Boise, Idaho

2057–2064

Seymour

In seiner Freigängerwohnung hat er eine kleine Küche, aus der er auf einen sonnenverbrannten Hang voller Rabbitbrush und Trespen hinaussehen kann. Es ist August, der Himmel ist rauchbeige, und alles flirrt in der Hitze.

Sechs Morgen in der Woche nimmt er den selbstfahrenden Bus zu einem Firmenpark, wo er über glühend heißen Asphalt zu einer ausgedehnten, stuckverzierten, niedrigen Anlage von Ilium geht. In der Eingangshalle, auf einem Podest, dreht sich eine Polyurethan-Hochrelief-Erdkugel von vier Metern Durchmesser, in deren Vertiefungen sich der Staub fängt. Auf einem verblichenen Plakat an der Wand steht: Die Welt einfangen. Er arbeitet zwölf Stunden täglich mit Ingenieurteams, die die nächste Generation Atlas-Laufbänder und Headsets testen. Er ist ein drahtiger, bleicher Mann, der am liebsten abgepackte Sandwiches isst, direkt am Schreibtisch und nicht in der Cafeteria, und der nur in seiner Arbeit Frieden findet. Kilometer um Kilometer legt er auf seinem Band zurück, wie eine Art mittelalterlicher Pilger, der sich eine große Schuld von der Seele läuft.

Gelegentlich bestellt er ein Paar neue Schuhe, exakt die, die er gerade zuschanden gelaufen hat. Abgesehen davon, gibt er fast nur für Essen Geld aus. Einmal in der Woche schreibt er Natalie Hernandez, samstags, und meist antwortet sie ihm. Sie unterrichtet unwillige Highschooler in Latein und Griechisch, hat zwei Söhne, einen selbstfahrenden Minivan und einen Dackel namens Dash.

Manchmal nimmt er sein Headset ab, tritt vom Band, blickt über die Köpfe der Ingenieure, und ihm kommen Zeilen aus Zenos Übersetzung in den Sinn: … da waren der Himmel und die Erde, all die verschiedenen Länder, all die Tiere, und in der Mitte …

Er wird siebenundfünfzig, achtundfünfzig, und der Rebell in ihm lebt immer noch. Abends, wenn er nach Hause kommt, schaltet er sein Terminal ein, schottet sich gegen Außenverbindungen ab und macht sich an die Arbeit. Auf Servern überall auf der Welt ruhen die unbearbeiteten Atlas-Hochintensitätsaufnahmen mit Szenen von Leiden und Gewalt, Dürren und Hunger: Migranten auf der Flucht aus Chennai, Familien in winzigen Booten vor Rangun, ein brennender Panzer in Bangladesch, Polizei hinter Plexiglasschilden in Kairo, eine im Schlamm erstickte Stadt in Louisiana – all die Katstrophen, die er jahrelang aus dem Atlas getilgt hat, sie sind noch da.

Über Monate schreibt er kleine Computer-Code-Klingen, die so scharf und verfeinert sind, dass sie, wenn er sie in den Atlas-Code einfügt, nicht entdeckt werden können. Auf der ganzen Welt versteckt er sie als kleine Eulen – in Eulengraffiti, eulenförmigen Trinkwasserbrunnen, einem Fahrradfahrer im Frack mit einer Eulenmaske. Finde eine dieser Eulen, berühre sie, und du schiebst die gesäuberten, polierten Bilder zur Seite und legst die ursprüngliche Wahrheit darunter frei.

In Miami stehen sechs Farne in Kübeln vor einem Restaurant, auf Kübel drei ist ein kleiner Eulenaufkleber zu erkennen. Berühre ihn, die Farne lösen sich auf, und ein ausgebrannter, schwelender Wagen erscheint. Vier Frauen liegen zerschmettert auf dem Gehsteig.

Ob Benutzer seine kleinen Eulen entdecken, weiß er nicht. Er geht das Risiko nicht ein, es herauszufinden. Der Atlas gehört sowieso nicht mehr zu den Prioritäten der Firma. Ganze Bereiche im Komplex in Boise arbeiten an der Perfektionierung und Miniaturisierung von Band und Headset für andere Ilium-Projekte, in anderen Abteilungen. Aber Seymour produziert auch weiter seine Eulen, Nacht für Nacht schmuggelt er sie in den Code, deckt die Lügen auf, die er tagsüber produzieren hilft, und zum ersten Mal, seit er Trustyfriends abgetrennten Flügel auf der Straße gefunden hat, fühlt er sich besser. Ruhiger. Weniger verängstigt. Weniger so, als müsste er etwas zuvorkommen.

Drei Tage in einer neuen Urlaubsanlage am See in Lakeport. Flug, Frühstück, Mittag- und Abendessen inklusive, Wassersport, so viel sie wollen – alles geht auf ihn, solange seine Ersparnisse reichen. Die Familien sind willkommen. Er verlässt sich auf Natalie, was die Einladungen angeht. Erst meint sie, alle fünf kommen sicher nicht, aber sie tun es: Alex Hess reist mit zwei Söhnen aus Cleveland an, Olivia Ott fliegt von San Francisco ein, Christopher Dee kommt mit dem Auto aus Cladwell, Rachel Wilson mit ihrem vierjährigen Enkel sogar aus Australien.

