Sie leben in der Hütte, die der Großvater des Jungen gebaut hat, Mauern und Herd aus Stein, ein geschälter Baumstamm als First, das Strohdach voller Mäuse. Vierzehn Jahre Dung und Stroh und Essensreste haben den Boden zu etwas werden lassen, das einer Felsoberfläche ähnelt. Es gibt keine Bilder, und nur einfachste Dinge schmücken seine Mutter und Schwester: ein eiserner Ring, ein auf eine Schnur gefädelter Achat. Ihr Geschirr ist schwer und einfach, ihr Leder ungegerbt. Der Zweck von allem, ob Topf oder Mensch, liegt darin, so lange wie möglich zu überdauern, und alles, was nicht strapazierbar ist, scheint keinen Wert zu haben.
Ein paar Tage nach Annas und Omeirs Ankunft geht die Mutter den Bach hinauf und gräbt einen Beutel mit Münzen aus, und der Junge läuft allein die Straße am Fluss hinunter und kommt vier Tage später mit einem kastrierten Bullen und einem altersschwachen Esel zurück. Mit dem Bullen pflügt er ein paar überwucherte, terrassenförmige Stücke Land über der Hütte und sät etwas Augustgerste.
Die Mutter und die Schwester des Jungen betrachten sie mit so viel Interesse, wie sie für einen zerbrochenen Krug übrig haben würden. Und tatsächlich, wozu ist sie während dieser ersten Monate nütze? Sie versteht nicht mal die einfachsten Anweisungen, kann keine Ziege dazu bringen, zum Melken still zu stehen, weiß nicht, wie man sich ums Federvieh kümmert, Quark und Käse macht, Honig erntet, Heu bündelt oder die Terrassen über der Hütte bewässert. Meist kommt sie sich wie ein dreizehnjähriges Kleinkind vor, unfähig, auch nur die einfachsten Aufgaben zu übernehmen.
Aber der Junge! Er isst neben ihr und murmelt ihr in seiner merkwürdigen Sprache Dinge zu. Er scheint, wie Chryse, die Köchin, womöglich sagen würde, geduldig wie Hiob und sanft wie ein Reh zu sein. Er bringt ihr bei, wie man Gerste nach Läusen durchsucht, Forellen säubert, um sie zu räuchern, und den Kessel im Bach füllt, ohne Ablagerungen im Wasser zu haben. Manchmal findet sie ihn allein im hölzernen Stall, wie er alte Vogelschlingen und Netze in den Händen hält, oder auf einer der Terrassen über dem Fluss, drei große weiße Steine zu seinen Füßen und mit traurigem Blick.
Falls sie sein Eigentum sein sollte, behandelt er sie nicht so. Er bringt ihr die Worte für Milch, Wasser, Feuer und Hund bei und schläft nachts neben ihr, rührt sie aber nicht an. An den Füßen trägt sie ein Paar zu große Holzschuhe, die früher dem Großvater des Jungen gehört haben, und seine Mutter hilft ihr ein neues Kleid aus steifer Wolle zu machen. Die Blätter verfärben sich gelb, und der Mond nimmt zu und wieder ab.
Eines Morgens, Raureif glitzert in den Bäumen, beladen seine Schwester und seine Mutter den Esel mit Gläsern voller Honig, ziehen sich warm an und wandern flussaufwärts. Sobald sie hinter der nächsten Biegung verschwunden sind, ruft der Junge Anna in den Stall, wickelt Wabenstücke in ein Käsetuch und kocht es in Wasser. Als das Wachs ausgeschmolzen ist, holt er es heraus und knetet es zu einer Paste. Dann rollt er ein Stück Rindsleder auf dem groben Tisch aus, und gemeinsam walken sie das immer noch warme Bienenwachs in das Leder. Als alles hineingearbeitet ist, rollt er das Stück Leder wieder zusammen, klemmt es sich unter den Arm und winkt sie mit sich den schmalen Pfad am Anfang der Schlucht zur alten halb hohlen Eibe auf dem Felsvorsprung hinauf.
So im Tageslicht ist es ein prachtvoller Baum. Der Stamm ist wunderbar knorrig, und Dutzende niedrige Äste voller roter Beeren winden sich wie Schlangen zur Erde herab. Der Junge klettert zur Höhlung im Stamm hinauf, zwängt sich hinein und kommt mit Himerius’ Sack wieder hervor.
