Die Argos

Missionsjahr 65

Konstance

Sauerstoff bei sieben Prozent, sagt die Stimme in ihrer Haube.

Nach links aus dem Vorraum. An den Abteilen 8, 9 und 10 vorbei. Alle Türen sind versiegelt. Fliegt die Ansteckung immer noch durch die Luft des Korridors, aufgewacht nach ihrem langen Schlaf? Zerfallen beinahe vierhundert Tage alte Leichen in den Schatten? Oder bewegen sich Crew-Mitglieder unter dem Zischen der Sprinkleranlage um sie herum: Freunde, Kinder, Lehrer, Mrs Chen, Mrs Flowers, Mutter, Vater?

Kleine Düsen in der Decke lassen Nebel auf sie herabregnen. Das selbst gemachte Buch in ihrem Arbeitsanzug, die selbst gemachte Axt in der linken Hand, wandert sie in Spiralen aus dem Inneren der Argos immer weiter nach außen. Mit den Fußteilen ihres Schutzanzugs rutscht sie durch die Chemikalien auf dem Boden.

Auf dem Korridor verstreut liegen zerknüllte Decken, weggeworfene Masken, ein Kissen, die Scherben eines zerschlagenen Tabletts.

Ein Strumpf.

Ein gekrümmtes, von grauem Schimmel bedecktes Objekt.

Den Blick heben. Weiter. Da ist der dunkle Eingang zum Klassenzimmer, dann weitere geschlossene Abteiltüren. Vorbei an etwas, das wie ein Handschuh von einem der Bioschutzanzüge aussieht, wie sie Dr. Cha und Ingenieur Goldberg getragen haben. Vor ihr liegt der umgestürzte Perambulator von jemandem mitten im Gang.

Sauerstoff bei sechs Prozent, sagt die Haube.

Rechts ist der Eingang zu Farm 4. Konstance bleibt im Eingang stehen und wischt sich die Chemikalien von ihrem Visier. Auf allen Ebenen der Regale sind die Pflanzen tot. Ihre kleine Schlangenhaut-Kiefer steht noch, gut einen Meter groß, um sich herum einen Kranz vertrockneter Nadeln.

Ein Alarm geht los. Ihre Stirnlampe flackert, während sie zur hinteren Wand läuft. Keine Zeit nachzudenken. Sie wählt Griff vier von links und öffnet eine Samenschublade. Kalter Dampf wabert ihr über die Füße. Drinnen warten Hunderte eiskalter Folienumschläge in langen Reihen. Sie schaufelt so viele, wie sie kann, mit ihren Anzugfäustlingen heraus, einige rutschen ihr gleich wieder weg, den Rest drückt sie sich zusammen mit der Axt an die Brust.

Irgendwo in der Nähe ist der Geist ihres Vaters, seine Leiche oder beides. Weiter. Du hast keine Zeit.

Noch ein Stück den Korridor hinunter, zwischen den Toiletten 2 und 3, ist der Titanflicken, wo sich Elliot Fischenbacher, wie Mutter sagte, etliche Nächte lang durch die Wand zu hacken versucht hat. Der Flicken ist mit mindestens dreihundert Nieten befestigt, weit mehr, als sie in Erinnerung hat. Ihr Mut sinkt.

Sauerstoff bei fünf Prozent.

Sie lässt die Samentüten fallen und hebt die Axt mit beiden Händen. In ihrer Erinnerung erklingen die Warnungen, die sie gehört hat, solange sie zurückdenken kann. Kosmische Strahlung, keine Schwerkraft, 2,73 Grad Kelvin.

Sie schwingt die Axt, die Klinge dellt den Flicken ein, prallt aber davon ab. Sie schlägt heftiger zu. Dieses Mal dringt die Klinge ein Stück in das Metall ein, und sie muss sich mit ihrem ganzen Gewicht daran hängen, um sie wieder frei zu bekommen.

Ein dritter Schlag. Ein vierter. Sie wird da nie schnell genug durchkommen. Schweiß füllt den Anzug und vernebelt die Haube. Der Alarm wird lauter. Aus den Sprinklerdüsen regnet es auf sie herab. Zwanzig Schritte rechts von ihr ist der Versorgungsraum voller Zelte.

