Die Argos

Missionsjahr 65
Tag 325–340 in Gewölbe Eins

Konstance

Der Zettel landet vor ihr auf dem Tisch.

Christopher Dee
Olivia Ott
Alex Hess
Natalie Hernandez
Rachel Wilson

Eines der Kinder, die an jenem 20. Februar 2020 in der Stadtbibliothek von Lakeport als Geisel festgehalten wurden, war Rachel Wilson. Ihre Urgroßmutter. Deshalb lag das Buch mit Zenos Übersetzung auf Vaters Nachttisch. Seine Großmutter war mit im Spiel gewesen.

Wenn Zeno Ninis Rachel Wilson am 20. Februar 2020 nicht das Leben rettet, wird ihr Vater nicht geboren und meldet sich nicht für die Argos. Dann gäbe es Konstance nicht.

Ich war so weit gereist, und es war alles so großartig, nur …

Wer war Rachel Wilson, wie lange hat sie gelebt, und wie hat sie sich jedes Mal gefühlt, wenn sie das Buch ansah, das Zeno Ninis übersetzt hatte? Hat sie sich je an den windigen Abenden in Nannup mit Konstances Vater hingesetzt und ihm Aethons Geschichte vorgelesen? Konstance steht auf, läuft im Kreis um den Tisch im Atrium und ist sich jetzt sicher, dass sie noch etwas anderes übersieht. Etwas anderes, das direkt vor ihren Augen verborgen liegt. Noch etwas, das Sybil nicht weiß. Sie ruft den Atlas aus dem Regal. Erst nach Lagos, zu dem Platz in der Stadt nahe beim Meer, wo strahlend weiße Hotels an drei Seiten um sie herum in die Höhe ragen und vierzig Kokospalmen in schwarz-weißen Kübeln stehen. Willkommen, steht da auf einem Schild, im New Intercontinental.

Runde um Runde dreht Konstance in der immer gleichen nigerianischen Sonne. Wieder befällt sie dieses Gefühl und nagt an den Rändern ihres Bewusstseins, dass hier etwas nicht stimmt. Die Narben auf den Stämmen der Palmen, die alten, trockenen Blatthüllen, die immer noch an den Ansätzen der Palmwedel hängen, die Kokosnüsse hoch über ihr und die, die unten in die Kübel gefallen sind: Keine von ihnen, wie sie jetzt sieht, hat die drei Keimlöcher, die ihr Vater ihr gezeigt hat. Zwei Augen und einen Mund, das Gesicht eines kleinen Seemannes, der ein Liedchen pfeifend um die Welt segelt – die gibt es hier nicht.

Die Bäume sind computergeneriert. Sie waren ursprünglich gar nicht da.

Sie denkt an Mrs Flowers, die am Fuß der Theodosianischen Mauer in Konstantinopel steht. Geh nur lange genug hier herum, Liebes, sagte sie, und du wirst ein, zwei Geheimnisse entdecken.

Zwanzig Schritte weiter lehnt das Fahrrad eines Händlers, auf das vorn eine weiße Lade montiert ist, an einem der Kübel. Auf die Lade sind Cartoon-Eulen aufgemalt, die Eiswaffeln in den Klauen halten. In der Lade selbst liegen Dutzende Getränkedosen in einem Bett aus Eis. Das Eis schimmert, die Eulen scheinen ihr zublinzeln zu wollen. Es ist wie bei der Büchereule in Lakeport: Das alles scheint viel klarer, lebendiger als die Dinge rundum.

Sie greift nach einer der Dosen, und ihre Finger stoßen auf etwas Festes, Kaltes, Nasses. Als sie die Dose aus dem Eis hebt, zerspringen stumm Tausende Fenster in den Hotels um sie herum. Die Platten auf dem Platz verschwinden, die Palmen lösen sich in Luft auf.

Überall erscheinen Leute, sitzen, stehen oder liegen, und zwar nicht auf dem schönen Platz einer Stadt, sondern auf rissigem, schmutzigem Beton, einige ohne Hemd, viele ohne Schuhe, lebende Skelette. Manche stecken so tief in provisorischen Zelten aus blauer Plane, dass sie nur ihre Waden und schmutzverkrusteten Füße sehen kann.

