Lakeport, Idaho

1972–1995

Zeno

Zum Abendessen gibt es gekochtes Rindfleisch. Auf der anderen Seite des Tisches schwebt Mrs Boydstuns Gesicht, von Rauch umgeben. Auf dem Fernsehbildschirm neben ihr streicht ein Pinsel über die oberen Wimpern eines riesigen Auges.

«Mäusedreck im Vorratsraum.»

«Ich besorge morgen ein paar Fallen.»

«Die von Victors. Nicht den Schrott wie beim letzten Mal.»

Jetzt bestätigt ein Schauspieler in einem Anzug den wunderbaren Klang dieses Sylvania-Farbfernsehers. Mrs Boydstun lässt ihre Gabel beim Versuch, sie zum Mund zu führen, fallen, und Zeno holt sie unter dem Tisch wieder hervor.

«Ich bin fertig», verkündet sie. Er schiebt sie in ihr Schlafzimmer, hebt sie aufs Bett, misst ihr Medikament ab und schiebt den Fernsehwagen mit der Verlängerungsschnur zu ihr ins Zimmer. Draußen über dem See weicht das letzte Tageslicht der Nacht. Manchmal, in Augenblicken wie diesem, während er die Reste von den Tellern schabt, meldet sich die Erinnerung an seinen Rückflug aus London wieder: Wie es ihm so vorgekommen war, als ob sich der Planet unter ihm immer so weiterdrehen würde, Wasser, dann Felder, dann Berge, dann Städte wie neurale Netze, wie es ihm so vorgekommen war, als ob er mit Korea und London genug Abenteuer für ein ganzes Leben durchgemacht hätte.

Monatelang sitzt er am Schreibtisch neben dem kleinen Messingbett, hat die ersten Verse von Homers Ilias links und das Liddell-and-Scott-Lexikon rechts vor sich liegen. Er hat gehofft, Reste des Griechischen, das er in Lager Fünf gelernt hat, noch in seinem Gedächtnis wiederzufinden, aber alles ist so beschwerlich. Μῆνιν, beginnt das Epos, ἄειδε θεὰ Πηληϊάδεω Ἀχιλῆος, fünf Worte, das letzte ist der Name Achilleus, das davor besagt, dass sein Vater Peleus war (wobei es gleichzeitig andeutet, dass er gottgleich ist), und obwohl nur noch drei weitere Worte – mênin, aeide und theā – im Spiel sind, ist die Zeile voller Fallstricke.

Die drei Übersetzungen von Pope, Chapman und Bateman unterscheiden sich nicht unwesentlich. Ist aeide mit singen zu übersetzen, weil es auch das Wort für Dichter ist? Und mênin, was nimmt er da am besten? Wut? Zorn? Verdruss? Sich für eine Möglichkeit zu entscheiden, heißt, sich auf einen bestimmten Pfad einzulassen, obwohl das Labyrinth doch aus Tausenden von Pfaden besteht.

Erzähl uns, Göttin, vom wilden Zorn des Achilleus, Sohn des Peleus.

Nicht gut genug.

Sprich, Kalliope, vom Verdruss des Plejaden Achilleus.

Schlechter.

Erzählt den Leuten, ihr Musen, warum Peleus’ Sohn Achilleus so verdammt wütend war.

Im Jahr nach seiner Rückkehr schreibt Zeno Rex ein Dutzend Briefe und bleibt in ihnen strikt bei Übersetzungsfragen: Imperativ oder Infinitiv? Akkusativ oder Genitiv?, und überlässt Hillary alle Romantik. Er schmuggelt die Briefe in seinem Hemd aus dem Haus und gibt sie vor der Arbeit auf, wirft sie mit glühendem Gesicht in den Briefkasten. Dann wartet er wochenlang, Rex’ Antworten kommen weder schnell noch regelmäßig, und Zeno verliert allen Mut, mit dem er begonnen hat. Die Götter auf dem Olymp nippen an ihren Trinkhörnern und sehen voller Spott durchs Dach des Hauses auf ihn an seinem Schreibtisch herab.

Dieser Hochmut, anzunehmen, dass Rex ihn auf die Weise hätte haben wollen. Eine Waise, einen Feigling, einen Schneepflugfahrer mit einem Pappkoffer und einem Polyesteranzug: Wer war Zeno denn, da irgendetwas zu erwarten?