Alarmstufe rot, sagt Sybil, die Hülle des Schiffs ist in Gefahr.

Sauerstoff bei vier Prozent, sagt die Haube.

Mit jedem Schlag wächst der Riss im Flicken.

Drei Sekunden außerhalb des Schiffes, und deine Hände und Füße schwellen auf das Doppelte an. Du erstickst. Du wirst zu einem Stück Eis.

Die Öffnung weitet sich, und durch den Dampf auf ihrem Visier kann Konstance ins Innere der Wand blicken, wo Elliot Kabelkanäle, von Aluminium umhüllt, zur Seite geschoben und sich durch etliche Dämmschichten gegraben hat. Dahinter kommt wieder Metall. Sie hofft, das ist die Außenwand.

Sie hebelt die Axt frei, atmet ein, holt aus, schlägt zu.

Konstance, dröhnt Sybil, und ihre Stimme hört sich schrecklich an, du machst einen schweren Fehler.

Sie hat sich getäuscht. Es ist das Nichts, das Vakuum des Alls – sie ist hundert Billionen Kilometer von der Erde entfernt, und sie wird ersticken, dann ist es vorbei. Die Axt fällt ihr aus der Hand. Der Raum faltet sich um sie, die Zeit klappt zusammen. Ihr Vater reißt einen Umschlag auf, und ein kleines Samenkorn, von einem hellbraunen Flügel umschlossen, rutscht ihm in die Hand.

Halt den Atem an.

«Noch nicht.»

Das Samenkorn erzittert.

«Jetzt.»

Hinter der Bresche in der äußeren Schicht bleibt die Dunkelheit, wo sie ist. Konstance wird nicht nach draußen gesaugt, ihre Augen frieren nicht ein: Es ist nur Nacht.

Sauerstoff bei drei Prozent.

Nacht! Sie nimmt die Axt und schlägt und schlägt und schlägt. Metallstücke fallen ins Dunkel. Draußen vor dem ständig sich vergrößernden Loch stürzen Tausende und Abertausende silbrige Punkte durch das Schwarz. Sie streckt einen Arm hinaus und zieht ihn nass wieder herein.

Regen. Es regnet da draußen.

Sauerstoff bei zwei Prozent.

Konstance schlägt und schlägt, bis ihre Schultern brennen und sich ihre Hände wie zerschmettert anfühlen. Das Loch wird zackiger, je mehr es wächst. Sie kann ihren Kopf hindurchstrecken, eine Schulter. Ihr Visier ist völlig beschlagen, und sie zerreißt das Bioplastik ihres Anzugs, aber es ist das Risiko wert. Nach einem weiteren Schlag ist das Loch fast groß genug, um beide Schultern hindurchzubekommen.

Der Geruch wilder Zwiebeln.

Der Tau, die Umrisse der Berge.

Die Süße des Lichts, der Mond über ihr.

Sauerstoff bei einem Prozent.

Die Regentropfen fallen weit tiefer unter das Loch als erwartet, aber es bleibt keine Zeit. Sie wirft die Samenumschläge hinaus in die Dunkelheit, dann die Axt und zwängt ihren Körper hinterher.

Miss Konstan…, schreit Sybil, aber Konstances Kopf und Schultern sind jetzt außerhalb der Argos. Sie windet sich weiter hinaus und bleibt mit einem Schenkel an einem Metalldolch hängen.

Sauerstoff entleert, sagt die Haube.

Konstance, deren Beine immer noch in der Wand stecken, deren Hüfte festklemmt, nimmt einen letzten Atemzug und reißt sich die Haube vom Kopf, reißt das Verschlussband weg und lässt sie fallen. Die Haube trifft auf Grund, rollt noch ein Stück und bleibt gut vier Meter unter ihr liegen, zwischen, wie es aussieht, nassen Steinen und langen Tundragrashalmen. Die Stirnlampe scheint gerade in die Höhe, hoch in den Regen.

