{ZWEI}
Wurzeln schlagen
Ich bin die Stimme im Wind,
in der Welle, im Baum,
im Verlangen, stark und blind,
in der Kraft,
die noch ein Traum …
Charles G. D. Roberts, »Autochthon«
Hoch droben am Südhang, wo unser Samen sich eingenistet hat, gibt es Wasser, Wärme und Sauerstoff im Überfluss. Rund um den Samen regt sich das Leben. Wie von Sonnenstrahlen beschienene Staubteilchen tauchen Insekten vom Waldgrund auf und blitzen kurz durch das vom Blätterdach gestreute Sonnenlicht. Die Luft ist erfüllt von ihren surrenden Stimmen. Wie mythische Schlangen wickelt der Adlerfarn (Pteridium aquilinum) die eingerollten Köpfe auf und entfaltet seine riesigen Wedel. Schaumspieren (Holodiscus discolor) sprießen in Grüppchen. Sie werden einmal drei bis vier Meter hoch und schon jetzt hängen die langen Zweige schwer beladen mit üppigen, cremefarbenen Blüten. Im Douglasienwald gibt es Leben nicht nur im Überfluss, sondern auch im Großformat.
Unser Samen ist jetzt vollends aufgewacht, die Säfte fließen, der Motor brummt. Die Keimwurzel bewegt sich innerhalb der Testa. Sie kommt als erster Teil der Pflanze heraus und fädelt sich durch eine kleine Öffnung in der Samenhaut, die Mikropyle. Sie trägt eine Wurzelhaube, einen locker sitzenden, aus Zellen gebildeten festen Hut, der die zarte Wurzelspitze vor Schaden bewahrt, während sie sich vorsichtig durch die grobe Erde nach unten schiebt. Die Wurzel wächst, indem sie ihre Substanz durch Zellteilung hinter der Haube vermehrt. Innerhalb der Wurzel differenzieren sich die Zellen zudem in unterschiedliche Gewebearten aus. Die Mitte, oder der Kern, enthält das Xylem, ein Gewebe, das aus feinen Stapeln zusammenhängender, hohler, länglicher Zellen, den Tracheiden, besteht. Jede Tracheide ist wie eine winzige Kapsel an beiden Enden geschlossen. Ihre Aufgabe ist die Stabilisierung und der Transport des Wassers, das durch die Wurzelwand oder Endodermis in das Xylem eindringt. Das Wasser sickert durch die Tüpfel, die nichts anderes sind als dünne Stellen in den Tracheidenwänden, und geht dann in die nächste Tracheide über, um so durch die Kette nach oben und in den Rest der Pflanze zu wandern.
Wie der Mechanismus des Wassertransfers in einem Baum tatsächlich funktioniert, wissen wir immer noch nicht ganz genau. In einem voll ausgewachsenen Baum erstrecken sich die Tracheidensäulen von den Wurzeln bis zum Kronendach und bringen damit das Wasser mehr als 100 Meter nach oben. Durch den sogenannten Kapillareffekt kann Wasser aufgrund der Oberflächenspannung wie an den Seitenwänden eines dünnen Strohhalms nach oben gezogen werden, allerdings nur um wenige Millimeter. Dass Wasser aus der Erde in die Wurzelzellen gelangt, lässt sich durch Osmose erklären, also die Tendenz des Wassers, aus einem verdünnten Zustand in eine stärker salzhaltige Lösung zu fließen. Wie es aber von dort in die Blätter oder Nadeln transportiert wird, ist nach wie vor ein Rätsel. Derzeit neigt man zu der Hypothese, dass die Verdunstung aus den Blättern ein Vakuum hinterlässt, und dass dieses Vakuum dann das Wasser durch das Xylem hochsaugt. Vielleicht gibt es sogar Pumpmechanismen, durch die Wassermoleküle aktiv geschoben oder gezogen werden. Wird eine Xylemsäule durchstochen – beispielsweise durch tunnelbohrende Insekten –, dringt Luft ein. Diese Säule wird dann für den Rest des Baumlebens kein Wasser mehr nach oben bringen.
Die zweite Gewebeart ist das Phloem. Das Phloem ähnelt dem Xylem, besteht aber aus Siebzellen, die ebenfalls an den Enden miteinander verbunden und entlang der Sprossachse angeordnet sind. Die Siebzellen erfüllen eine ähnliche Funk-tion wie die Tracheiden im Xylem; nur fließt hier die Flüssigkeit in beide Richtungen und transportiert dabei in den Keimblättern gespeicherte (und später in den Blättern und Nadeln hergestellte) Nährstoffe hinunter in die Wurzeln. Siebzellen und Tracheiden fungieren wie auf- und abfahrende Aufzüge im Wolkenkratzer Baum.
Ein verborgenes Leben
Unser Baum hat sein verborgenes Leben begonnen. Für uns zumindest ist es verborgen, da wir selbst nach jahrtausendelangen Forschungen immer noch vieles rund um den Baum nicht verstehen. Da gibt es physiologische Fragen – wie viel verschiedene Arten von Hormonen er zum Beispiel produziert. Es gibt aber auch Forschungsfelder, die nicht so konkret sind. Ist ein Baum eine Einheit für sich oder gewinnt er seine wahre Natur in Verbindung mit anderen Pflanzen- und Tierindividuen? An beiden Möglichkeiten könnte etwas Wahres sein, vermuten Wissenschaftler.
Bäume leben in Gemeinschaften. Sie wachsen in großen Gruppen zusammen, als ob sie Trost und Schutz suchten. Sie pflegen Beziehungen – auch sexuelle Beziehungen durch Fremdbestäubung – und kommunizieren sogar mit anderen Bäumen innerhalb des Bestands, ob aus ihrer eigenen oder einer anderen Art. In oftmals erstaunlicher Weise setzen sie sich für das gemeinsame Wohl ein. Und sie gehen Partnerschaften mit anderen Arten ein – selbst mit solchen, die genügend weit entfernt sind, um zu anderen Gattungen zu gehören –, auf genau die gleiche Art und Weise, wie Menschen Bohnen für die eigene Ernährung züchten. »Viel mehr als wir selber«, schreibt John Fowles in The Tree, »sind Bäume soziale Wesen; sie sind von Natur aus genauso wenig isolierte Exemplare wie der Mensch ein ausgesetzter Matrose oder Einsiedler ist.« Um einen einzelnen Baum zu verstehen, müssen wir den Wald als Ganzes verstehen.