Er erfährt von Rex’ Tod durch einen Luftpostbrief von Hillary, in lila Schreibschrift. Rex, berichtet Hillary, war in Ägypten mit seinem geliebten Papyrus beschäftigt und versuchte noch einen weiteren Satz dem Vergessen zu entreißen, als ihn ein Herzinfarkt ereilte.

Du warst ihm, schreibt Hillary, sehr lieb und teuer. Seine große, geschwungene Unterschrift nimmt das halbe Blatt ein.

Jahre und Jahreszeiten verstreichen. Zeno wacht nachmittags auf, zieht sich in seinem vollgestopften Zimmer an, geht die knarzenden Stufen nach unten und weckt Mrs Boydstun, die ihren Mittagsschlaf gehalten hat. Setzt sie in ihren Stuhl, bürstet ihr das Haar, füttert sie, fährt sie zu ihrem Puzzle, schenkt ihr zwei Fingerbreit Old Forester ein. Macht den Fernseher an. Nimmt den Zettel von der Anrichte: Rindfleisch, Zwiebeln, Lippenstift, kauf diesmal das richtige Rot. Bevor er zur Arbeit fährt, bringt er sie ins Bett.

Wutausbrüche, Arzttermine, Therapien, Dutzende Fahrten zum Spezialisten nach Boise – er steht alles mit ihr durch, schläft immer noch oben in dem kleinen Messingbett, Rex’ Kompendium verlorener Bücher und den Liddell and Scott in einem Karton neben dem Schreibtisch begraben. Manchmal fährt er morgens nach der Arbeit an den Straßenrand und sieht zu, wie das Licht ins Tal sickert. Es ist alles, was er tun kann, um sich dazu zu bringen, auch noch die verbleibenden zwei Kilometer nach Hause zu fahren. In den letzten Wochen ihres Lebens wird Mrs Boydstuns Husten zu einem Gurgeln, als trüge sie Seewasser in ihrer Brust. Er fragt sich, ob sie irgendwelche letzten Worte für ihn hat, Erinnerungen an seinen Vater, etwas, das ihre Beziehung verständlicher macht, ob sie ihn ihren Sohn nennen oder sagen wird, dass sie ihm dankbar ist für all die Jahre, da er sie gepflegt hat, dankbar, dass sie sein Vormund geworden ist, ob sie irgendeine Andeutung macht, dass sie seine missliche Lage versteht. Aber am Ende ist sie kaum mehr da. Da sind nur noch das Morphium, glasige Augen und ein Geruch, der ihn zurück nach Korea trägt.

Am Tag, als sie stirbt, geht er hinaus, während die Schwester die notwendigen Anrufe macht, und hört es plätschern und summen: Es tropft vom Dach, die Bäume erwachen, Schwalben schießen durch die Luft, die Berge schütteln sich, murmeln, brummen. Die schmelzende Welt ist voller Geräusche.

Er nimmt alle Vorhänge im Haus herunter. Zieht die Schonbezüge von den Sesseln, wirft die Duftschale hinaus und schüttet den Bourbon in den Ausguss. Packt die rotwangigen Porzellankinder in Kisten und bringt sie in einen Secondhandladen.

Er adoptiert einen dreißig Kilogramm schweren gefleckten Hund namens Luther, bringt ihn durch die Haustür herein, leert eine Dose Rind mit Gerste in eine Schüssel und sieht zu, wie Luther sie verschlingt. Dann schnüffelt der Hund durchs Haus, als könnte er nicht glauben, dass sich sein Glück gewendet hat.

Schließlich zieht er den verfärbten Seidenläufer vom Esstisch, holt den Pappkarton von oben und platziert seine Bücher auf der alten, mit Ringen übersäten Walnussplatte. Er schenkt sich eine Tasse Kaffee ein, packt einen neuen Block aus dem Lakeport Drugstore aus, und Luther rollt sich zu seinen Füßen zusammen und lässt einen zehn Sekunden währenden Seufzer hören.

Von allen verrückten Dingen, die wir Menschen tun, hat ihm Rex einst erklärt, ist vielleicht nichts demütiger oder edler als der Versuch, die toten Sprachen zu übersetzen. Wir wissen nicht, wie die alten Griechen klangen, wenn sie sich unterhielten. Wir können ihre Worte kaum mit unseren abbilden und sind von allem Anbeginn an zum Scheitern verdammt. Aber der Versuch, etwas aus der Düsternis der Geschichte über den Fluss in unsere Zeit, in unsere Sprache zu bringen, das ist, sagt Rex, die beste Art vergeblicher Mühe.

Zeno spitzt seinen Bleistift und versucht es ein weiteres Mal.