Die Stadtbibliothek von Lakeport

20. Februar 2020, 18:39 Uhr

Zeno

Die Kinder sitzen mit ihren Skripten auf dem Schoß hinter den Regalen: Christopher Dee mit seinen zusammengekniffenen blauen Augen und seiner so reizenden Art, aus dem Mundwinkel zu reden. Alex Hess, der kräftige Kerl mit der Löwenmähne, der, egal wie kalt es ist, in seinen Sportshorts herumläuft und gegen wirklich alles völlig unempfindlich zu sein scheint, nur gegen Hunger nicht, und dessen Stimme überraschend hoch und seidig klingt. Natalie mit ihren rosa Kopfhörern um den Hals, die ein wirkliches Gespür für das Altgriechische hat. Die fast schon furchterregend clevere Olivia Ott mit ihrem kurzen Bob in ihrem Kaleidoskop-Kleid, mit dem sie sich solche Mühe gegeben hat. Und schließlich die rothaarige, spindeldürre Rachel, bäuchlings auf dem Boden liegt sie, umgeben von Requisiten, und fährt mit dem Bleistift über die Zeilen des Textes, den die Schauspieler weiter lesend einüben.

«Auf der einen Seite gibt es Tanz, auf der anderen den Tod», sagt Alex und tut so, als blätterte er in einem Buch. «Seite um Seite um Seite.»

Die Kinder wissen Bescheid. Sie wissen, unten ist jemand, und dass sie in Gefahr sind. Sie sind tapfer, unglaublich tapfer, lesen in ihrem Versteck hinter den Regalen leise das Stück und versuchen, alldem durch die Geschichte zu entkommen. Eigentlich sollten sie längst zu Hause sein. Es scheint eine Ewigkeit her, seit sie Sharif nach oben haben rufen hören, dass er den Rucksack zur Polizei hinausbringen werde. Seitdem haben sie nichts mehr gehört, und Marian ist auch nicht mit ihren Pizzas gekommen. Niemand hat ihnen mit einem Megafon erklärt, dass alles vorbei sei.

Ein scharfer Schmerz sticht Zeno in die Hüfte, als er aufsteht.

«Lies das Buch nur bis zu Ende, kleine Krähe», flüstert Göttin Olivia, «dann kennst du die Geheimnisse der Götter, kannst ein Adler werden oder eine kluge, kräftige Eule, frei von Verlangen und Sorgen.»

Er hätte Rex seine Liebe gestehen sollen. Im Lager Fünf hätte er es tun sollen. In London. Er hätte es Hillary, Mrs Boydstun und jeder Frau im Valley County gestehen sollen, mit der er ein erbärmliches Rendezvous hatte. Er hätte mehr riskieren sollen. Sein ganzes Leben hat er dazu gebraucht, um sich zu akzeptieren, wie er ist, und es überrascht ihn, dass er jetzt, da er es kann, sich kein einziges weiteres Jahr mehr wünscht, nicht einmal einen Monat mehr. Sechsundachtzig Jahre sind genug. In einem Leben sammelst du so viele Erinnerungen, sichtest sie immer wieder, wägst Folgen ab, verdrängst Schmerzen, und trotzdem, wenn du so ein Alter erreichst, schleppst du eine unglaubliche Menge mit dir herum, eine Last, so schwer wie ein Kontinent, und irgendwann wird es Zeit, sie aus dieser Welt zu tragen.

Rachel hebt die Hand, flüstert: «Halt», und blättert die Seiten ihres Skripts durch. «Mr Ninis? Die beiden schwer ramponierten Tafeln? Die mit den wilden Zwiebeln und dem Tanzen? Ich glaube, wir haben sie an der falschen Stelle. Die gehören nicht ins Wolkenkuckucksland, die gehören nach Arkadien.»

«Was», sagt Alex, «redest du da?»

«Still», flüstert Zeno. «Bitte.»

«Es ist die Nichte», sagt Rachel. «Wir vergessen die Nichte. Wenn es am Ende darum geht, wie Mr Ninis sagt, dass die Geschichte weitergegeben wird, also nach und nach an ein weit entferntes, sterbendes Mädchen geschickt wird, warum sollte Aethon dann beschließen, oben in den Sternen zu bleiben und ewig zu leben?»

Göttin Olivia hockt sich in ihrem Paillettenkleid neben Rachel. «Aethon liest das Buch also nicht ganz durch?»

«So kommt es, dass er seine Geschichte auf Tafeln aufschreibt», sagt Rachel. «Und sie mit ihm begraben werden. Weil er nicht im Wolkenkuckucksland bleibt. Er beschließt … Was ist das richtige Wort, Mr Ninis?»

Das Schlagen von Herzen, das Blinzeln von Augen. Zeno sieht, wie er hinaus auf den zugefrorenen See geht. Er sieht Rex im verregneten Licht des Tea-Rooms, eine Hand zitternd über der Untertasse. Die Kinder blicken auf ihre Skripte.

«Du meinst», sagt Alex, «er geht nach Hause.»

Seymour

Er sitzt mit dem Rücken an die Wörterbücher gelehnt da, die Beretta auf dem Schoß. Weiß gleißendes Licht fällt durch die vorderen Fenster und lässt unheimliche Schatten über die Decke wandern. Die Polizei hat große Scheinwerfer aufgefahren.