Es gibt aber auch Bäume, die tatsächlich so etwas wie ausgesetzte Matrosen sind. Im Jahr 1865 paddelte Mark Twain in seinem Kanu zu einer Vulkaninsel, die mitten im Mono Lake in Kalifornien lag, östlich des heutigen Yosemite Nationalparks. Dort fand er eine von häufigen Vulkanausbrüchen gänzlich verwüstete Landschaft vor. »Nichts als graue Asche und Bimsstein«, schrieb er, »worin wir bei jedem Schritt bis über die Knie einsanken.« Noch nie hatte er so ödes, totes Gelände gesehen. Die Mitte der Insel bestand aus »einem flachen, weit ausgreifenden Talkessel, darüber ein Ascheteppich, hier und da ein Fleckchen feiner Sand.« Und doch fand er nahe bei einem Dampfstrahl, der immer noch aus dem aktiven Vulkan entwich, »den einzigen Baum auf der Insel, eine kleine Kiefer von höchst anmutiger Form und makelloser Symmetrie.« Die Nähe zum Vulkan war ein Vorteil für den Baum, »denn der Dampf zog ohne Unterlass durch seine Zweige und hielt sie allezeit feucht.« Es kann kein überwältigenderes Zeugnis geben von der Beharrungskraft des Lebens und dem Willen, dieses Leben auch alleine durchzustehen, als jene einsame Kiefer mitten in dem zersprengten Höllenkessel.
Bei aller Geselligkeit ist ein Baum also auch zutiefst individualistisch. Das zeigt sich darin, dass er sich immer dann, wenn es um Tod oder Leben geht, instinktiv zugunsten des eigenen Überlebens oder des Überlebens seiner Nachkommen entscheidet – ein Baumleben lang. In dieser Beziehung stellt ein Baum ein geschlossenes System dar. Die glückliche Fügung vorausgesetzt, dass er gleich zu Anfang in einem für das Wachstum günstigen Umfeld landet, besitzt jeder Baum alles oder kann sich alles beschaffen, was zur Beförderung seiner einfachen, wenn auch spezifischen Ziele nötig ist. Diese Ziele sind ein ausreichend langes Leben und entsprechende Gesundheit, um Nachkommen zu produzieren, die dann Teile seines Erbguts in die Zukunft lancieren. Ein Wald ist nicht einfach eine Ansammlung von Bäumen, sondern eine Gemeinschaft vieler Organismen. Aber jedes Individuum darin kann »den Einzelnen vom offenen Gedränge« unterscheiden, wie es Fowles mit einem Bild aus dem Rugby beschreibt. Aus der Perspektive einer Douglasie ist es genau dieses »offene Gedränge«, womit das Feuer aufräumen muss, damit der Einzelne durchstarten kann.
Ein Baum ist Teil einer Gemeinschaft, aber auch als Baum selbst stellt er eine Gemeinschaft dar, die aus unterschiedlichen Teilen besteht – aus Wurzeln, Stamm, Zweigen, Nadeln, Zapfen, dem Zapfeninneren, der äußeren Rinde. Er kann auf sich allein gestellt zurechtkommen, weil er im Lauf der Zeit ein Netzwerk ausgearbeitet hat, das die Verbindung zwischen seinen Gliedern mehr oder weniger kontinuierlich aufrechterhält. Das Wasser muss vom Boden in die Blätter gebracht werden, die Nährstoffe wiederum aus den Blättern in die Wurzeln, aber eventuell sind auch andere Stoffe effizient zu transportieren, noch effizienter vielleicht als Wasser und Nahrung.
So kann zum Beispiel eine ausgewachsene Douglasie 36 Stunden benötigen, um Wasser aus den Wurzeln bis in die Baumkrone zu heben; Substanzen zur Abwehr einer Insekteninvasion oder zur Heilung eines gebrochenen Gliedes müssen möglicherweise schneller transportiert werden. Was Kommunikation und Informationstransfer betrifft, verfügt der menschliche Körper über mehrere Systeme für die unterschiedlichen Bereiche: ein zentrales Nervensystem, ein sympathisches Nervensystem, ein lymphatisches System, ein Immunsystem. Bäume gibt es schon viel länger als Menschen, sogar viel länger als Säugetiere. Das sieht man daran, dass es auf der Erde viel mehr Pflanzenarten als Säugetierarten gibt; allein bei den Orchideen gibt es fast so viele Arten wie bei den Säugetieren. Und so haben die Bäume auch ihre eigenen komplexen Systeme zur Regulierung von Wachstum, Versorgung, Reparatur und Verteidigung entwickelt. Theophrast lag nicht ganz falsch, wenn er glaubte, durch die Adern eines Baumes fließe ein »Lebensprinzip«. Auch der britische Botaniker Nehemiah Grew hatte nicht ganz unrecht, als er 1682 in seinem Werk The Anatomy of Plants schrieb, dass der Pollen »auf den Samenbehälter beziehungsweise den Schoß fällt und diesen mit der Kraft der Fruchtbarkeit und belebender Ausdünstung berührt.« Beide Autoren hatten ein Gespür für die geheimnisvolle innere Lebenskraft, die einen Baum hervorbringt, und versuchten, dies auszudrücken, aber erst in jüngster Zeit haben wir wirklich Einblick in diese Kraft gewinnen können.
Von den »belebenden Ausdünstungen« in den verborgenen Systemen eines Baumes wurden zuerst die Auxine wissenschaftlich nachgewiesen. Das sind pflanzliche Wachstumshormone, die die Teilung, Vergrößerung und Differenzierung von Zellen anregen. Julius von Sachs, der große deutsche Pflanzenphysiologe und Theoretiker, hat als erster gezeigt, dass Pflanzensamen Nährstoffe in Form von Stärke speichern, dass des weiteren Stärke das erste nachweisbare Produkt der Photosynthese ist und dass bei der Entstehung der Wurzeln die Zellvergrößerung eine wichtigere Rolle spielte als die Zellteilung. Im Jahr 1865 stellte er die Behauptung auf, dass in den Blättern »besondere organbildende Substanzen« produziert werden, die für die Entstehung von Blüten und Samen verantwortlich sind. Obwohl es ihm nie gelang, diese Substanzen zu isolieren oder auch nur zu identifizieren, war sein Einfluss groß genug, um eine ganze Generation von Botanikern anzuregen, sich auf die Suche zu machen und am Ende seine Voraussagen zu bestätigen.