Gemeinsam sehen sie nach, ob die Seidenkapuze, die Schnupftabaksdose und das Buch noch trocken sind. Dann rollt er das neue Stück Leder auf dem Felsvorsprung aus, wickelt Dose, Buch und Seide hinein und schnürt das Ganze wieder fest zu. So kommt es zurück in den Baum, und Anna begreift, dass es ihr Geheimnis ist: dass die Leute das Buch, genau wie das Gesicht des Jungen, fürchten und ihm misstrauen würden, und sie erinnert sich an die flammenden Augen von Kalaphates, seine Wut und Erregung, als er Marias bewusstloses Gesicht zum Herd zog und Licinius’ Seiten verbrannte.
Sie lernt die Worte für Zuhause, kalt, Kiefer, Schüssel und Hand. Maulwurf, Maus, Otter, Pferd, Hase, Hunger. Als es Zeit ist, die Frühlingssaat auszubringen, beginnt sie, Abstufungen zu verstehen. Prahlen heißt, «so tun, als wäre man zweieinhalb», in Schwierigkeiten zu geraten, «in Zwiebeln waten». Der Junge verfügt über mehrere Ausdrücke für die unterschiedlichen Empfindungen, die man im Regen erleben kann. Die meisten beschwören Erbärmlichkeit herauf, einige aber auch nicht. Einer klingt nach Freude.
Zu Frühlingsanfang begegnet sie ihm, als sie Wasser vom Bach holt, und er klopft neben sich auf den Felsbrocken, auf dem er sitzt. Sie legt die Stange mit den beiden Töpfen zur Seite und setzt sich neben ihn. «Manchmal», sagt er, «wenn mir nach Arbeit ist, setze ich mich und warte, dass das Gefühl vorbeigeht», und sein Blick fängt Annas auf, und sie begreift den Witz, und sie lachen.
Der Schnee schwindet, der Holunder blüht, die Schafe lammen, und ein Ringeltaubenpärchen baut ein Nest im Stroh des Daches. Nida und die Mutter verkaufen Honig, Melonen und Pinienkerne auf dem Dorfmarkt, und zu Ende des Sommers haben sie genug Silber, um einen zweiten Bullen anzuschaffen. Bald schon fällt Omeir Bäume hoch oben im Wald und karrt sie zu den Sägemühlen unten am Fluss, und im Herbst wird Nida mit einem Holzfäller aus einem dreißig Kilometer entfernten Dorf verheiratet. In Annas zweitem Winter in der Schlucht beginnt Omeirs Mutter, einsam, wie sie ist, mit ihr zu reden, zögerlich erst, dann in wahren Sturzbächen, über die Geheimnisse der Bienenzucht, Omeirs Vater und Großvater und am Ende auch über ihr Leben im kleinen steinernen Dorf fünfzehn Kilometer den Fluss hinunter, bevor Omeir geboren wurde.
Als die Tage wärmer werden, setzen sie sich an den Bach und sehen zu, wie Omeir mit seinen dürren, widerspenstigen Ochsen arbeitet und in dem besorgten Ton mit ihnen redet, den er nur den Tieren gegenüber anschlägt. Seine Mutter sagt, dass sein Sanftmut wie eine Flamme ist, die er in sich trägt, und bei gutem Wetter gehen Anna und Omeir unter den Bäumen spazieren, und er erzählt ihr von den witzigen Dingen, die sein Großvater zu sagen pflegte: dass der Atem von Rehen Schlangen töten oder die Galle eines Adlers, mit Honig vermischt, einem Blinden sein Augenlicht wiedergeben kann, und sie erkennt, dass die kleine Schlucht unter dem breitschultrigen Berg nicht so unheimlich, steil und barbarisch ist, wie sie es anfangs zu sein schien, sondern zu jeder Jahreszeit in unerwarteten Augenblicken so viel Schönheit zeigt, dass ihr Tränen in die Augen steigen und das Herz in ihrer Brust wild zu pochen beginnt. Anna beginnt zu glauben, dass sie tatsächlich an jenen besseren Ort gelangt ist, den sie sich immer jenseits der Mauern der Stadt vorgestellt hat.
Mit der Zeit fällt ihr die Scharte in Omeirs Gesicht nicht mehr auf, sie wird Teil der Welt, genau wie die schwere Erde im Frühling, die Mücken im Sommer, der Schnee im Winter. Anna bringt sechs Söhne zur Welt und verliert drei. Omeir begräbt die toten Söhne in der Lichtung über dem Fluss, wo sein Großvater und seine Schwestern begraben sind, und markiert jedes der Gräber mit einem weißen Stein, den er von einem nur ihm bekannten Ort weit oben in den Bergen holt. In der Hütte wird es voll, und Anna gelingt es, den Kindern Kleider zu schneidern, stickt manchmal noch eine etwas grob geratene Ranke oder eine schiefe Blüte darauf und lächelt, wenn sie denkt, wie ungelenk Maria ihre Arbeit finden würde. Omeir bringt die Mutter ins Dorf zu Nida, und dann sind sie nur noch zu fünft in der Schlucht am Eingang der Höhle.
