Die Argos

Missionsjahr 65
Tag 325 im Gewölbe Eins

Konstance

Wochen sind vergangen, seit Konstance die kleine, marode Bibliothek im Atlas gefunden hat, und sie hat sorgfältig drei Viertel, die Tafeln Alpha bis Sigma, von Zeno Ninis’ Übersetzung im goldenen Buch auf der Bühne der Kinderbuchabteilung auf ihre Nahrungssack-Zettel im Gewölbe kopiert. Mehr als hundertundzwanzig von ihnen mit ihrer Handschrift bedecken den Boden um Sybil herum, alle voller Erinnerungen an die Abende in Farm 4, an denen sie der Stimme ihres Vaters lauschte.

… ich rieb mich von Kopf bis Fuß mit der Salbe ein, die sie benutzt hatte, nahm drei Prisen Weihrauch …

… selbst wenn dir Flügel wüchsen, dummer Fisch, könntest du nicht an einen Ort fliegen, den es nicht gibt …

… er, der alles weiß, was an Wissen je niedergeschrieben worden ist, weiß nur das – dass er nichts weiß.

Heute Abend sitzt sie auf dem Rand ihrer Pritsche, mit Tinte beschmiert und müde, als das Licht schwächer wird. Das sind die schwersten Stunden, wenn DayLight zu NoLight wird. Jedes Mal trifft sie die Stille außerhalb des Gewölbes aufs Neue, wo sich, wie sie fürchtet, seit mehr als zehn Monaten kein lebender Mensch bewegt hat. Und die Stille dahinter, hinter der Außenhaut der Argos, die sich in für den Menschen unbegreifliche Fernen erstreckt. Sie rollt sich zusammen und zieht sich die Decke bis ans Kinn.

Gehst du schon schlafen, Konstance? Du hast seit heute Morgen nichts gegessen.

«Ich esse etwas, wenn du die Tür aufmachst.»

Wie du weißt, habe ich noch nicht ermitteln können, ob die Verseuchung außerhalb des Gewölbes weiterbesteht, und da wir festgestellt haben, dass du hier sicher bist, muss ich die Tür geschlossen halten.

«Es scheint gefährlich genug hier drin zu sein. Ich esse, wenn du die Tür öffnest. Wenn nicht, hungere ich mich zu Tode.»

Es tut mir weh, dich so reden zu hören, Konstance.

«Dir kann nichts wehtun, Sybil. Du bist nichts als ein Bündel Fasern in einer Röhre.»

Dein Körper braucht Nahrung, Konstance. Stell dir eines deiner liebsten …

Konstance verstopft sich die Ohren. Wir haben alles an Bord, haben die Erwachsenen gesagt, was wir je brauchen werden. Und alles, was wir selbst nicht lösen können, wird Sybil für uns lösen. Aber das war nur eine Geschichte, die sie erzählt haben, um sich Mut und Trost zuzusprechen. Sybil weiß alles, und doch weiß sie nichts. Konstance nimmt die Zeichnung, die sie von der Stadt in den Wolken gemacht hat, und streicht mit dem Finger über die getrocknete Tinte. Warum hat sie gedacht, dieses alte Buch neu zu erschaffen, würde ihr irgendetwas eröffnen? Für welchen Leser tut sie es? Wird es nach ihrem Tod nicht für Jahrhunderte in diesem Gewölbe liegen?

Ich zerfalle, denkt sie. Ich löse mich auf. Ich bin eine Närrin in einer Tretmühle, die durch den Geist eines Planeten stolpert, der zehn Billionen Kilometer hinter mir liegt, und nach Antworten sucht, die es nicht gibt.

Jenseits der Mühlsteine ihrer Gedanken erhebt sich ihr Vater, zupft sich ein vertrocknetes Blatt aus dem Bart und lächelt. Aber das Schöne an einem Narren ist, sagt er, dass er nie weiß, wann er aufgeben muss. Es war Großmutter, die das gesagt hat.

Sie steigt zurück auf ihren Perambulator, berührt ihren Vizer und eilt zu einem Bibliothekstisch. Wer waren die fünf Kinder, schreibt sie auf den Zettel, die Zeno Ninis am 20. Februar 2020 in der Stadtbibliothek von Lakeport gerettet hat?