Das große Heureka kam in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts von einer Forschergruppe, die unter der Leitung des Botanikers Friedrich Went an der holländischen Universität von Utrecht arbeitete. Die Utrecht-Schule hatte sich vorgenommen, das Konzept des Tropismus bei Pflanzen zu untersuchen, also herauszufinden, warum Pflanzen auf unterschiedliche äußere Einflüsse reagierten, wie etwa Licht (Phototropismus), Wasser (Hydrotropismus) und Schwerkraft (Geotropismus). Wie kommt es, wollten sie wissen, dass die Wurzel einer Pflanze, wenn sie aus dem Samen kommt, immer nach unten wächst, auch wenn der Samen andersherum gelandet ist? Nach der gängigen Theorie war die Wurzel geotropisch – das eigene Gewicht zog sie nach unten. Angenommen, dies war der Fall, überlegten sie weiter, was brachte dann die Wurzel dazu, irgendwann nicht mehr nach unten, sondern in die Horizontale zu wachsen? Obwohl die meisten Bäume einschließlich der Douglasie eine karottenförmige zentrale Pfahlwurzel besitzen, breiten sich mehr als 90 Prozent ihres Wurzelwerks in einem Bereich von etwa 25 Zentimetern unter der Oberfläche aus. Und wären die Pflanzen geotrop, was würde dann den Stamm einer Pflanze dazu veranlassen, gegen die Schwerkraft immer nach oben zu wachsen?
Die Utrecht-Schule fand heraus, dass Pflanzenorgane, insbesondere Blätter und Knospen, Hormone produzieren, Auxine, die mit den Nährstoffen zusammen im Phloem den Stamm der Pflanze nach unten wandern und sich in den Bereichen konzentrieren, die schnelles Zellwachstum erfordern. In jungen Bäumen wie dem unseren befinden sich diese Bereiche hinter der Wurzelhaube und in der Sprossknospe, der Plumula, die im Schössling jetzt allmählich Lebenszeichen gibt.
Die Auxine wandern aus dem Samenbehälter sowohl hinunter in den Wurzelkern als auch in die Sprossknospe. In keiner der beiden Strukturen verteilen sie sich aber gleichmäßig in den Zellen; da sie große Moleküle sind und daher der Schwerkraft unterworfen, konzentrieren sie sich jeweils in der unteren Hälfte, vergleichbar mit Sand, der mit Wasser vermischt durch eine waagrechte Röhre fließt. Nun kommen drei besondere Eigenschaften der Auxine ins Spiel. Erstens: Wenn die Konzentration der Auxine genau stimmt, fördert sie die Zellteilung und damit das Wachstum; eine zu hohe Konzentration allerdings hemmt das Wachstum. Zweitens: Um bei der Wurzel das Wachstum zu beeinflussen, bedarf es einer viel geringeren Auxin-Konzentration als beim Stängel. Und drittens: Sonnenlicht vermindert die Fähigkeit der Auxine, die Zellteilung voranzutreiben. Wenn man alle drei Eigenschaften zusammennimmt, hat man eine Erklärung dafür, warum eine Wurzel immer nach unten wächst, ein Stängel aber immer nach oben. In der Wurzel konzentrieren sich die Auxine in der unteren Hälfte in solch hohen Mengen, dass sie die Teilung auxinempfindlicher Zellen hemmen; deshalb wächst die obere Hälfte der Wurzel, die weniger Auxine enthält, schneller als die untere Hälfte und die Wurzel krümmt sich nach unten. Währenddessen fördern die im unteren Teil der Sprossknospe (Plumula) des Baumes akkumulierten Auxine das Wachstum, während Sonnenlicht, das auf die obere Hälfte trifft, das Wachstum hemmt. Das ist der Grund, warum die Plumula nach oben austreibt. Im Ergebnis haben wir einen Sämling mit einer nach unten wachsenden Wurzel und einem nach oben Richtung Sonne wachsenden Stängel. Sobald er sich in die Länge streckt, verteilen sich die Auxine gleichmäßiger, deshalb richtet sich der Stängel dann gerade auf.
Pflanzenhormone kommen in vielen verschiedenen Formen vor. Eine davon ist Indolessigsäure, womit Obstgärtner Bäume besprühen, um gleichmäßiges Wachstum zu erreichen. Ein anderer Hormontyp ist Ethylen. Dieses wird ebenfalls zur Beschleunigung der Fruchtreife benutzt. Ein weiteres Auxin ist das synthetische Herbizid 2,4–D; es vernichtet manche breitblättrige Pflanzen, während es andere verschont. Ein verwandtes Auxin, 2,4,5–T, enthält Dioxin, eine Verbindung, die Fehlgeburten, Geburtsfehler und Funktionsstörungen der Organe beim Menschen verursacht: 2,4–D vermischt mit 2,4,5–T nennt man Agent Orange, ein im Vietnamkrieg von den US-Amerikanern eingesetztes Entlaubungsmittel.
Jahrhundertelang haben sich die Naturphilosophen über den Unterschied zwischen lebendigen Wesen und leblosen Objekten den Kopf zerbrochen. Was unterscheidet Leben von Nichtleben? Wie wir gesehen haben, begann das Leben als »Zusammenballung« nichtlebender Moleküle. Die Vitalisten glaubten, dass in lebenden Organismen eine beseelende Kraft gegenwärtig war, irgendeine physische Substanz, die der nichtlebenden Materie Leben einhauchte und diese dann in der Todesstunde wieder verließ. Sie legten einen lebenden Organismus auf die Waage, töteten ihn und wogen ihn erneut, um herauszufinden, ob die Lebenskraft eine erkennbare Masse hatte. Oft setzte man sogar Luft mit Seele gleich, weil es ohne Luft kein Leben gab. Im Englischen klingt diese Vorstellung noch heute nach: To inspire heißt einatmen, aber auch inspirieren; to expire bedeutet zugleich ausatmen und sterben.
