Lakeport, Idaho

1995–2019

Zeno

Er übersetzt ein Buch der Ilias, zwei der Odyssee sowie ein bewundernswertes Stück von Platons Politeia. Fünf Zeilen an einem durchschnittlichen Tag, zehn an einem guten, mit seiner engen Bleistiftschrift in gelbe Kladden geschrieben und in Kartons unter den Esstisch gepackt. Manchmal denkt er, seine Übersetzungen seien angemessen. Gewöhnlich hält er sie für grässlich. Er zeigt sie niemandem.

Vom County bekommt er eine Plakette und eine Rente. Luther, der große gefleckte Hund, stirbt einen friedlichen Tod, und Zeno adoptiert einen Terrier und nennt ihn Nestor, König von Pylos. Jeden Morgen wacht er in dem kleinen Messingbett oben auf, macht fünfzig Liegestütze, zieht zwei Paar Utah-Woolen-Mills-Socken an, knöpft eines seiner beiden Oberhemden bis oben zu und bindet sich eine seiner vier Krawatten um. Heute die grüne, morgen die blaue, mittwochs die mit den Enten, donnerstags die mit dem Pinguin. Schwarzer Kaffee. Haferflocken. Dann geht er in die Bibliothek.

Marian, die Bibliotheksdirektorin, entdeckt Online-Videos von einem über zwei Meter großen Professor einer Universität im Mittleren Westen, der Altgriechisch für Fortgeschrittene unterrichtet, und Zeno beginnt seine Tage meist an einem Tisch neben den Liebesromanen im Großdruck – Busen-und-Hintern-Abteilung, sagt Marian –, mit einem großen Kopfhörer über den Ohren, die Lautstärke aufgedreht.

Die Vergangenheit verschafft ihm buchstäblich Rückenschmerzen, so wie sie die Verben ins Dunkel schleudert. Da gibt es den Aorist, ein Tempus, das an keine Zeit gebunden scheint und in ihm den Wunsch auslösen kann, in einen Schrank zu kriechen und sich in der Dunkelheit zusammenzurollen. In den besten Momenten jedoch weichen die Worte zur Seite, und Bilder steigen durch die Jahrhunderte vor ihm auf – Schiffe mit Kriegern, die in ihren Rüstungen stecken, Sonnenlicht, das auf dem Meer glitzert, Götterstimmen im Wind, und fast ist es so, als wäre er wieder sechs Jahre alt, säße mit den Cunningham-Zwillingen vorm Kamin und triebe mit Odysseus in den Wellen vor der Küste von Scheria, hörte die Flut an die Felsen schlagen.

Eines schönen Nachmittags im Mai 2019, Zeno sitzt über seinem Schreibblock gebeugt, als ihn Marians neuer Angestellter Sharif, ein Kinderbuchbibliothekar, zur Empfangstheke ruft. Auf Sharifs Computerbildschirm ist eine Schlagzeile zu lesen: Neue Technologien enthüllen alte griechische Erzählung in einem bisher unlesbaren Buch.

Dem Artikel nach wurde eine Kiste mit stark beschädigten mittelalterlichen Manuskripten, die lange als unlesbar galten und jahrhundertelang in der herzoglichen Bibliothek in Urbino lagerten, in die vatikanische Bibliothek gebracht, darunter ein kleiner, in Ziegenleder gebundener, neunhundert Jahre alter Kodex, der immer wieder das Interesse von Wissenschaftlern erregt hat, aber Wasser, Schimmel und sein Alter hatten die Seiten zu einer festen Masse verbacken, sodass ihr Inhalt verborgen blieb.

Sharif vergrößert das zum Artikel gehörige Foto, auf dem ein runzliger schwarzer, nicht einmal mehr rechteckiger Pergamentziegel zu sehen ist. «Kommt mir vor wie ein Taschenbuch, das tausend Jahre in einer Toilette gelegen hat», sagt er.

«Und dann noch mal tausend Jahre draußen auf der Einfahrt», fügt Zeno hinzu.

Während des letzten Jahres nun, fährt der Artikel fort, ist es einem Team von Restauratoren mithilfe einer multispektralen Scan-Technologie gelungen, Teile des Originaltextes zu entziffern. Gleich sind Spekulationen ins Kraut geschossen. Was, wenn es sich um ein verlorenes Stück von Aischylos handelt, ein wissenschaftliches Traktat von Archimedes oder ein frühes christliches Evangeliar? Was, wenn es die Homer zugeschriebene, verlorene Komödie Margites ist?