Manchmal träumt sie, zurück in der Stickerei zu sein, wo sich Maria und die anderen immer noch mit ihren Nadeln über die Arbeit beugen, undeutlich, schemenhaft, und als sie die Hand ausstreckt, um sie zu berühren, stoßen ihre Finger glatt durch sie hindurch. Manchmal zieht ein Schmerz durch ihren Hinterkopf, und Anna fragt sich, ob es bei ihrer Schwester ebenso war, ob das Leiden, das Maria geholt hat, auch sie holen wird. Doch dann ist ihr diese Art von Gedanken wieder ganz fern, und sie kann sich nicht mehr an die Gesichter der Frauen erinnern, die sie großgezogen haben. Es scheint, als sei ihr Leben mit Omeir jetzt das einzige Leben, das sie je gekannt hat.
Eines Morgens in ihrem fünfundzwanzigsten Winter, nach einer Nacht, die kalt genug gewesen ist, um das Wasser im Kessel mit einer Eisschicht zu bedecken, kommt ihr jüngster Sohn mit Fieber nieder. Seine Augen glimmen in ihren Höhlen, und seine Kleider sind schweißnass. Sie setzt sich auf den Stapel Decken, auf dem sie schlafen, legt sich den Kopf des Jungen in den Schoß und streichelt ihm über sein Haar. Omeir läuft in der Hütte auf und ab und ballt die Fäuste. Endlich füllt er die Lampen, entzündet sie, geht hinaus und kommt schneebedeckt zurück. Er holt das in Rindsleder gewickelte Bündel unter dem Mantel hervor und gibt es ihr mit ernster Miene, und sie begreift, dass er glaubt, das Buch könne ihren Sohn retten, schließlich hat es sie, wie er denkt, schon vor mehr als zehn Jahren auf ihrem Weg hierher gerettet.
Draußen ächzen die Kiefern. Der Wind bläst Schnee in den Kamin, lässt die Asche in die Hütte aufstieben, und die beiden älteren Jungen drängen sich an ihre Mutter, geblendet vom Licht der Laterne und diesem merkwürdigen neuen Päckchen, das ihr Vater da aus dem Nichts hervorgeholt hat. Der Esel und die Ziege stehen nah bei ihnen, und die ganze Welt draußen vor ihrer Tür scheint zu heulen und zu sieden.
Das Rindsleder hat seinen Zweck erfüllt: Der Inhalt ist trocken. Einer der Jungen untersucht die Schnupftabaksdose, während der andere mit der Hand über die Samitkapuze streicht und den fertigen wie halb fertigen Vögeln nachspürt. Omeir hält die Laterne, als Anna das Buch öffnet.
Es ist Jahre her, dass sie versucht hat, Altgriechisch zu lesen. Aber das Gedächtnis ist ein seltsames Ding, und ob es die Angst um ihren einen Sohn oder die Aufregung der beiden anderen ist, als sie die gleichmäßige, stetige Schrift mit ihrer leichten Linksneigung betrachtet, meldet sich das Wissen um die Bedeutung der einzelnen Buchstaben zurück.
A ist ἄλφα. Β ist Beta oder βῆτα. Ω ist Omega, ist ὦμέγα. Ἄστεα sind Städte, νόον heißt Verstand, ἔγνω gelernt. Langsam beginnt sie ein Wort nach dem anderen in die Sprache ihres zweiten Lebens zu übersetzen.
«… ich, den sie ein Spatzenhirn und einen Einfaltspinsel genannt haben, ja, ich, der Schwachkopf, der Schafskopf, der einfältige Aethon, ich bin einst bis an den Rand der Erde und darüber hinaus bis zu den schimmernden Toren des Wolkenkuckuckslandes gereist …»
Sie erzählt die Geschichte ebenso sehr aus dem Gedächtnis wie nach dem Manuskript, und in der kleinen Steinhütte geschieht etwas: Das kranke Kind mit der schweißnassen Stirn in ihrem Schoß öffnet die Augen. Als Aethon aus Versehen in einen Esel verwandelt wird und seine Brüder lachen, lächelt auch der kranke Junge. Als Aethon den gefrorenen Rand der Welt erreicht, kaut er auf seinen Fingernägeln, und als die Krähe Aethon schließlich die Tore der Stadt in den Wolken sieht, treten ihm Tränen in die Augen.
Die Lampe spuckt, das Öl geht zur Neige, und alle drei Jungen betteln sie an weiterzulesen.
«Bitte», sagen sie, und ihre Augen funkeln im Licht. «Sag uns, was er im magischen Buch der Göttin gefunden hat.»