Chemiker früherer Zeiten hatten begriffen, dass das Leben auf Molekülen wie Proteinen, Nukleinsäure, Lipiden und Kohlehydraten gegründet war, die allesamt auf Kohlenstoff basierten. Sie gingen davon aus, dass nur lebende Organismen diese komplexen Moleküle herstellen konnten – eine Annahme, die Bestand hatte, bis der deutsche Chemiker Fritz Haber im Jahr 1828 tatsächlich aus Ammonium und Zyanat synthetisch Harnstoff herstellte, eine im Urin zu findende organische Verbindung. Einige Jahre später erzeugte sein Schüler Hermann Kolbe Essigsäure, eine weitere organische Verbindung. Ganz offenkundig konnte die Chemie im Reagenzglas die chemischen Prozesse des Lebens kopieren.
Als Sir Isaac Newton (1642–1727) mit seinen Forschungen zur Optik und Schwerkraft die Physik revolutionierte, verstand er das Universum als eine riesige mechanische Konstruktion, ein gewaltiges Uhrwerk, das die Wissenschaftler mittels Analyse seiner verschiedenen Teile untersuchen konnten. Er führte eine neue wissenschaftliche Methode ein, den Reduktionismus. Diesem Denkansatz lag die Annahme zugrunde, dass man die durch eine stückchenweise Erforschung der Natur gewonnenen Erkenntnisse wie Teile eines Puzzles zusammensetzen konnte, um schließlich eine Erklärung für das Funktionieren des Kosmos zu erhalten. Der Reduktionismus hat enorm viel geleistet, was das Sammeln und Erforschen von naturkundlichen Informationen betrifft. Als die Wissenschaftler allerdings Teile lebender Organismen untersuchten, fanden sie heraus, dass diese ihrerseits aus Teilen zusammengesetzt waren – den Molekülen –, die selbst wiederum eine Ansammlung von Atomen darstellten, welche letztendlich aus Quarks bestanden, den (derzeit) nicht mehr reduzierbaren Strukturen jeder Materie. Auf der Ebene der Quarks gab es nichts mehr, womit man Leben von Nichtleben hätte unterscheiden können. Nichts in diesen allerelementarsten Strukturen konnte irgendwelche Einblicke in das Erscheinungsbild komplexer Prozesse von Entwicklung, Differenzierung oder Bewusstsein liefern. In der heutigen Biologie oder Medizin entfernt man sich zusehends von einer reduktionistischen Auffassung, die davon ausgeht, dass man nur jeden einzelnen Bestandteil, jeden einzelnen Prozess verstehen muss, um zu wissen wie das Ganze funktioniert. Wie Stephen Jay Gould schrieb, sind »Organismen mehr als eine bloße Verschmelzung von Genen. Sie haben eine Geschichte, die relevant ist; ihre Teile interagieren wie komplexe Systeme.«
Das Leben selbst widerlegt den Reduktionismus und bezeugt die Tatsache, dass das Ganze jeweils größer ist als die Summe seiner Teile. Dass sich Leben aus Nichtleben ergibt, ist bereits ein Hinweis. Wenn in den kleinstmöglichen Materiepartikeln keine Lebenskraft oder Seele gegenwärtig ist, dann muss sich das Leben zwangsläufig aus der gemeinschaftlichen Interaktion nichtlebender Teile ergeben, eine Synergie, die emergente Fähigkeiten wie Atmung, Verdauung und Reproduktion erzeugt.
Fabelhafte Pilze
»Wir sind nun«, schreibt Alexandre Dumas 1869 in seinem Großen Wörterbuch der Kochkunst, »beim sacrum sacrorum der Gastronomen angelangt, bei dem Namen, den kein Gourmand ausspricht, ohne zu salutieren – beim Tuber cibarium, beim Lycoperdon gulosorum, bei der Trüffel.«
Wollte man die Geschichte der Trüffel schreiben, fährt Dumas fort, müsste man sich gleich die ganze Geschichte der Zivilisation vornehmen, und genau das macht er dann auch. Schon bei den Römern, erzählt er, waren Trüffeln bekannt; sie wurden aber auch vorher bereits von den Griechen verzehrt, welche die Pilze aus Libyen erhielten. Offenbar gab es überhaupt keine Epoche, in der sie nicht in Mode waren. Als der englische Tagebuchschreiber John Evelyn, Autor des Werkes Sylva, or a Discourse of Forest Trees, im Jahr 1644 durch Frankreich reiste, vermerkte er in seinem Tagebuch einen Aufenthalt in der Provinz Dauphiné, wo er »zu Abend speiste, wobei (unter anderen Köstlichkeiten) ein Trüffelgericht gereicht wurde, welches eine Art Erd-Nuss ist. Sie wird von einem zu diesem Zweck abgerichteten Schwein aufgespürt, weshalb diese Kreaturen zu einem hohen Preis verkauft werden.«
Dumas’ Tuber cibarium ist eigentlich die echte Gourmand-Trüffel, T. aestivum, während unter seinem Lycoperdon gulosorum eher der L. gemmatum zu verstehen ist, der Flaschenbovist. Der ist knorrig wie eine Trüffel und in jungem Zustand essbar.
Nachdem die Säue (nur weibliche Schweine konnten hierfür abgerichtet werden) die Trüffeln aufgespürt hatten, wurden die Pilze entweder zur Herstellung von Gänseleberpastete mit Gänseleber vermischt oder auf irgendeine andere faszinierende Weise gekocht. Die Trüffel war tatsächlich mehr als eine Modeerscheinung. In Europa wurde sie zum Symbol der Überlegenheit der französischen Kultur. Und weil Trüffeln für ein Aphrodisiakum gehalten wurden, passten sie bestens zu Austern und absolutistischer Macht. »Sinnliche, modebewusste Männer«, schrieb ein Angehöriger der feinen italienischen Gesellschaft des 15. Jahrhunderts, »verzehren sie, um den Appetit auf Liebe anzuregen.« Wie sich herausgestellt hat, sind Trüffeln tatsächlich eine Art Aphrodisiakum, zumindest für die Säue: heute weiß man, dass die Pilze die doppelte Menge des männlichen Hormons Androsteron enthalten wie ein durchschnittlicher Eber. Die weiblichen Schweine erwarten also offensichtlich beim Ausgraben, dass da mehr für sie zu holen ist als nur eine gute Mahlzeit.