Alte Autoreifen. Müll. Abwasserschlamm. Ein paar Männer sitzen auf Plastikkrügen, in denen wohl mal ein Getränk namens SunShineSix war. Eine Frau winkt mit einem leeren Reissack, und ein gutes Dutzend ausgemergelter Kinder kauert auf einem Fleck Erde. Nichts bewegt sich so wie in Lakeport, nachdem sie die Eule draußen vor der alten Bibliothek berührt hatte. Die Leute sind nichts als erstarrte Abbilder, und Konstances Hände stoßen widerstandslos durch sie hindurch, als wären es nur Schatten.

Sie beugt sich vor, blickt in die verschwommenen Kindergesichter. Was ist mit ihnen? Warum waren sie versteckt?

Als Nächstes kehrt sie zu dem Joggingpfad außerhalb von Mumbai zurück, den sie vor einem Jahr gefunden hat. Das schwere Grün der Mangroven verläuft wie eine unheilvolle Wand daran entlang. Sie geht an der Mangrovenwand auf und ab, einen Kilometer in die eine, dann zurück in die andere Richtung, bis sie schließlich fündig wird: Eine kleine Eule ist auf den Weg gemalt, sie berührt sie, und die Mangroven verschwinden. Eine Wand aus rotbraunem Wasser, voller Schutt und Müll bricht über alles herein, löscht die Menschen aus, überflutet den Pfad und steigt an den Seiten der Wohntürme an. Boote liegen an den Balkonen im ersten Stock vertäut, eine Frau ist auf dem Dach eines untergegangenen Autos erstarrt, die Arme Hilfe suchend in die Höhe gereckt, der Schrei ist aus ihrem Gesicht gepixelt.

Konstances Magen droht zu rebellieren, sie zittert am ganzen Leib und flüstert: «Nannup», steigt auf, die Erde dreht sich, stellt sich auf den Kopf, und sie landet in der einst idyllischen, kleinen australischen Viehzüchterstadt. Auf den verblichenen Spruchbändern, die über die Straße gespannt sind, steht:

Trage deinen Teil bei.
Besiege Tag Null.
Du kommst mit zehn Litern am Tag aus.

Vor dem Gemeindehaus, im Schatten der Schirmpalmen, wachsen die Begonien nach wie vor frisch und gesund in ihren Kästen. Das Gras ist so grün wie zuvor, fünfmal grüner als alles im Umkreis von fünfzig Kilometern. Der Springbrunnen funkelt, die blühenden Bäume recken sich stolz in den Himmel. Aber wie auf dem Platz in Lagos, wie auf dem Joggingpfad in Mumbai, stimmt auch hier etwas nicht.

Dreimal geht Konstance um den Block, und am Ende findet Konstance sie auf einer Seitentüre des Gemeindehauses: eine hingesprühte Eule mit einer Goldkette um den Hals und einer Krone schräg auf dem Kopf.

Sie berührt sie. Das Gras wird braun, die Bäume fliegen weg, die Farbe blättert vom Gemeindehaus, und das Wasser des Brunnens verfliegt. Ein Traktor mit einem Zwanzigtausend-Liter-Tank taucht schimmernd aus dem Nichts auf, umgeben von bewaffneten Männern, und dahinter erstreckt sich eine endlose Schlange verstaubter Autos ins Nichts.

Hunderte Leute mit leeren Krügen und Kanistern stemmen sich gegen eine mit Ketten gesicherte Barrikade. Die Atlaskameras haben einen Mann mit einer Machete im Sprung von der Barrikade eingefangen, und ein Soldat feuert sein Gewehr auf ihn ab. Etliche Leute liegen auf der Erde.

Am Hahn des Tanks zerren zwei Männer an demselben Plastikkanister, sämtliche Sehnen in ihren Armen treten hervor. Konstance erblickt unter den Körpern auf der anderen Seite der Barriere Mütter und Großmütter mit Babys auf dem Arm.

Das ist es. Deshalb ist ihr Vater hier weg.