Seymour fährt den Canyon aus Boise erst an ihrem letzten Abend hinauf. Es ist nicht nötig, irgendjemanden schon vorher aufzuregen, indem er sein Gesicht zeigt. Kurz nach Sonnenaufgang nimmt er einen zusätzlichen Beruhigungstropfen und tritt mit Anzug und Krawatte auf den Balkon. Der See hinter den Hotelanlegern funkelt im frühen Sonnenlicht. Er hält Ausschau, ob sich womöglich ein Fischadler sehen lässt, doch es ist keiner zu entdecken.

Die Notizen sind in der linken Tasche, der Zimmerschlüssel steckt in der rechten. Denk an alles, was du weißt. Eulen haben drei Augenlider. Menschen sind kompliziert. Für viele Dinge, die du liebst, ist es zu spät. Aber nicht für alle.

Er trifft sich mit den beiden Ilium-Technikern in einem achteckigen Raum, der auf den See hinausgeht und hauptsächlich für Hochzeitsempfänge genutzt wird. Er sieht zu, wie sie fünf fabrikneue mehrdimensionale Laufbänder der neuesten Generation hereinbringen, die sie jetzt Perambulatoren nennen. Die Techniker koppeln sie mit fünf Headsets und verabschieden sich wieder.

Natalie trifft sich vorab mit ihm. Ihre Kinder, sagt sie, sind noch beim Essen. Es ist mutig von ihm, sagt sie, das jetzt zu machen.

«Von dir ist es noch mutiger», sagt Seymour. Bei jedem Schritt, den er macht, fürchtet er, dass sich seine Haut öffnet und all seine Knochen herausfallen.

Um 13 Uhr kommen die Familien nacheinander herein. Olivia Ott hat einen kinnlangen Bob, trägt eine teuer aussehende Caprihose und scheint geweint zu haben. Alex Hess geht zwischen zwei riesigen mürrischen Teenagern, die Haare aller drei sind leuchtend gelb. Christopher Dee bringt eine kleine, nervös wirkende Frau mit. Die beiden setzen sich in eine Ecke, auf Abstand zu den anderen, und halten sich bei den Händen. Rachel kommt als Letzte, in Jeans und Stiefeln, und die tiefen Furchen in ihrem Gesicht zeugen von tagelanger Arbeit in der Sonne. Ihr aufgeweckter rothaariger Enkel hüpft hinter ihr herein, setzt sich und baumelt mit den Beinen.

«Er sieht nicht aus wie ein Mörder», sagt einer von Alex’ Söhnen.

«Sei höflich», sagt Alex.

«Einfach nur alt. Ist er reich?»

Seymour vermeidet es, ihnen in die Gesichter zu sehen – sie würden alles kaputt machen. Halte den Blick gesenkt. Lies, was du sagst, von deinen Notizen ab. «An jenem Tag vor all den Jahren habe ich jedem von euch etwas Wertvolles genommen. Ich weiß, ich kann das nie wirklich wiedergutmachen. Aber weil auch ich weiß, was es bedeutet, einen Ort zu verlieren, der einem als junger Mensch wichtig war, ihn weggenommen zu bekommen, dachte ich, es könnte euch etwas bedeuten, wenn ich versuchte, euch euren zurückzugeben.»

Aus seiner Tasche holt er fünf gebundene Bücher mit königsblauen Umschlägen und gibt jedem eins. Auf dem Umschlag kreisen Vögel um die Türme einer Stadt in den Wolken. Olivia schnappt nach Luft.

«Ich habe sie nach den Übersetzungen von Mr Ninis drucken lassen. Mit viel Hilfe von Natalie, sollte ich hinzufügen. Sie hat die Anmerkungen verfasst.»

Dann verteilt er die Headsets. «Die fünf Erwachsenen zuerst. Dann alle anderen. Wer mag. Erinnert ihr euch an die Rückgabekiste?»

Überall Nicken. Christopher sagt: «‹Eule› Bücher bei uns.»

«Zieht den Griff der Kiste. Alles Weitere ergibt sich von selbst.»

Die Erwachsenen stehen auf. Seymour hilft ihnen mit den Headsets, und die fünf Perambulatoren erwachen summend zum Leben.

Als alle auf ihren Bändern stehen, geht er ans Fenster und sieht auf den See hinaus. Es gibt wenigstens zwanzig Orte weiter im Norden, wohin deine Eule fliegen kann, sagte sie. Größere, bessere Wälder. Sie versuchte ihn zu retten.

Hinter ihm beginnen die Perambulatoren zu surren und sich zu drehen. Die erwachsenen Kinder gehen los. Natalie sagt: «Oh, mein Gott.»

Alex sagt: «Es ist genau so wie in meiner Erinnerung.»

Seymour muss an die Stille der Bäume hinter dem Haus denken, wenn sie sich mit Schnee füllten. An Trustyfriend auf seinem Ast, in drei Metern Höhe in dem großen, toten Baum. Die Eule zuckte zusammen, wenn einen halben Kilometer entfernt Reifen über den Schotter fuhren, konnte das Herz einer Wühlmaus zwei Meter unter dem Schnee schlagen hören.

Pneumatische Motoren heben die Perambulatoren vorne an. Sie müssen gerade die Granitstufen zum Eingang hinaufsteigen. «Seht doch», sagt Christopher. «Da ist das Schild, das ich gemalt habe.»

Auf dem Stuhl neben dem leeren Stuhl von Rachel greift ihr Enkel nach dem blauen Buch, legt es sich auf den Schoß und blättert die Seiten durch.

Mit ihrer rechten Hand greift Olivia Ott in den Raum vor sich und öffnet die Tür. Nacheinander betreten die Kinder die Bibliothek.