Die Argos

Missionsjahr 65
Tag 341–370 in Gewölbe Eins

Konstance

«Sybil, wo sind wir?»

Wir sind auf dem Weg zu Beta Oph2.

«Mit welcher Geschwindigkeit sind wir unterwegs?»

Mit 7.734.958 Stundenkilometern. Du müsstest dich von deinem Bibliothekstag an unsere Geschwindigkeit erinnern.

«Bist du sicher, Sybil?»

Das ist eine Tatsache.

Sie blickt einen Moment lang in die Unmenge strahlender Zuflüsse der Maschine.

Konstance, geht es dir gut? Dein Puls ist ziemlich hoch.

«Ich fühle mich okay, danke. Ich gehe noch mal kurz in die Bibliothek.»

Sie durchsucht die Pläne, die ihr Vater während der Quarantäne der Stufe Zwei studiert hat. Die Technik der Argos, Lagerhaltung, Flüssigkeits-Recycling, Abfallverarbeitung, Sauerstoffproduktion. Pläne der Farmen, des Versorgungsraums, der Küchen. Es gibt fünf Bäder mit Duschen, zweiundvierzig Wohnabteile, Sybil im Zentrum. Keine Fenster, keine Treppen, keinen Eingang, keinen Ausgang, das ganze Schiff ist ein autarkes Grab. Vor sechsundsechzig Jahren wurde den ursprünglich fünfundachtzig Freiwilligen gesagt, sie gingen auf eine interstellare Reise, die ihre Lebenszeit um Jahrhunderte überdauern würde. Sie kamen nach Qaanaaq, wurden sechs Monate ausgebildet, gingen an Bord eines Schiffs, wurden sediert und in der Argos eingeschlossen, während Sybil den Start vorbereitete.

Nur, dass es gar keinen Start gab. Es war eine Übung. Ein Pilotprojekt, eine generationenübergreifende Machbarkeitsstudie, die vielleicht schon vor langer Zeit beendet worden ist oder auch immer noch weitergeht.

Konstance steht im Atrium der Bibliothek und berührt den Kiefernsetzling, den ihre Mutter vor vier Jahren auf ihren Arbeitsanzug gestickt hat. Mrs Flowers’ kleiner Hund blickt zu ihr auf und wedelt mit dem Schwanz. Er ist nicht real. Der Tisch unter ihren Fingern fühlt sich an wie aus Holz, riecht wie Holz. Die Zettel in der Schachtel sehen aus wie Papier, fühlen sich an wie Papier und riechen auch so.

Nichts von alldem ist real. Sie steht auf einem runden Perambulator in einem runden Raum im Zentrum einer runden, weißen Konstruktion auf einer kleinen, ebenfalls weitgehend runden Insel, dreizehn Kilometer jenseits der Baffin Bay von einem entlegenen Ort namens Qaanaaq entfernt. Wie kann es in einem Schiff im interstellaren Raum plötzlich zu einer Ansteckung kommen? Warum konnte Sybil das Problem nicht lösen? Weil keiner von ihnen, Sybil eingeschlossen, wusste, wo sie tatsächlich waren.

Sie schreibt eine Reihe von Fragen auf und wirft sie eine nach der anderen vor sich in den Schlitz. Über dem Atrium strömen Wolken durch einen gelben Himmel. Der kleine Hund blinzelt mit seinen braunen Augen. Von den Regalen kommen Bücher geflogen.

Sie schraubt die vier Füße von ihrer Liege und schlägt eines von ihnen an einem Ende mit dem Rahmen flach.

Konstance, fragt Sybil, warum baust du dein Bett auseinander?

Keine Antwort. Konstance verbringt Stunden damit, das flache Ende heimlich zu schärfen, passt den geschärften Fuß dann in die Nut am Ende eines zweiten ein, der als Stiel dienen wird, sichert ihn mit einer Schraube, dreht eine Schnur aus dem Futter ihrer Decke und bindet ihre selbst gemachte Axt fest zusammen. Dann gibt sie mehrere Kellen Nahrungspulver in den Drucker, und die Maschine füllt eine Schüssel bis zum Rand.

Ich bin froh, sagt Sybil, dass du dir etwas zu essen machst, Konstance. Und dann noch eine so gute Portion.