Als sie vom Perambulator steigt, ist bereits wieder DayLight im Gewölbe. Sie humpelt zwischen ihren Zetteln hindurch, zieht den Wasserschlauch aus dem Essensdrucker und steckt ihn sich in den Mund. Ihre Hände zittern. Ihre Strümpfe sind endgültig hinüber, aus den vielen Löchern ist ein großes geworden, und zwei ihrer Zehen bluten.

Du bist gerade fünfzehn Kilometer gelaufen, Konstance, sagt Sybil. Wenn du nicht schläfst und nicht richtig isst, werde ich deinen Zugang zur Bibliothek einschränken.

«Ich werde essen und mich ausruhen, ich verspreche es.» Sie sieht ihren Vater mit seinen Pflanzen vor sich, wie er einen Nebelsprüher neu ausrichtet und sich das Wasser auf den Handrücken sprühen lässt. «Hunger», sagte er, und sie hatte das Gefühl, er redete nicht mit ihr, sondern mit den Pflanzen, «den kann man nach einer Weile vergessen. Aber Durst? Je schlimmer er wird, desto mehr denkst du daran.»

Sie setzt sich auf den Boden, untersucht einen ihrer blutigen Zehen und muss an die Geschichten ihrer Mutter über den verrückten Elliot Fischenbacher denken, der so lange im Atlas herumgewandert ist, bis ihm die Füße aufplatzten und es dann auch um seine geistige Gesundheit geschehen war. Der verrückte Elliot Fischenbacher, der sich durch die Außenwand der Argos hacken wollte und alle und alles in Gefahr brachte. Der genug SleepDrops hortete, um sich das Leben zu nehmen.

Sie isst, wäscht sich das Gesicht, bürstet sich die Haare und macht ihre Grammatik- und Physikaufgaben – tut, was immer Sybil will. Das Atrium der Bibliothek sieht hell und ruhig aus. Der Marmorboden glänzt, als wäre er über Nacht poliert worden.

Als sie mit ihren Aufgaben fertig ist, setzt sie sich an einen der Tische, und Mrs Flowers’ kleiner Hund legt sich auf ihre Füße. Mit zitternden Händen schreibt Konstance: Wie wurde die Argos konstruiert?

Aus den Unmengen Büchern, Aufstellungen und Diagrammen, die sich um den Tisch sammeln, sondert sie alles aus, was von der Ilium Corporation gesponsert wurde: Hochglanzdarstellungen der Technologie des nuklearen Pulsantriebs, Materialanalysen, Abteildesigns, Kalkulationen der Transportkapazitäten, Pläne des Wasseraufbereitungssystems. Schaubilder der Funktionsweisen der Essensdrucker, Aufnahmen der einzelnen Module des Schiffs, die in einer erdnahen Umlaufbahn für die Montage vorbereitet wurden. Hunderte von Broschüren zur individuellen Auswahl der Crew, ihrem Transport, ihrer Quarantäne, dem sechsmonatigen Training und schließlich der Sedierung für den Start.

Die Zahl der Dokumente nimmt mit jeder Stunde weiter ab. Konstance kann keine unabhängigen Untersuchungen über die Möglichkeit finden, im Weltraum eine interstellare Arche zu konstruieren und mit ausreichender Geschwindigkeit auf die Reise zu schicken, um Beta Oph2 in 592 Jahren zu erreichen. Jedes Mal, wenn jemand infrage zu stellen beginnt, ob die Technologien weit genug entwickelt sind, die Thermalsysteme ausreichen werden, ob eine menschliche Crew vor der andauernden kosmischen Strahlung schützbar ist, die nötige Schwerkraft erzeugt werden kann, ob sich eine solche Mission mit den Gesetzen der Physik in Einklang bringen lässt und die Kosten gestemmt werden können, schweigen die Dokumente. Akademische Stellungnahmen brechen mitten im Satz ab. Kapitelnummern springen von zwei auf sechs oder vier auf neun, ohne etwas dazwischen zu enthalten.