Eine Frucht zu besitzen, die stark nach männlichen Hormonen riecht, gehört zur reproduktiven Strategie des Pilzes. Ein Trüffel ist mit Sporen vollgestopft und wenn es an der Zeit ist, diese Sporen an die Luft zu schicken – keine leichte Aufgabe für einen unterirdischen Organismus –, dann schüttet die Trüffel entsprechende Botenstoffe, sogenannte Pheromone, aus, und schon kommt ein Weibchen daher – Bären, Stachelschweine und Mäuse im Wald müssen nicht abgerichtet werden –, gräbt sie aus, frisst sie auf und scheidet die Sporen aus, die im Schutz einer harten Außenschale unverdaut den Darm des Tieres passiert haben: emission accomplished, die Verbreitungsaufgabe ist erfüllt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beauftragte der preußische König den Pilzkundler A. B. Hatch, eine Methode zum Züchten von Trüffeln zu entwickeln und auf diese Weise Frankreich den Trüffelhandel, der auf wilden Trüffeln basierte, zu entreißen. Wie ein Paläontologe, der eine Fundstelle übereinander liegender Knochen aufdeckt, legte Hatch mit großer Sorgfalt ein unterirdisches Pilzgeflecht frei. Er fand heraus, dass die Mutterpilze ihr Wachstum keineswegs allein der Erde verdankten; sie hefteten sich nämlich an die feinen Wurzeln der sie umgebenden Bäume an – in diesem Fall vor allem Eichen. Pilz und Wurzel wuchsen richtiggehend ineinander, bis sie fast zu einem einzigen Organismus zu verschmelzen schienen. Hatch nannte diese zusammengesetzte Lebensform Mykorrhiza, das heißt Pilzwurzel. Er kam ins Nachdenken über den seltsamen Charakter dieser Verbindung. Mit Ausnahme von Trüffeln und anderen essbaren Pilzen haben Menschen gegenüber Pilzen eigentlich eine Aversion. Wir bringen sie mit Fäulnis und Krankheit in Verbindung, und dies zu Recht. Es gibt vergleichsweise kleinere durch Pilze verursachte Probleme wie Fußpilz, Pilzinfektionen und Schuppen. Darüber hinaus werden aber auch drei Formen von Lungenentzündung sowie eine Form der Meningitis durch Pilze unterschiedlicher Art verursacht. Auch viele Pflanzenkrankheiten sind auf Pilzinvasionen zurückzuführen. Wir gehen also ganz selbstverständlich davon aus, dass eine »pilzinfizierte« Pflanzenwurzel erkranken und sterben wird. Bei einem Mykorrhiza-Arrangement verhält es sich aber so, dass von dem Zusammenleben beide gleichermaßen profitieren, Pilz wie Wurzel.
Das Werk von Hatch wurde in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts durch den französischen Wissenschaftler Louis Alexandre Mangin weitergeführt. Mangin interessierte sich für Pflanzenatmung und Wurzelentwicklung. Er fand heraus, dass manche Pilze zu bestimmten Pflanzen offenbar eine ganz besondere Affinität hatten; einige fanden sich nur an Baumwurzeln, während andere augenscheinlich Kräuterpflanzen bevorzugten. Ein paar Jahre später kam ein weiterer französischer Botaniker, Bernard Noël, in Sachen Mykorrhiza-Verbindung einen Riesenschritt weiter. Er war gerade dabei, die Fortpflanzung bei Orchideen zu erforschen und stellte fest, dass alle Orchideen für die Nährstoffversorgung auf Pilze angewiesen waren. Mit anderen Worten: innerhalb der ältesten Pflanzenfamilie der Erde war die Mykorrhiza-Verbindung zwingend; denn ohne die Pilzpartner verwelken die Orchideen und sterben.
Heute glaubt man, dass fast alle Mykorrhiza-Verbindungen wenn nicht unabdingbar, so doch sicherlich die Norm sind; sehr wenige Pflanzenarten wachsen ohne Pilzpartner. Wer einen Pilzpartner hat, kann auf jeden Fall besser wachsen, auch wenn Abhängigkeiten manchmal kontraproduktiv sind. Peter Wohlleben berichtet in Das geheime Leben der Bäume von einer Douglasie in seinem Wald. Als sie von einem Blitz getroffen und getötet wurde, starben in einem Umkreis von 15 Metern alle weiteren Douglasien ebenfalls. »Es war ganz klar«, schreibt er, »dass die Bäume über den Boden miteinander verbunden waren. Und an diesem Tag bekamen die benachbarten Bäume eben keinen lebenswichtigen Zucker, sondern eine tödliche Ladung ab.« Aus Fossilien gewonnene Erkenntnisse lassen vermuten, dass diese gegenseitige Abhängigkeit schon vor 400 Millionen Jahren bestand, bei den ersten Pflanzen, die die Kontinente eroberten. »Genau genommen«, schreibt Chris Maser, »sind die Landpflanzen wahrscheinlich aus einer Symbiose zwischen Meerespilzen und photosynthetisierenden Algen entstanden.« Da die aufs Land vordringenden Meerespflanzen keine eigenen Wurzeln besaßen, konnten sie wohl nur mithilfe von Pilzen genügend Wasser und Mineralien gewinnen, um auf dem trockenen Land überleben zu können. Die Pilze ihrerseits benötigten die Pflanzen, da diese über den Weg der Photosynthese Nahrung für sie produzierten.
Die Pilze, von denen es rund 90.000 Arten gibt, können die benötigte Nahrung nicht selbst herstellen, weil sie im Gegensatz zu anderen Pflanzen nicht über Chloroplasten verfügen. Dennoch brauchen sie für die Reproduktion Energie in Form von Zucker. Die Mykorrhiza-Pilze dringen also in die Wurzeln lebender Pflanzen ein und holen sich Zucker von ihrer Wirtspflanze. Sie holen sich sogar derartige Mengen an Zucker, dass sie in der Lage sind, sich zu gigantischer Größe auszudehnen. Wäre die Geschichte hiermit zu Ende, wäre der Pilz ganz einfach ein Parasit und der Baum würde irgendwann absterben. Der Pilz zeigt sich jedoch für die Gunst, die er erfahren hat, erkenntlich. Als Gegenleistung für den Zucker, den er von ihm erhält, liefert sein ausgedehntes Hyphen-Netzwerk dem Wurzelsystem des Baumes Zugang zu Wasser und Nährstoffen, die dieser andernfalls aus der mineralischen Bodensubstanz nicht gewinnen könnte.
