Lakeport, Idaho

August 2019

Zeno

Ende August zerstören zwei Brände in Oregon vierhunderttausend Hektar Wald, und der Rauch treibt bis nach Lakeport hinein. Der Himmel nimmt die Farbe von Kitt an, und wer auch immer nach draußen geht, stinkt wie ein Lagerfeuer, wenn er wieder zurückkehrt. Die Außenbereiche von Restaurants werden geschlossen, Hochzeiten nach drinnen verlegt, Schulsport im Freien abgesagt. Die Luft gilt als zu gefährlich für Kinder, um draußen zu spielen.

Nach Schulschluss wird die Bibliothek von Kindern überrannt, die sonst nirgends hinkönnen. Zeno an seinem Tisch, hinter seinem Block, seinen Zetteln und Notizen, kämpft sich durch seine Übersetzung. Auf dem Boden neben ihm sitzt ein rothaariges Mädchen in Shorts und mit Gummistiefeln, lässt Kaugummiblasen platzen und blättert durch Gartenbücher. Ein Stück dahinter drückt ein muskulöser Bursche mit blonder Löwenmähne den Hebel des Trinkwasserbrunnens mit dem Knie herunter und schöpft sich das Wasser mit beiden Händen über den Kopf.

Zeno schließt die Augen. Da nagt ein Kopfschmerz in ihm. Als er sie wieder öffnet, ist Marian da.

«Erstens», sagt sie, «haben diese Feuer meinen Arbeitsplatz zu einem Abenteuerspielplatz gemacht. Zweitens, die Klimaanlage im Fenster oben klingt, als hätte sie jemand mit einem Blechsandwich gefüttert. Drittens ist Sharif zu Bergesen gefahren, um eine neue zu kaufen, und ich muss da oben mit etwa zwanzig zuckergetriebenen Wilden fertigwerden.» Wie auf Stichwort kommt ein kleiner Junge auf einem leicht ramponierten Sitzsack die Treppe hinter ihr heruntergerutscht, landet auf den Knien und sieht grinsend zu ihr hoch.

«Viertens, soweit ich weiß, verbringst du schon die ganze Woche mit dem Versuch zu entscheiden, ob du deinen betrunkenen Schafhirten ‹ungebildet›, ‹einfach› oder ‹ahnungslos› nennen willst. Wir haben hier ein paar Fünftklässler, Zeno. Für die nächsten paar Stunden noch. Würdest du mir helfen?»

«‹Ungebildet› und ‹ahnungslos›, das ist ein ziemlicher Unterschied …»

«Zeig ihnen, woran du arbeitest. Oder zauber ihnen was vor, mach irgendwas. Bitte.»

Bevor er sich eine Entschuldigung ausdenken kann, zerrt Marian den triefenden Burschen vom Trinkwasserbrunnen an seinen Tisch.

«Alex Hess, das hier ist Mr Zeno Ninis, und der wird dir jetzt etwas Cooles zeigen.»

Der Junge hebt einen von den Faksimileausdrucken an, und zehn, zwölf von Zenos Zetteln trudeln wie verletzte Vögel auf den Teppich.

«Was ist das? Alienschrift?»

«Sieht russisch aus», sagt die Rothaarige mit den Gummistiefeln, die jetzt auch mit am Tisch steht.

«Das ist Griechisch», sagt Marian und schiebt noch einen Jungen und zwei weitere Mädchen an Zenos Tisch. «Eine sehr alte Geschichte. Da gibts Zauberer in Walfischen, Wächtereulen, die Rätsel aufgeben, und eine Stadt in den Wolken, in der jeder Wunsch wahr wird, und sogar …», Marian senkt die Stimme und sieht sich dramatisch über die Schulter, «Fischer mit drei Penissen.»

Zwei der Mädchen kichern. Alex Hess feixt. Wassertropfen fliegen aus seinen Haaren auf den Ausdruck.

Zwanzig Minuten später sitzen die fünf Kids im Kreis um Zenos Tisch und halten einige der Ausdrucke in Händen. Ein Mädchen mit einem Bob, der aussieht wie mit einem Rasentrimmer geschnitten, hebt die Hand und fängt gleich an zu reden: «Also okay, wie Sie sagen, erlebt dieser Typ, dieser Ethan, alle diese irren Abenteuer …»

«Aethon.»

«Sollte Ethan heißen», sagt Alex. «Ist leichter.»

«… und die Geschichte ist vor ’ner Million Jahre auf vierundzwanzig Holzdinger geschrieben worden, und die sind mit in sein Grab gekommen, als er gestorben ist? Und dann werden sie Hunderte Jahre später von diesem Dio-Soundso auf dem Friedhof ausgebuddelt? Und der schreibt die ganze Geschichte noch mal auf Hunderte Stücke Papier …»

«Papyrus.»

«… und schickt sie einer Nichte, die so, also im Sterben liegt?»

«Genau», sagt Zeno und ist gleichzeitig konfus, begeistert und erschöpft. «Wobei ihr euch erinnern solltet, dass es da noch keine Post gab so wie bei uns heute. Wenn es diese Nichte tatsächlich gab, dann hat Diogenes das Manuskript wahrscheinlich einem Freund mitgegeben, dem er vertraute und der …»

«Und dann wurde dieses Manuskript in Konsta-wo-auch-immer noch mal abgeschrieben, und die Kopie ging noch mal für ’ne Million Jahre verloren, bis sie jetzt in Italien wiedergefunden wurde, aber es ist immer noch ein Riesenchaos, weil so viele Worte fehlen?»