Aber jetzt erklären die Wissenschaftler, sie haben genug Text wiederhergestellt, um sagen zu können, dass es eine Erzählung aus dem ersten Jahrhundert mit dem Titel Νεφελοκοκκυγία ist, von einem kaum bekannten Schriftsteller namens Antonios Diogenes.

Νεφέλη, Wolke, kόκκῡξ, Kuckuck, Zeno kennt den Titel. Er eilt zurück zu seinem Tisch, schiebt die Zettel beiseite und holt sein Exemplar von Rex’ Kompendium hervor. Seite 29, Eintrag 51.

Die verlorene griechische Erzählung Wolkenkuckucksland von Antonios Diogenes schildert die Reise eines Hirten zu einer Stadt in den Wolken und wurde wahrscheinlich gegen Ende des ersten Jahrhunderts geschrieben. Wir wissen aus einer byzantinischen Zusammenfassung aus dem neunten Jahrhundert, dass sie mit einem kurzen Prolog begann, in dem Diogenes einer kränkelnden Nichte erklärt, dass er die nachfolgende Geschichte nicht erfunden, sondern in einem Grab in der antiken Stadt Tyros gefunden habe, auf vierundzwanzig Tafeln aus Zypressenholz. Teils ein Märchen, teils eine Narrengeschichte, aber auch Science-Fiction und eine utopische Satire, so schreibt Photios in seiner Zusammenfassung, habe es eine der faszinierenderen Geschichten der alten Zeit sein können.

Zeno stockt der Atem. Er sieht, wie Athene durch den Schnee läuft, sieht Rex, ausgemergelt und durch ihre Mangelernährung gebeugt, wie er mit Kohle Verse auf ein Brett schreibt. θεοὶ sind die Götter, ἐπεκλώσαντο bedeutet, sie spannen, und ὄλεθρον ist der Untergang.

Besser noch, hat Rex an dem Tag im Café gesagt, eine alte Komödie, die unglaubliche Reise eines Narren bis an den Rand der Welt und wieder zurück. Das wäre mir das Liebste, verstehst du?

Marian steht in ihrer Bürotür und hält eine mit Cartoonkatzen bedruckte Tasse in der Hand.

Sharif sagt: «Geht es ihm gut?»

«Ich glaube», sagt Marian, «er ist glücklich.»

Er bittet Sharif, jeden Artikel zu dem Manuskript auszudrucken, den er finden kann. Die Tinte des Kodex stammt den Untersuchungen nach aus dem Konstantinopel des zehnten Jahrhunderts. Die vatikanische Bibliothek hat versprochen, dass jede wiederherstellbare Zeile digitalisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ein Professor aus Stuttgart meint, Diogenes könne der Borges der Alten Welt gewesen sein, beschäftigt mit Fragen um Wahrheit und Intertextualität, und dass die Scans ein Meisterwerk ans Licht bringen werden, einen Vorläufer von Don Quixote und Gullivers Reisen. Eine japanische Altphilologin dagegen schreibt, der Text sei wahrscheinlich unbedeutend, keiner der bekannten griechischen Romane, wenn man sie denn Romane nennen könne, komme an den literarischen Wert klassischer Dichtung und Dramatik heran. Nur weil etwas alt sei, schreibt sie, garantiere es nicht automatisch, irgendeine Qualität zu besitzen.

Der erste Scan, Tafel A genannt, wird am ersten Freitag im Juni ins Netz gestellt. Sharif druckt ihn auf dem gerade frisch gestifteten Ilium-Drucker aus, etwa doppelt so groß wie ein normales Manuskriptblatt, und bringt ihn Zeno an seinen Tisch bei den Sachbüchern. «Kannst du da etwas entziffern?»

Das Blatt sieht schmutzig aus, wurmzerfressen und mit Schimmel überzogen, als hätten Pilze, Zeit und Wasser zusammen ein Erasure-Gedicht geschrieben. Für Zeno jedoch hat der Scan etwas Magisches, die griechischen Buchstaben scheinen von tief unter dem Blatt heraufzuleuchten, weiß auf schwarz, weniger eine Handschrift als ihr Geist. Er muss daran denken, wie es war, als der Brief von Rex kam, dass er sich anfangs gar nicht den Gedanken gestatten konnte, dass Rex wirklich überlebt hatte. Manchmal sind die Dinge, die wir für verloren halten, nur versteckt und warten darauf, wiederentdeckt zu werden.