Ein Baum sitzt da fest, wo der Samen gelandet ist und seine erste Wurzel nach unten getrieben hat; er verknüpft sein Schicksal mit einem einzigen Ort. Danach kann der Baum weder Räubern noch Krankheiten ausweichen. Er kann auch nicht anderswo nach Nahrung suchen oder in ein angenehmeres Klima auswandern. Während es sich ausbreitet, muss sein Wurzelsystem Wasser und gelöste Nährstoffe finden und zugleich die immer höher wachsende Pflanze gegen Wind, Regen und Überschwemmungen in der Erde verankern. Was die Wurzeln leisten können, hängt davon ab, wie weit sie in den Boden vordringen und wie groß die Oberfläche ist, die mit dem Bodenmaterial in Berührung kommt. Die Matte aus Pilzhyphen erhöht das für den Baum nutzbare Bodenvolumen enorm. Sie absorbiert Wasser und gibt es an ihn weiter. Hyphen können auch besser als Baumwurzeln wichtige Nährstoffe aus dem Boden ziehen, etwa Phosphor und Stickstoff; diese tauschen sie dann mit dem Baum gegen Zucker. Sie scheiden Enzyme aus, die den Stickstoff im Boden abbauen. Manchmal töten sie sogar Insekten und holen aus den Körpern Spurenelemente, die dann an den Baum weitergegeben werden.
Die Beziehungen zwischen Pilzen und Orchideen sind endotroph, das heißt, der Pilz dringt tatsächlich in die Zellen der Orchideenknolle ein und wächst in ihrem Inneren. Fast 300.000 Pflanzenarten pflegen endotrophe mykorrhizale Verbindungen mit allerdings nur 130 Pilzarten. Beziehungen zwischen Pilzen und Bäumen sind ektotroph: Das komplexe Hyphennetzwerk, das sogenannte Myzel, bildet nämlich einen Mantel, der die Wurzel außen wie eine Gazeschicht umhüllt und auch die Räume zwischen den Zellen der Wurzelrinde, ohne in sie einzudringen, ausfüllt, indem er ein sogenanntes Hartigsches Netz bildet. Wie Jon Luoma in dem Buch The Hidden Forest schreibt, »glauben die Pilzkundler heute, dass Mykorrhizapilze Bäume effektiv mit der tausendfach höheren Bodenoberfläche in Verbindung bringen, als dies die Wurzeln selbst vermögen.« Innerhalb dieses Bereichs ist die Hyphenkonzentration gewaltig. Ein einziger Liter Erde aus dem Umfeld einer mykorrizierten Wurzel enthält einige Kilometer dicht gepackter Hyphen. Nur etwa 2.000 Pflanzenarten sind ektomykorrhizal, beteiligt sind aber rund 5.000 Pilzarten.
Mykorrhizapilze verhelfen ihren Wirtsbäumen zu gewaltiger Widerstandskraft im Fall von Dürren, Überschwemmungen, hohen Temperaturen, Nährstoffknappheit im Boden, niedrigem Sauerstoffgehalt und anderen möglichen Belastungsquellen. Studien weisen nach, dass Pilze die Bäume sogar vor der Invasion anderer, eventuell schädlicher Pilze schützen: Wenn zum Beispiel die Amerikanische Rotkiefer mit dem Mykorrhizapilz Paxillus involutus geimpft wird, produziert dieser ein antimikrobielles Pilztoxin, das den Baum gegen Fusarium-Wurzelfäule fast doppelt so resistent macht wie vorher. Es lohnt sich also für einen Pilz, seinen Zuckerlieferanten gesund und glücklich zu erhalten, damit er weiterhin Zucker ausschüttet.
Douglasien gehen mit mehr als 2.000 Pilzarten ektomykorrhizale Beziehungen ein. Es kann vorkommen, dass bei einem Baum mehrere Pilzarten an unterschiedlichen Teilen des Wurzelsystems angedockt haben, insbesondere wenn sich die Wurzeln in unterschiedliche Bodenbereiche erstrecken. Manche Pilze sind bestimmten Baumarten zugeordnet. Suillus lakei zum Beispiel, der Douglasien-Röhrling, ist ein rötlich-brauner Pilz, den man fast ausschließlich unter Douglasien findet. Er ist essbar, obwohl er in der Spätsaison etwas klebrig werden kann. Der Violette Lacktrichterling bevorzugt ebenfalls den Schatten der Douglasie, ist aber auch unter Kiefern und anderen Waldpflanzen zu finden.
Mykorrhizapilze
Die ungewöhnlichste Partnerschaft zwischen einer Pflanze und einem Pilz ist wohl die zwischen dem Fichtenspargel Monotropa uniflora, einer Blütenpflanze, und einem Pilz aus der Gattung Boletus, der sich an ihre Wurzeln anheftet. Monotropa uniflora wächst in feuchten Waldgebieten in ganz Nordamerika, einschließlich dem pazifischen Nordwesten. In der Umgebung unseres Baumes finden sich überall Exemplare dieser Gattung. Mit leicht rosa gefärbten Stielen und hängenden Köpfen spitzeln sie wie bleiche, traurige Würmer aus der Bodenstreu heraus. Da die Pflanze über kein eigenes Chlorophyll verfügt (im reifen Stadium wird sie schwarz), produziert sie keinen Zucker, weder für sich selbst noch für ihren Mykorrhiza-Partner, und dennoch findet sich der Boletus hier ein. Der mit den Wurzeln der Monotropa uniflora verbundene Pilz verbindet sich übrigens auch mit den Wurzeln zufällig benachbarter Koniferen wie etwa der Douglasie; der Boletus saugt Nährstoffe aus der Konifere und übermittelt sie direkt an die Monotropa uniflora. Niemand weiß, ob dieser Pilz der Douglasie überhaupt etwas bringt, und wenn ja, was. Vielleicht hat er ihr überhaupt nichts zu bieten. Dann wäre dies einer der seltenen Fälle in der Natur, dass jemand ein Gratismittagessen bekommt.