«Genau so ist es.»

Ein dürrer Junge namens Christopher zappelt auf seinem Stuhl herum. «Und diese alte Geschichte jetzt auf Englisch zu übersetzen, ist echt schwer, und Sie haben nur Teile davon und wissen nicht mal, wie die Reihenfolge ist?»

Rachel Rothaar dreht ihren Ausdruck mal so, mal so hin. «Und die Teile, die Sie haben, sehen aus, als hätte irgendjemand Nutella draufgeschmiert.»

«Genau.»

«Und», fragt Christopher, «warum jetzt das Ganze?»

Alle sehen ihn an: Alex, Rachel, der kleine Christopher, Olivia mit dem Rasentrimmer-Schnitt und ein stilles Mädchen mit braunen Augen, brauner Haut, braunen Sachen und pechschwarzem Haar, Natalie.

Zeno sagt: «Habt ihr je einen Superhelden-Film gesehen? Wo der Held immer wieder zusammengeschlagen wird und es scheint, als ob er …»

«Oder sie», sagt Olivia.

«… oder sie es nie überleben wird? Genau das sind diese Manuskriptseiten: Superhelden. Stellt euch mal die Wahnsinnsschlachten vor, die sie in den letzten zweitausend Jahren überlebt haben: Überschwemmungen, Feuersbrünste, Erdbeben, gescheiterte Regierungen, Diebe, Barbaren, religiöse Eiferer, und wer weiß, was sonst noch. Wir wissen, dass es eine Kopie der Geschichte irgendwie zu einem Schreiber in Konstantinopel geschafft hat, neun oder zehn Jahrhunderte, nachdem sie zum ersten Mal aufgeschrieben worden ist, und alles, was wir über diesen Schreiber wissen …»

«Oder diese Schreiberin», sagt Olivia.

«… ist, dass er, oder sie, diese ordentliche Handschrift hatte, die sich leicht nach links neigt. Aber jetzt haben die wenigen Leute, die diese alte Schrift verstehen, die Chance, diese Superhelden neu zum Leben zu erwecken, damit sie vielleicht noch ein paar Jahrzehnte weiterkämpfen können. Das Vergessen liegt immer auf der Lauer, wisst ihr? Und in euren Händen zu halten, was ihm so lange entgangen ist …»

Er wischt sich verlegen über die Augen.

Rachel fährt mit dem Finger über die nur schwach erkennbaren Zeilen vor sich. «Das ist wie bei Ethan.»

«Aethon», sagt Olivia.

«Der Dummkopf, von dem sie uns erzählt haben? In der Geschichte? Obwohl er immer wieder auf den falschen Weg kommt, in etwas falsches anderes verwandelt wird, gibt er nie auf. Er überlebt.»

Zeno sieht sie an, und ein neues Verständnis beginnt in ihm aufzukeimen.

«Erzählen Sie uns doch noch etwas», sagt Alex, «von den Fischern mit den drei Penissen.»

An dem Abend am Esstisch, mit Nestor, dem Herrscher von Pylos, auf den Füßen, breitet Zeno seine Zettel vor sich aus. Wohin er auch blickt, sieht er die Unzulänglichkeiten seiner frühen Versuche. Er war bemüht, kluge Anspielungen zu erkennen, syntaktische Untiefen zu umschiffen und jedes einzelne Wort richtig wiederzugeben. Aber was immer diese komische alte Komödie auch mal gewesen ist, sie will nicht angemessen, erhaben und immer richtig sein. Es ist eine Geschichte, die dazu diente, einem sterbenden Mädchen Trost zu spenden. All die akademischen Kommentare, die er sich zu lesen gezwungen hat – schrieb Diogenes eine anspruchslose Komödie oder eine genau durchdachte Metafiktion? –, angesichts seiner Fünftklässler, die nach Kaugummi, verschwitzten Strümpfen und Rauch riechen, sind diese Debatten so sinn- wie nutzlos. Diogenes, wer immer er gewesen sein mag, versuchte vor allem etwas schaffen, das ein Kind in seinen Bann zog, das ihm half, sein Schicksal hinter sich zu lassen.

Eine große Last fällt ihm von den Schultern. Er kocht sich einen Kaffee, nimmt sich einen neuen Block und legt Tafel β vor sich hin. Wort, Lücke, Lücke, Lücke, Wort – es sind einfach nur Zeichen auf der Haut einer lange toten Ziege. Aber darunter zeichnet sich etwas ab.

Ich bin Aethon, ein einfacher Hirte aus Arkadien, und die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist so lächerlich, so unglaublich, dass du nie auch nur ein Wort davon glauben wirst – und doch ist sie wahr. Denn ich, den sie ein Spatzenhirn und einen Einfaltspinsel genannt haben, ja, ich, der Schwachkopf, der Schafskopf, der einfältige Aethon, ich bin einst bis an den Rand der Erde und darüber hinaus bis zu den schimmernden Toren des Wolkenkuckuckslandes gereist …