«Als Aethon hineinsah», sagt sie, «hatte er das Gefühl, den Kopf über den Rand eines magischen Brunnens zu halten. Er sah den Himmel und die Erde, sah all die verschiedenen Länder um den Ozean und die Tiere und Vögel in ihnen. Die Städte waren voller Lichter und Gärten, und er konnte leise Musik und Gesang hören, und in einer Stadt sah er eine Hochzeit mit jungen Frauen in leuchtenden Kleidern, jungen Männern mit goldenen Schwertern an silbernen Gürteln, und sie sprangen durch Ringe, schlugen Räder, hüpften und tanzten. Aber auf der nächsten Seite sah er dunkle, lodernde Städte, sah Männer bei lebendigem Leib auf ihren Feldern verbrennen, ihre Frauen versklavt und in Ketten, und die Kinder wurden über Mauern geworfen und landeten auf Spießen. Er sah Hunde, die Tote fraßen, und als er mit dem Ohr näher heranging, konnte er das Jammern hören. Und als er vor- und zurückblätterte, sah Aethon, dass die Städte auf beiden Seiten, die dunklen und die hellen, dieselben waren, dass es keinen Frieden ohne Krieg gibt, kein Leben ohne Tod, und er bekam Angst.»
Die Laterne spuckt immer noch, der Kamin der Hütte stöhnt, und die Kinder drängen sich näher an ihre Mutter. Omeir wickelt das Buch wieder ein. Anna drückt sich ihren jüngsten Sohn an die Brust, träumt von hellem, klarem Licht, das auf die bleichen Mauern der Stadt fällt, und als sie am Morgen aufwachen, ist das Fieber weg.
Wenn die Kinder in den kommenden Jahren kränkeln oder einfach nicht nachgeben wollen – immer nach dem Dunkelwerden, immer, wenn kilometerweit keine andere Menschenseele ist –, blickt Omeir sie an, und sie nicken einander unmerklich zu. Dann entzündet er die Laterne, verschwindet nach draußen und kehrt mit dem Bündel zurück. Sie öffnet das Buch, und die Jungen setzen sich um sie herum auf die Teppiche.
«Erzähl uns noch mal, Mama», sagen sie, «von dem Zauberer, der in dem Wal lebt.»
«Und von dem Schwanenvolk, das zwischen den Sternen wohnt.»
«Und von der einen Kilometer großen Göttin und dem Buch, in dem Alles war.»
Mitunter schlüpft sie in eine der Rollen und schauspielert, was geschieht. Sie wollen wissen, was Schildkröten sind und Honigkuchen, und sie scheinen instinktiv zu spüren, dass das in Seide und Leder gehüllte Buch einen seltsamen Wert hat und ein Geheimnis enthält, das sie gleichermaßen bereichert und in Gefahr bringt. Jedes Mal, wenn sie es aufschlägt, ist noch mehr von dem Text unleserlich geworden, und sie muss an den großen Schreiber in dem von Kerzen erleuchteten Arbeitsraum denken.
Zeit ist die gewalttätigste Kriegsmaschine von allen.
Der ältere Ochse stirbt, Omeir kauft ein neues Kalb, und Annas Söhne wachsen ihr über den Kopf, gehen und arbeiten auf dem Berg, bringen Stämme ins Tal und karren sie am Fluss entlang in die Sägewerke außerhalb von Edirne. Sie verliert den Überblick über die Anzahl der Winter, Erinnerungen verblassen, verschwinden. In unerwarteten Momenten – wenn sie Wasser holt, eine Wunde in Omeirs Bein näht oder ihm einfach nur Läuse aus den Haaren sucht – verkehrt sich die Zeit, und sie sieht Himerius’ Hände auf den Rudern oder spürt den Zug der Schwerkraft, während sie die Mauer der Propstei herunterklettert. Gegen Ende ihres Lebens vermischen sich diese Erinnerungen mit denen aus den Geschichten, die sie so geliebt hat: Odysseus, der sich nach seinem Zuhause sehnt, lässt sein Floß hinter sich und schwimmt zur Insel der Phäaken. Esel Aethon schließt die weichen Lippen um eine Brennnessel. Alle Zeiten und Geschichten werden am Ende zu ein und derselben.
Sie stirbt im Mai, am schönsten Tag des Jahres, im Alter von vierundfünfzig Jahren. Sie lehnt an einem Stumpf im Hof, mit ihren drei Söhnen um sich herum. Der Himmel ist so tiefblau über der Schulter des Berges, dass ihre Zähne schmerzen, wenn sie ihn ansieht. Ihr Mann begräbt sie auf der Lichtung neben seinem Großvater und den Söhnen, die sie verloren haben, mit der Seidenkapuze ihrer Schwester auf der Brust und einem weißen Stein, der ihr Grab markiert.