Die Argos

Missionsjahr 64
Tag 276 in Gewölbe Eins

Konstance

Die Autoschlange zum See hinunter staut sich auch weiter bis in alle Ewigkeit, und die gesichtslosen Kids in ihren ärmellosen Hemden bleiben in ihrem Lauf um die Ecke eingefroren, aber direkt vor ihr bewegt sich etwas im Atlas: Der Himmel über der eulenförmigen Buchrückgabekiste wird zu einer wallenden, wirbelnden Silberdecke, aus der Schneeflocken fallen.

Sie tritt einen Schritt vor. Hecken aus widerborstigen Wacholderbüschen wachsen auf beiden Seiten eines schneebedeckten Weges, an dessen Ende ein verfallenes hellblaues, zweistöckiges, viktorianisches Knusperhaus aufschimmert. Die Veranda hängt schief, der Kamin neigt sich leicht zur Seite, und vorne im Fenster flimmert ein GEÖFFNET-Zeichen.

«Sybil, was ist das?»

Sybil antwortet nicht. Auf einem teilweise von Schnee bedeckten Schild steht:

Alles in Lakeport hinter ihr bleibt gleich, statisch, sommerlich, an Ort und Stelle erstarrt. So wie es im Atlas immer ist. Aber dort, an der Ecke von Lake und Park, hinter der Eule herrscht Winter.

Schnee sammelt sich auf dem Wacholder. Die Flocken wehen ihr in die Augen. Der Wind trägt den Geruch von Stahl heran. Sie geht den Weg hinauf und hört den Schnee unter ihren Füßen knirschen. Sie hinterlässt Fußstapfen darin. Fünf Granitstufen führen auf die Veranda. Hinter der Scheibe in der oberen Hälfte der Tür hängt ein von Kinderhand geschriebenes Schild:

Die Tür knarrt, als Konstance sie öffnet. Direkt vor ihr erblickt sie eine mit rosa Papierherzen beklebte Empfangstheke. Ein Kalender gibt das Datum an: 20. Februar 2020, und auf einer gerahmten Stickerei an der Wand hinter der Theke steht: Hier beantworten wir eure Fragen. Ein Pfeil deutet nach links zu den Romanen und Erzählungen, einer nach rechts zu den Sachbüchern.

«Sybil, ist das ein Spiel?»

Keine Antwort.

Auf drei vorsintflutlichen Computermonitoren drehen sich grünblaue Spiralen. Ein Leck, es tropft aus einer fleckigen Deckenfliese hinunter in einen Plastikabfalleimer, der halb voll mit Wasser ist. Plitsch, platsch, plitsch.

«Sybil?»

Nichts. Auf der Argos ist Sybil überall, in jedem Abteil, jederzeit. Noch nie im Leben hat Konstance nach Sybil gerufen und keine Antwort bekommen. Ist es möglich, dass Sybil nicht weiß, wo sie ist? Dass Sybil nicht weiß, dass das hier im Atlas existiert? Die Buchrücken auf den Regalen strömen den Geruch von vergilbendem Papier aus. Sie hält eine Hand unter das Leck und spürt, wie die Tropfen auf ihre Haut treffen.

Auf halbem Weg den größeren Gang hinunter hängt ein Schild: KINDERBUCHABTEILUNG, und ein Pfeil deutet eine Treppe hinauf. Mit zitternden Knien steigt Konstance die Stufen hinauf. Der Treppenabsatz oben wird von einer goldenen Wand versperrt. Darauf steht etwas in einer Sprache, von der sie denkt, es könnte Altgriechisch sein:

Ὦ ξένε, ὅστις εἶ, ἄνοιξον, ἵνα μάθῃς ἃ θαυμάζεις

Unter der Schrift wartet eine kleine, oben runde Tür. Es duftet nach Flieder, Minze und Rosen – wie in Farm 4 an ihren besten, wohlriechendsten Tagen.

Sie tritt durch die geöffnete Tür. Auf der anderen Seite glitzern Papierwolken an Fäden über dreißig Klappstühlen, und die ganze hintere Wand wird von einer bemalten Kulisse bedeckt, einer Stadt in den Wolken. Vögel flattern um ihre Türme, und von überallher klingt das Blubbern von Wasser, das Knarzen von Bäumen, Vogelgesang. Und mitten auf einer kleinen Bühne, erleuchtet von einem Lichtstrahl, der durch die Wolken herabfällt, steht ein Pult. Mit einem Buch.

Konstance schiebt sich fasziniert zwischen den Stühlen hindurch und klettert auf die Bühne. Das Buch ist ein vergoldetes Duplikat des blauen Buches auf dem Nachttisch ihres Vaters in Scheria. Die Wolkenstadt, die Türme mit den vielen Fenstern, die kreisenden Vögel. Und über der Stadt steht: Wolkenkuckucksland. Und darunter: Von Antonios Diogenes. Übersetzt von Zeno Ninis.