbäume, als wären sie verängstigt, um einen Brunnen. Ein schmaler Karrenpfad führt hinein und wieder hinaus. Sie kriecht unter die tief hängenden Blätter und wartet, während die Stille des Morgens auf den Feldern lastet.
Fast kann sie die Glocken von St. Theophanu hören, das Geklapper und Geratter in den Gassen, Besen und Kehrblech, Nadel und Faden. Witwe Theodora, wie sie die Treppe in den Arbeitsraum hinaufgeht, die Fensterläden öffnet, den Schrank mit den Garnen aufschließt. Gebenedeiter, bewahre uns vor Müßiggang. Denn wir haben unzählige Male gesündigt.
Sie legt Buch und Samitkapuze zum Trocknen in die Morgensonne und verschlingt den Rest gepökelten Fisch, während die Grillen in den Ästen über ihr singen. Die Blätter des Kodex sind durchnässt, aber zumindest die Tinte ist nicht verflossen. Die ganzen hellen Stunden des Tages über sitzt sie da, die Knie an die Brust gezogen, schläft, wacht auf und schläft wieder ein.
Durst nagt an ihr, während sich das Dunkel zwischen den Bäumen vertieft. Sie hat den ganzen Tag niemanden zum Brunnen kommen sehen und fragt sich, ob er von den Sarazenen vergiftet worden ist, und so traut sie sich nicht, aus ihm zu trinken. Es dämmert, als sie ihren Sack wieder packt, Laub und Geäst hinter sich lässt und durchs Gestrüpp in Ufernähe weiterwandert, das Meer immer links von ihr. Ein abnehmender Viertelmond hält mit ihr Schritt, während sie über eine Begrenzungsmauer kraxelt, und über noch eine. Sie wünschte, die Nacht wäre dunkler.
Alle paar Hundert Meter versperrt ihr Wasser den Weg, Buchten und Meeresarme, die sie umgehen muss, ein Bach, der durchs Brombeergebüsch plätschert und aus dem sie trinkt, bevor sie hindurchwatet. Zweimal kommt sie an Dörfern vorbei, die verlassen scheinen. Es ist niemand zu sehen, nirgends steigt Rauch auf. Vielleicht verstecken sich dort noch ein paar letzte Familien, haben sich in Kellern verkrochen, aber niemand ruft ihr zu.
Hinter ihr liegen Sklaverei, Schrecken und Schlimmeres. Was liegt vor ihr? Eine Welt mit Sarazenen, Bergketten und Halsabschneidern, die für eine Flussüberquerung auf ihrer Fähre Geld wollen? Der Mond versinkt, und das breite Sternenband, das Chryse die Straße der Vögel nennt, erstreckt sich weit und golden über den Himmel. Schritt um Schritt um Schritt, es kommt der Punkt, an dem der Druck der ständigen Angst alle Vernunft auslöscht und sich der Körper unabhängig vom Denken voranbewegt. Es ist wie das Erklettern der Propstei: ein Halt für den Fuß, ein Halt für die Hand, den Fuß, die Hand, so geht es nach oben.
Vor Sonnenaufgang kommt sie durch einen schütteren Wald und folgt dem Rand von etwas, das wie ein größeres Gewässer aussieht, da blinkt das Licht eines Feuers zwischen den Bäumen auf. Sie will schon einen großen Bogen darum schlagen, als die Luft den Duft von gebratenem Fleisch heranträgt.
Er ist wie ein Haken im Bauch, der sie näher zieht. Nur ein paar Schritte. Nur um zu sehen …
Ein kleines Feuer im Wald, die Flammen nicht höher als ihre Schienbeine. Sie schleicht zwischen den Bäumen hindurch, raschelt durchs Laub. Am Rand des Feuers kann sie etwas erkennen, das wie ein einzelner Vogel an einem Spieß aussieht.
Sie versucht, nicht zu atmen. Kein Mensch. Kein Pferdewiehern. Hundert Herzschläge lang sieht sie zu, wie das Feuer herunterbrennt. Keine Bewegung. Keine Schatten. Niemand kümmert sich um das Essen. Da ist nur dieser Vogel. Ein Rebhuhn, denkt sie. Ist das eine Halluzination?
Sie kann das Fett zischen hören. Wenn der Vogel nicht bald gedreht wird, verbrennt die dem Feuer zugewandte Seite. Vielleicht ist jemand verscheucht worden. Vielleicht hat der, der das Feuer gemacht hat, vom Fall der Stadt gehört, ist gleich auf sein Pferd gesprungen und hat seinen Braten zurückgelassen.
Einen Atemzug lang wird sie zu Aethon, der Krähe, todmüde und zerzaust, wie er durch das goldene Tor blickt und die Schildkröte mit den Honigkuchen auf dem Rücken vorbeitappen sieht.
Obwohl es zunächst einfach zu sein scheint, ist es tatsächlich ziemlich kompliziert.
Nein, nein, es scheint zunächst kompliziert, ist dann aber recht einfach.
Sie ist von aller Logik verlassen. Wenn sie den Vogel nur nehmen könnte. Sie stellt sich vor, wie es wäre, ihn zu schmecken, das Fleisch zwischen den Zähnen zu spüren, wie der Saft ihr in den Mund spritzt. Sie legt ihren Sack hinter einen Baum, duckt sich heran und zieht den Spieß aus der Erde. Den Vogel in der linken Hand, registriert ein Teil ihres Bewusstseins einen Halfter, einen Strick, einen Lederumhang neben dem Feuer – aber sie ist ganz auf das Fleisch konzentriert, hört dann, wie hinter ihr jemand einatmet.
Ihr Hunger ist so groß, dass ihr Arm den Vogel immer noch weiter ihrem Mund nähert, selbst als ihr ein greller Blitz von hinten durch den Kopf fährt, ein splitterndes, lang gestrecktes Weiß, als würde die Himmelskuppel zerschellen, und die Welt versinkt in Finsternis.