Zum ersten Mal seit ihrem Bibliothekstag ruft Konstance den Katalog der bekannten Exoplaneten von seinem Regalplatz herbei. Seite um Seite, Zeile um Zeile die bekannten Welten jenseits der Erde, rosa, weinrot, braun, blau rotieren ihre kleinen Bilder auf der Seite. Sie folgt mit dem Finger der Zeile bis zu Beta Oph2, der sich langsam auf der Stelle dreht. Grün. Schwarz. Grün. Schwarz.

Entfernung 4,0113 x 1013 Kilometer, 4,24 Lichtjahre.

Konstance blickt hinaus in das hallende Atrium und hat das Gefühl, dass es von unzähligen unsichtbaren, haarfeinen Rissen durchzogen wird. Sie nimmt einen Zettel und schreibt: Wo wurde die Crew der Argos vor dem Start versammelt?

Ein einzelnes Blatt fällt vom Himmel:

Qaanaaq

Im Atlas schwebt sie langsam auf die Nordküste Grönlands herab, dreitausend Meter, zweitausend Meter. Qaanaaq ist ein baumloses Hafendorf, eingezwängt zwischen dem Meer und Hunderten Quadratkilometern Moränensedimenten. Malerische kleine Häuser, viele eingefallen, weil sie auf tauendem Permafrost errichtet worden sind, grün, hellblau und senfgelb angemalt, mit weißen Fensterrahmen. Von Felsen eingefasst, ein Hafen am Wasser, ein paar Docks, ein paar Schiffe und ein großes Durcheinander an Baumaterial.

Sie braucht Tage, um dahinterzukommen. Sie isst, schläft, ergibt sich Sybils Unterricht, sucht, sucht wieder, dreht verschiedene Runden um Qaanaaq, lässt den Blick übers Wasser schweifen. Schließlich entdeckt sie es: In der Gegend von Baffin Bay, dreizehn Kilometer außerhalb der Stadt, auf einer kahlen Insel ganz aus Fels und Flechten, die wahrscheinlich nur ein Jahrzehnt zuvor noch von Eis bedeckt war, steht ein einsames rotes Haus mit einem Fahnenmast davor. Wie eine von Kinderhand gemalte Scheune. Unten vor dem Fahnenmast steht eine kleine hölzerne Eule, nicht größer als ihr Schenkel, die aussieht, als schliefe sie.

Konstance geht zu ihr, berührt sie, und die Eule öffnet die Augen.

Lange Betonanleger reichen ins Meer. Ein fünf Meter hoher Zaun, oben mit Stacheldraht bewehrt, ragt hinter dem kleinen roten Haus aus der Erde und läuft um die ganze Insel herum.

Zutritt verboten, steht in vier Sprachen auf Schildern daran. Eigentum der Ilium Corporation.

Hinter dem Zaun sind riesige industrielle Anlagen zu erkennen. Kräne, Anhänger, schwere Lastwagen, Berge von Baumaterial überall zwischen den Felsen. Sie geht so weit am Zaun entlang, wie es die Software erlaubt, steigt dann in die Luft auf und schwebt darüber. Sie sieht Betonmischer, Männer mit Bauhelmen, einen Bootsschuppen und eine in den Fels gehauene Straße. In der Mitte des Komplexes erhebt sich ein riesiges rundes, weißes Gebilde, ohne Fenster und ganz offenbar nur halb fertiggestellt.

Auswahl der Crew, Transport, Quarantäne, sechsmonatiges Training, Sedierung für den Start.

Da bauen sie das Ding, das einmal die Argos werden soll. Aber es gibt keine Raketen. Keine Startrampe. Das Schiff ist nicht aus einzelnen Modulen im All zusammengesetzt worden: Es ist nie zu seiner Reise aufgebrochen. Es ist immer noch auf der Erde.

Sie blickt in die Vergangenheit, sieht Bilder, die vor siebzig Jahren aufgenommen und dann von der Ilium Corporation aus dem Atlas gestrichen worden sind. Aber sie sieht auch auf sich selbst. Ihr Zuhause. All diese Jahre. Sie berührt ihren Vizer, verlässt den Perambulator. Ein Sturmwind wirbelt in ihr auf.

Sybil sagt, hattest du einen schönen Spaziergang, Konstance?