«Ich mache mir danach gleich noch was, Sybil. Gibt es ein Rezept, das du empfehlen könntest?»

Wie wäre es mit gebratenem Reis mit Ananas. Klingt das nicht gut?

Konstance schluckt und füllt sich den Mund. «Das tut es, Sybil. Es klingt wunderbar.»

Als sie satt ist, sammelt sie ihre Abschriften von Zeno Ninis’ Übersetzungen ein: Aethon hat eine Vision. Das Versteck der Banditen. Im Garten der Göttin. Sie legt die Zettel auf einen Stapel, Tafel A bis Tafel Ω, und legt ihre Zeichnung der Stadt in den Wolken darauf. Mit einer der Aluschrauben von den Füßen der Liege bohrt sie Löcher durch den linken Rand ihrer Zettel, ribbelt mehr vom Futter ihrer Decke auf, flicht eine weitere Schnur und bindet die Stücke des Nahrungspulversacks an einer Seite zusammen.

Eine Stunde vor NoLight säubert sie ihre Schüssel und füllt sie mit Wasser. Sie streicht sich mit den Fingern durch die Haare, findet eine verfilzte Stelle, reißt sie sich aus und stopft sie unten in ihren leeren Trinkbecher.

Dann setzt sie sich auf den Boden, wartet und betrachtet Sybil, wie sie in ihrem Turm schimmert. Fast kann sie spüren, wie Vater sie in ihre Decke wickelt und sich mit ihr an die Wand von Farm 4 setzt. Der Raum um sie herum ist voller Regale mit Salat, Kresse und Petersilie. Die Samen schlummern in ihren Schubladen.

Erzählst du mir noch etwas von der Geschichte, Vater?

Bei NoLight nimmt sie den Bioplastikanzug, den ihr Vater ihr vor zwölf Monaten genäht hat, und steigt in ihn hinein. Die Arme lässt sie noch frei und zieht den Reißverschluss nur bis zur Brust hoch. Der Anzug sitzt jetzt viel enger, sie ist gewachsen, ihr selbst gemachtes Buch kommt mit hinein. Dann legt sie ein Ende der fußlosen Pritsche – die Matratze ist noch gefüllt – auf den Essensdrucker, das andere auf die Toilette, um ein kleines Dach zu haben.

Konstance, sagt Sybil, was machst du da mit deinem Bett?

Sie kriecht unter das Dach, zieht das Niederspannungskabel hinten aus dem Drucker, entfernt die Isolierung und verbindet die Drähte des Kabels mit den beiden verbliebenen Füßen der Liege. Plus an das eine, minus an das andere. Beide steckt sie in ihre Schüssel mit dem Wasser, hält den Trinkbecher mit ihrem Haar umgedreht über die positive Elektrode und wartet, dass Sauerstoff aus dem Wasser steigt und den Becher füllt.

Konstance, was machst du da?

Sie zählt bis zehn, zieht die Drähte von den Füßen der Liege und reibt sie aneinander. Die Funken spritzen in den Sauerstoff und entzünden das Haar.

Ich bestehe darauf, dass du antwortest, Konstance. Was machst du da unter dem Bett?

Als sie den Becher umdreht, steigt Rauch heraus, es riecht nach brennendem Haar. Konstance gibt ein zerknülltes Trockenwischtuch dazu, dann noch eins. Nach den Plänen befinden sich Sprinkler in den Decken aller Räume der Argos. Wenn das nicht auf Gewölbe Eins zutrifft, wenn die Pläne nicht stimmen und die Sprinkler in den Wänden oder dem Boden sind, wird das Ganze nicht funktionieren. Aber wenn es nur welche in der Decke gibt, dann vielleicht schon.

Konstance, ich registriere Wärme. Bitte, antworte, was machst du da?

Kleine Düsen fahren aus der Decke und beginnen, chemischen Nebel auf die Liege über ihrem Kopf zu sprühen. Sie spürt, wie es auf die Beine ihres Anzugs regnet, während sie unter der Matratze die Flammen füttert.