Sein Telefon will nicht klingeln. Er blickt zu dem verwundeten Mann unten an der Treppe hinüber, der sich kein Stück bewegt und auch seinen Rucksack nicht gefunden hat. Es ist Essenszeit, und Bunny wird gerade Teller zu den Tischen im Pig N’ Pancake tragen, sie arbeitet jetzt seit elf Stunden. Sie wird jemanden angebettelt haben, sie vom Sachse Inn hinzubringen, weil er sie nicht abgeholt hat. Mittlerweile hat sie sicher gehört, dass etwas in der Stadtbibliothek passiert ist. Ein Dutzend Polizeiwagen muss da mit pulsierenden Lichtern vorbeigekommen sein. An allen Tischen werden sie darüber reden, auch in der Küche. Da hat sich einer in der Bibliothek verschanzt, einer mit einer Bombe.

Morgen, sagt er sich, wird er in Bishops Camp sein, hoch oben im Norden, wo die Krieger leben und ein Ziel haben, und Mathilda und er werden durch sonnige und schattige Flecken im Wald gehen.

Schritte auf der Treppe. Seymour hebt eine Seite seines Hörschutzes. Da kommt Zeitlupen-Zeno die letzten Stufen herunter, ein dünner alter Mann, der immer eine Krawatte trägt und am Tisch bei den Großdruck-Liebesromanen sitzt, halb versteckt hinter Haufen von Zetteln, die er vorsichtig einen nach dem anderen berührt. Wie ein Priester hockt er da immer, ein Priester, der vor etwas sitzt, das nur für ihn eine Bedeutung hat.

Zeno

Sharifs Hemd sitzt nicht richtig an seinem Körper, und es sieht so aus, als hätte jemand einen Eimer Farbe über ihm ausgegossen, aber Zeno hat noch Schlimmeres gesehen. Sharif schüttelt den Kopf: nicht. Zeno bückt sich kaum, berührt ihn an der Stirn, steigt über seinen Freund hinweg und geht in den Gang zwischen den Romanen und Sachbüchern.

Der Junge sitzt so reglos da, er könnte tot sein. Eine Pistole ruht auf seinem Knie. Ein grüner Rucksack steht auf dem Teppich bei ihm, daneben liegt ein Handy. Auf dem Kopf scheint er einen Hörschutz wie auf einem Schießstand zu tragen, ein Ohr ist bedeckt, das andere nicht.

Durch die Jahrhunderte taumeln Diogenes’ Worte: Ich war so weit gereist, und es war alles so großartig, nur …

«So jung», sagt Zeno.

… da regte sich ein Zweifel unter meinen Flügeln. Eine dunkle Rastlosigkeit flackerte …

Der Junge rührt sich nicht. «Was ist in dem Rucksack.»

«Bomben.»

«Wie viele?»

«Zwei.»

«Wie werden sie gezündet?»

«Per Telefon. Die kleben oben drauf.»

«Wann gehen sie hoch?»

«Wenn ich eins von beiden anrufe. Beim fünften Klingeln.»

«Aber du rufst sie nicht an. Oder?»

Der Junge hebt die Hand an seinen Hörschutz, als hoffte er, weitere Fragen auszublenden. Zeno muss daran denken, wie er auf seiner Strohmatte in Lager Fünf lag und wusste, dass Rex gerade in eines der leeren Fässer kroch, darauf wartete, Zeno in das andere kriechen zu hören, und dass Bristol und Fortier sie auf den Lastwagen hievten.

Er tritt weiter vor, nimmt den Rucksack und drückt ihn sich leicht an die Krawatte. Der Junge richtet den Lauf der Pistole auf ihn. Zenos Atem ist seltsam ruhig.

«Hat noch jemand die Nummern?»

Der Junge schüttelt den Kopf. Dann bilden sich Falten auf seiner Stirn, als würde ihm etwas bewusst. «Doch, einer noch.»

«Wer?»

Er zuckt mit den Schultern.

«Was du meinst, ist, dass noch jemand die Bomben hochgehen lassen kann?»

Die Andeutung eines Nickens.

Sharif sieht von der Treppe zu ihnen herüber, jede Faser des Körpers angespannt. Zeno schiebt die Arme unter die Trageriemen. «Mein Freund da drüben, der Kinderbuchbibliothekar? Er braucht ärztliche Hilfe. Ich werde das Telefon benutzen, um einen Krankenwagen zu rufen. Wahrscheinlich wartet draußen schon einer.»

Der Junge verzieht das Gesicht, als hätte jemand angefangen, laute, kreischende Musik zu spielen, die nur er hören kann. «Ich warte auf Hilfe», sagt er, aber nicht wirklich überzeugt.

Zeno geht hinüber zur Empfangstheke und nimmt den Telefonhörer hoch. Kein Freizeichen, nichts. «Ich brauche dein Telefon», sagt er. «Nur für den Krankenwagen. Mehr mache ich nicht damit, versprochen. Und ich gebe es dir gleich zurück. Dann warten wir, dass deine Hilfe kommt.»

Die Pistole bleibt auf Zenos Brust gerichtet, der Finger des Jungen liegt auf dem Abzug. Das Telefon liegt auf dem Boden. «Wir werden klare, bedeutungsvolle Leben führen», sagt er und blinzelt mit seinen großen Augen. «Wir werden völlig außerhalb der Maschine leben, auch wenn wir daran arbeiten, sie zu zerstören.»

Zeno nimmt seine linke Hand vom Rucksack. «Ich bücke mich jetzt und nehme mit einer Hand dein Telefon, okay?»

Sharif liegt angespannt unten an der Treppe. Die Kinder oben sind still. Zeno bückt sich. Der Pistolenlauf ist Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Seine Hand hat das Telefon fast erreicht, als im Rucksack, den er in den Armen hält, eines der Handys auf den Bomben zu klingeln beginnt.