Die einzige Möglichkeit, aus dem Schiff herauszukommen, besteht darin, sich da hinunterfallen zu lassen. Sie presst die Arme gegen die Außenseite der Argos, schließt die Augen und fällt.

Ein Fuß knickt um, ihr Ellbogen schlägt auf einen Stein, aber sie kann sich aufsetzen und atmen. Sie ist nicht tot, nicht erstickt, zu keinem Eisblock erstarrt.

Die Luft! Reich, nass, salzig und so lebendig: Wenn hier Viren lauern, wenn sie aus dem Loch in der Argos über ihr dringen, wenn sie sich in diesem Moment in ihrer Nase vervielfältigen, wenn die Atmosphäre der Erde giftig ist, dann sei es so. Vielleicht lebt sie noch fünf Minuten, atmet diese Luft, riecht sie.

Regen perlt über ihr schweißnasses Haar, ihre Wangen, ihre Stirn. Sie kniet im Gras und hört, wie der Regen auf ihren Anzug trifft, spürt, wie er auf ihren Lidern landet. Es scheint so unglaublich, so gefährlich, so willkürlich verschwenderisch: Wasser, das in solchen Mengen vom Himmel fällt.

Die Stirnlampe verlischt, und aus dem Loch, das sie in die Seite der Argos geschlagen hat, dringt nur ein leichter Schimmer. Aber die Dunkelheit hier draußen hat nichts mit NoLight zu tun. Der Himmel ist mit Wolken überzogen und scheint doch zu leuchten, die nassen Grashalme fangen das Licht ein und reflektieren es, Zehntausende Tropfen glitzern, und sie streift sich den Anzug ihres Vater bis hinunter auf die Hüften, kniet in ihrem Arbeitsanzug im Gras und erinnert sich an Aethons Worte: Ein Bad, das ist genug Magie für einen dummen Schafhirten.

Sie findet ihre Axt, steigt auch aus dem Rest Bioplastik, sammelt so viele von den Samenumschlägen ein, wie sie nur kann, und packt sie zu ihrem selbst gemachten Buch. Dann humpelt sie durch Gras und Gestein zum Zaun, und die Argos schwebt groß und bleich hinter ihr in der Dunkelheit.

Oben auf dem Zaun ist Klingendraht, und er ist sowieso zu hoch, um darüberzuklettern, aber mit ihrer Axt kann sie an einem der Pfähle genug Maschen sprengen und zurückbiegen, sodass sie sich hindurchzuwinden vermag.

Auf der anderen Seite liegen weitere tausende nasse, glänzende Steine. Auf ihnen wachsen Flechten, verkrustet, in Schuppen – sie könnte ein Jahr damit verbringen, jeden einzelnen von ihnen zu studieren. Und hinter den Steinen steigt ein Rauschen auf, das Rauschen einer ewigen, nie endenden Bewegung, brodelnd, sich ständig wandelnd. Das Meer.

Die Morgendämmerung dauert eine Stunde, und sie versucht, nicht einmal zu blinzeln. Erst kommt ein langsam sich ausbreitendes Purpur, das blau wird, und die Vielzahl der Schattierungen ist unendlich komplexer und reichhaltiger als jede Simulation in der Bibliothek. Sie steht barfuß im Wasser, bis über die Knöchel, und die niedrige, flache Brandung folgt tausend Vektoren. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist das Surren der Argos, das Gluckern aus den Rohren, das Summen der Kabel und Verbindungen, der kriechenden Tentakeln Sybils – der Maschine, die ihr ganzes Leben um sie herumgeschwirrt ist, von der Empfängnis an –, ist es weg.

«Sybil?»

Nichts.

Weit rechts kann sie das graue Gebäude ausmachen, das sie im Atlas entdeckt hat, den Bootsschuppen, den steinigen Anleger. Die Argos hinter ihr scheint geschrumpft, ist ein weißer Bolus unter dem Himmel.

Vor ihr, draußen am Horizont, verfärbt sich der blaue Rand der Dämmerung rosig, hebt die Finger, um die Nacht zurückzustoßen.