Aus fruchtbarem Boden
Wie Bäume brauchen auch Ideen nährstoffreichen Boden, um zu gedeihen, und selbst dann kann es sein, dass sie so lange brauchen wie eine Douglasie, bis sie reif sind. Während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ereignete sich in Europa unter der aufgeklärten Schirmherrschaft Friedrichs II., des Kaisers im Heiligen Römischen Reich, eine Revolution im wissenschaftlichen Denken. Im finsteren Mittelalter waren die Werke der alten Griechen verloren gegangen oder von der Kirche mit dem Bann belegt worden und die römischen Denker hatten wenig Bedeutsames zur Förderung naturwissenschaftlicher Gelehrsamkeit beigetragen. Unter der Herrschaft Friedrichs II. wurden die griechischen Texte wiederentdeckt, ins Lateinische übersetzt und einer zunehmend gebildeten Bevölkerung zugänglich gemacht. Darunter waren Werke von Aristoteles, Euklid, Ptolemäus, Archimedes, Diokles und Galen. Auch arabische Schriften über Medizin, Astronomie, Optik und Chemie wurden gelesen und diskutiert, vornehmlich in lateinischer Übersetzung. Während der mehr als 1.200 Jahre dauernden Unterdrückung durch die Römische Kirche waren kirchlich genehmigte »wissenschaftliche« Texte hauptsächlich zusammengeschusterte Enzyklopädien und Kräuterbücher wie das des Dioscurides gewesen – Listen medizinischer Pflanzen, von denen viele nördlich des Mittelmeerraumes überhaupt nicht bekannt waren. Im 13. Jahrhundert aber brachen die Naturwissenschaften ganz plötzlich in die Vorstellungswelt der Menschen ein.
Unter den Gelehrten, die während der Herrschaft Friedrichs II. eine Blütezeit erlebten, hatte Albertus Magnus (oder Albert der Große) weit und breit das höchste Ansehen. Zu seiner Zeit am Hofe, als Alchemie und Astrologie noch als rechtmäßige wissenschaftliche Betätigungen angesehen wurden, verehrte man ihn als Magier. Sein Buch De Vegetabilibus et Plantis – 1250, im Todesjahr Friedrichs II., veröffentlicht – war ein Kommentar zu dem Werk De Vegetabilibus. Darin hatte Theophrast Texte zusammengestellt, die man dem Aristoteles zuschrieb. Die Version des Albertus Magnus nahm auch anschauliche Beschreibungen einheimischer Pflanzen auf, die den Griechen unbekannt waren, und wenn er mit der Darstellung des ursprünglichen Autors nicht einverstanden war, ergänzte er sie mit eigenen Beobachtungen. Auf Neugier und Erfahrung (das lateinische Wort heißt experimenta) – die zwei Säulen wissenschaftlicher Forschung – legte er großen Wert. Als er einmal einen Baum zergliederte, kam er zu dem Schluss, der Saft werde durch besondere Venen von den Wurzeln in die Blätter transportiert – also wie durch Blutgefäße, jedoch ohne Puls.
Als Albertus 1280 starb, war Friedrich II. schon 30 Jahre tot und Edward I. war König von England. Während Edwards Regierungszeit war Roger Bacon der fähigste Wissenschaftler. Er wurde 1219 geboren und erhielt 1240 sein Masterdiplom von der Universität Oxford. Nach der Promotion lehrte er als Mitglied des Franziskanerordens für einige Zeit in Paris das Werk des Aristoteles.
Genau wie Albertus lobte Bacon die Vorzüge der von ihm so bezeichneten »experimentellen Wissenschaft«, also der physikalischen Untersuchung von Naturphänomenen, gegenüber der Methode, sich auf abstrakte Argumentation oder überliefertes Wissen zu verlassen. Und genauso wie Pietro d’Abano verweigerte er die Anerkennung von Autorität und kam deshalb mit der Kirche in Konflikt. In fortgeschrittenen Lebensjahren wurde er in Paris von seinem eigenen Franziskanerorden ins Gefängnis gebracht, wegen »verdächtiger Neuerungen« und »gefährlicher Lehren«, was möglicherweise auf seine Bewunderung für den großen arabischen Philosophen Averroës zurückzuführen ist. Dieser predigte, von Aristoteles ausgehend, eine Lehre der Allgemeinen Vernunft, verneinte aber für den einzelnen Menschen die Unsterblichkeit der Seele. Dennoch führte Bacon Europa einen weiteren Schritt auf dem Weg aus dem finsteren Mittelalter, weg vom bedingungslosen Festhalten am Dogma, ob in Religion oder Wissenschaft. »Die Autoren schreiben nämlich viele Behauptungen nieder«, stellte er fest, »und die Leute glauben ihnen, obwohl ihre Argumentation auf keinerlei Erfahrung beruht. Ihre Argumentation ist von Grund auf verkehrt.«
Genau zu der Zeit, als unser Baum sich erstmals versuchsweise in den Boden hineintastet, befindet sich auch die Welt der Wissenschaft im Aufbruch, um die Geheimnisse der Natur auf neuen Wegen zu erforschen.
Aus dem Untergrund empor
Unter dem warmen Sommerboden stellt die junge Wurzel des Baumes ihre eigenen ektomykorrhizalen Verbindungen her, langsam und schwankend wächst sein Stamm in die Höhe. Er kommt nicht wirklich aus der Samenhaut heraus, vielmehr sitzt diese auf seinem Kopf, während er sich nach oben reckt, wie der Helm eines Piloten aus dem Ersten Weltkrieg. Da die Blattansätze, aus denen später Nadeln wachsen werden, sich erst andeuten, ist er in puncto Energie immer noch auf die im Endosperm und den Keimblättern gespeicherte Stärke angewiesen. Ist diese gespeicherte Energie dann verbraucht, fällt kurz darauf das Endosperm ab. Jetzt muss der Stamm Nadeln produzieren, um Wurzeln und Pilzpartner mit Nahrung zu versorgen.