«Ich werde es versuchen.»

Während der ersten Sommerwochen, als die gescannten Seiten nach und nach ins Internet gelangen und von Sharifs großem Drucker auf Papier gebannt werden, ist Zeno euphorisch. Helles Junilicht strömt durch die Bibliotheksfenster auf die Ausdrucke. Die eröffnenden Passagen von Aethons Geschichte kommen ihm frisch, albern und übersetzbar vor. Er hat das Gefühl, sein Projekt gefunden zu haben, das eine, was er tun muss, bevor er stirbt. In seinen Tagträumen veröffentlicht er eine Übersetzung, widmet sie Rex’ Gedenken und gibt eine Party. Hillary kommt aus London mit einer Truppe kluger Leute, und alle in Lakeport sehen, dass er mehr als der Zeitlupen-Zeno ist, der pensionierte Schneepflugfahrer mit dem Kläffer und den fadenscheinigen Schlipsen.

Doch dann nimmt seine Begeisterung von Tag zu Tag immer weiter ab. Viele der Blätter sind so beschädigt, dass Sätze unlesbar werden, bevor sie ihren Sinn preisgeben. Schlimmer noch, die Restauratoren berichten, dass der Kodex irgendwann in seiner Geschichte zerlegt und dann in falscher Reihenfolge neu gebunden worden sein muss, sodass die beabsichtigte Abfolge der Ereignisse nicht mehr klar ist. Im Juli schließlich hat er das Gefühl, eines von Mrs Boydstuns Puzzles zusammensetzen zu wollen – ein Drittel der Teile ist unter dem Herd gelandet, und ein weiteres fehlt komplett. Er ist zu unerfahren, zu ungebildet, zu alt. Sein Kopf ist dem nicht gewachsen.

Schafficker, Tunte. Schwuchtel. Zero. Warum ist es so schwer, sich von den Stempeln zu befreien, die uns in unserer Jugend aufgedrückt worden sind?

Im August gibt die Klimaanlage der Bibliothek ihren Geist auf. Zeno schwitzt sein Hemd durch, während er sich mit einem besonders problematischen Teil des Manuskripts abmüht, in dem wenigstens sechzig Prozent der Worte ausgelöscht worden sind. Es geht irgendwie um einen Wiedehopf, der die Krähe Aethon zu einem Fluss aus Sahne führt. Und etwas wie ein Stechen, ein Zweifel – Unruhe? Rastlosigkeit? – unter seinen Flügeln.

Weiter kommt er nicht.

Als die Bibliothek schließt, sammelt Zeno seine Bücher und Zettel zusammen, Sharif schiebt die Stühle unter die Tische, und Marian macht das Licht aus. Draußen riecht es nach Rauch.

«Da gibt es Profis, die daran arbeiten», sagt Zeno, als Sharif die Tür abschließt. «Richtige Übersetzer. Leute mit tollen Abschlüssen, die wirklich wissen, was sie tun.»

«Könnte sein», sagt Marian. «Aber keiner von denen ist wie du.»

Draußen auf dem See rauscht ein Boot vorbei, mit Lautsprechern, aus denen Bässe herüberdröhnen. Ein heißer, silbriger Druck hängt in der Luft. Die drei bleiben bei Sharifs Isuzu stehen, und Zeno hat das Gefühl, der Geist von etwas bewegt sich durch die Hitze, unsichtbar, trügerisch. Über dem Skihang auf der anderen Seite des Sees lodert eine blaue Gewitterwolke.

«Im Krankenhaus», sagt Sharif und steckt sich eine Zigarette an, «bevor sie gestorben ist, hat meine Mutter immer gesagt: ‹Hoffnung ist die Säule, die die Welt oben hält.›»

«Von wem stammt das?»

Sharif zuckt mit den Schultern: «An manchen Tagen sagte sie, es sei von Aristoteles, dann wieder war es von John Wayne. Vielleicht hat sie es aber auch selbst erfunden.»