Fast geht das Feuer aus, als sie mehr Trockenwischtücher darauf gibt, erwacht dann aber wieder zum Leben. Schwarze Rauchschwaden steigen neben der umgedrehten Liege auf und steigen hinauf in den von der Decke herabregnenden Nebel. Sie bläst in die Flammen, legt mehr Tücher hinein und löffelt Nahrungspulver darauf. Wenn das nicht funktioniert, hat sie nicht genug Brennmaterial für einen weiteren Versuch.

Bald fängt die Matratze Feuer, und Konstance muss unter ihr hervorkommen. Sie wirft auch die letzten Tücher ins Feuer. Grüne Flammen züngeln vom Rand der Matratze hoch, und der beißende Geruch brennender Chemikalien füllt das Gewölbe. Konstance gleitet durch das von den Sprinklern herabregnende Nass, steckt Hände und Arme in die Ärmel ihres Anzugs, setzte sich die Sauerstoffmaske auf und verbindet sie, so gut es geht, mit dem Anzugkragen. Sie spürt, wie sich die letzte Lücke schließt, spürt, wie sich der Anzug aufbläht.

Sauerstoff bei zehn Prozent, sagt die Haube.

Konstance, das ist ein unerhört unverantwortliches Verhalten. Du gefährdest alles.

Die Unterseite der Liege wird heller, die Matratze brennt jetzt richtig. Der Lichtkegel von Konstances Stirnlampe zuckt durch den Rauch.

«Sybil, dein oberstes Ziel ist es doch, die Crew zu schützen, oder? Mehr als alles?»

Sybil stellt das Deckenlicht auf volle Helligkeit, und Konstance blinzelt ins grelle Weiß. Ihre Hände verlieren sich in den Ärmeln, ihre Füße rutschen über den Boden. «Das nennt man Wechselbeziehung», sagt Konstance. «Die Crew braucht dich, und du brauchst die Crew.»

Bitte, nimm den Rahmen der Liege weg, damit das Feuer darunter gelöscht werden kann.

«Aber ohne eine Crew – ohne mich – erfüllst du keinen Zweck, Sybil. Der Raum ist bereits so voller Rauch, dass ich nicht mehr in ihm atmen kann, und in ein paar Minuten geht der Haube, die ich trage, der Sauerstoff aus. Dann werde ich ersticken.»

Sybils Stimme wird tiefer. Zieh sofort den Rahmen weg.

Die fallenden Tropfen vernebeln das Sichtfenster ihrer Haube, und jedes Mal, wenn sie darüberwischt, wird es schlimmer. Sie schiebt das Buch in ihrem Arbeitsanzug zur Seite und nimmt ihre kleine Axt.

Sauerstoff bei neun Prozent, sagt die Haube.

Grüne und orangefarbene Flammen züngeln um die Matratze, und Sybil verschwindet allmählich im Rauch.

Bitte, Konstance. Ihre Stimme wird weicher und klingt wie die ihrer Mutter. Das darfst du nicht.

Konstance weicht zur Wand zurück. Die Stimme ändert sich ein weiteres Mal und nimmt ein anderes Geschlecht an. Hör zu, Zucchini, kannst du bitte die Liege umdrehen?

Die Haare in Konstances Nacken stellen sich auf.

Wir müssen das Feuer sofort löschen. Alles ist in Gefahr.

Sie hört ein Zischen, da schmilzt und kocht etwas in der Matratze, und durch den wabernden Rauch kann sie so gerade noch Sybils Turm erkennen, fünf Meter hoch, purpurn flimmerndes Licht, und sie hört Mrs Chen flüstern: Jede Karte, die je gezeichnet worden ist, jeder Zensus, jedes Buch, das je veröffentlicht …

Einen Moment lang zögert sie. Die Bilder im Atlas sind Jahrzehnte alt. Was wartet jetzt da draußen, außerhalb der Wände der Argos? Was, wenn Sybil die einzige Intelligenz ist, die es noch gibt? Was zerstört sie hier?

Sauerstoff bei acht Prozent, sagt die Haube. Versuche ruhiger zu atmen.

Sie wendet sich von Sybil ab, hält den Atem an und wartet auf ein Flammenbad. Vor ihr, wo eben noch bloß eine Wand war, öffnet sich die Tür von Gewölbe Eins.