Die innere Struktur des Stammes ähnelt der der Wurzel – Xylem und Phloem, von einer Epidermis umhüllt –, außer dass beim Stamm die äußere Schicht nicht durchlässig ist, wie das bei der Wurzel der Fall sein muss. Es handelt sich um Rinde, wenn auch in diesem frühen Lebensstadium um eine dünne, gräuliche, flaumige Art von Rinde. Ein ausgewachsener Baum besteht im Wesentlichen aus totem Kernholz, das von über zehn bis 15 Jahre gewachsenem Splintholz umgeben und in eine Schicht aus lebendem Gewebe, dem sogenannten Kambium, eingehüllt ist. Sowie sich unter der inneren Rinde neue Tracheiden bilden, sterben die alten Zellen ab und der Baum nimmt im Durchmesser zu. Man stelle sich eine Kerze vor, die immer wieder in heißes Wachs getaucht und auf diese Weise dicker wird. Beim Baum ist die neue Schicht aus heißem Wachs das Kambium, während die Schichten aus abgekühltem Wachs das Kernholz des Baumes darstellen, die Wachstumsringe früherer Jahre. Würde ein Nagel in den Stamm unseres Baumes geschlagen, wenn er gerade zehn Meter hoch ist, dann hätte der Nagel immer noch den gleichen Abstand vom Boden, wenn der Baum voll ausgewachsen ist. Höhe gewinnt ein Baum an der Spitze, der Stamm nimmt nur an Umfang zu. Jetzt gerade aber besteht der Baum ganz aus lebendem Material, aus Kambium, Splint und Rinde, ohne totes Kernholz in der Mitte. Durch die Tracheiden des Xylems fließt Wasser aus den Wurzeln stammaufwärts; wenn sich die ersten Nadeln bilden und mit der Photosynthese beginnen, dann wird Stärke, also verdichteter Zucker, durch die Siebzellen des Phloems hinunter wandern, um in den Wurzeln gespeichert und genutzt zu werden.
Wie bei allen Bäumen bestehen die Xylemzellen der jungen Douglasie aus Kernen, die von dicken Zellulosewänden umgeben sind. Sie laufen im Innern des Stammes wie ein Bündel gegliederter Plastiktrinkhalme nach oben. Zellulose ist ein Polysaccharid, aus vielen Molekülen des einfachen Glukosezuckers zusammengesetzt. Während sie im Protoplast gebildet wird, ist sie weich, wird aber hart, wenn sie die Zellwand erreicht. Von allen organischen Polymeren, die wir kennen, kommt sie am häufigsten vor. Sie ist in allen Pflanzen zu finden, selbst bei einigen Pilzen in den Hyphenwänden. Überdies gehört sie zu den festesten Naturfasern. Sie ist widerstandsfähiger – und, wie Pflanzenfresser wissen, unverdaulicher – als Seide, Sehne oder sogar Knochen. Ihre Festigkeit ist zum Teil auf Wasserstoffbrückenbindungen innerhalb eines jeden Moleküls ebenso wie zwischen nebeneinander liegenden Molekülen zurückzuführen. Zellulose besitzt sogar so starke Bindungen, dass, würden diese nicht durch Auxine »aufgebrochen«, eine weitere Anlagerung von neuen Zellulosemolekülen auf der Innenfläche der Zellwand unterbunden würde. Der Baum würde nicht wachsen.
Ein weiterer Zellbestandteil ist Lignin, das zweithäufigste Pflanzenpolymer. Es verleiht den Zellwänden Festigkeit und Widerstandskraft. Als die Pflanzen das Land zu besiedeln begannen und einige unter ihnen langsam über ihre Artgenossen hinauswuchsen, bestanden die Stämme aus Zellen mit Wänden aus reiner Zellulose. Mit zunehmender Höhe wurden viele vom Wind umgeknickt oder brachen unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Wo das nicht geschah, hatten sich die Pflanzen in einem Prozess, den wir nicht kennen, Lignin angeeignet. Dieses wirkt in den Zellwänden wie Bewehrungsstäbe im Beton. Irgendwann konnten nur Pflanzen mit Lignin lange genug leben, um Nachwuchs zu produzieren. Heute besteht Holz zu etwa 65 Prozent aus Zellulose und zu 35 Prozent aus Lignin.
Lignin ist eine Verknüpfung dreier aromatischer Alkohole; sie füllen die noch nicht von anderen Substanzen besetzten Räume in den Zellwänden aus und verdrängen dabei sogar Wassermoleküle. Auf diese Weise bildet Lignin ein sehr starkes wasserabweisendes Netz, wodurch es alle Zellwandelemente fest zementiert sowie das Xylem verfestigt und gegen Druck widerstandsfähig macht. Zudem bietet es eine wichtige Barriere gegen Infektionen durch Pilze und Bakterien. Wird ein Baum von einer Krankheit befallen, schottet er den infizierten Bereich mit einer Ligninwand ab, damit sich die Krankheit nicht ausbreiten kann. Lignin ist derart zäh, dass die Papier- und Zellstoffindustrie teure Prozesse entwickeln muss, um es loszuwerden. Es sind die Säuren, die man für den Ligninabbau im Papierholz braucht, von denen in solchen Betrieben die größte Umweltverschmutzung ausgeht.
Gleich bei der Spitze unseres jungen Baumes haben sich fünf Kotyledonen vom Stamm aus wie die Streben eines Regenschirms aufgespannt. Sie sind die ersten Nadeln des Baumes. An der Spitze, wo sie mit dem Stamm verbunden sind, ist ein gerundeter Auswuchs zu sehen, das sogenannte Apikalmeristem, und genau an dieser Stelle findet das neue Wachstum statt. Das Bildungsgewebe (Meristem) weist eine Reihe kleiner Höcker oder Knoten auf. An jedem Knoten wird sich ein neuer Nadelstrauß bilden. Zunächst stehen die Knoten nahe beieinander, aber allmählich teilen und vergrößern sich die Zellen innerhalb des Meristems. Der Abstand zwischen den Knoten nimmt zu. Oberhalb einiger Knoten erscheinen Seitenknospen. Aus diesen entstehen irgendwann Zweige, und jede Zweigspitze hat dann ein eigenes Apikalmeristem. Bei Laubbäumen wie der Eiche oder dem Ahorn erscheinen Seitenknospen über jedem Blattknoten. Bei der Douglasie und anderen Weichhölzern stehen die Knoten allerdings derart nahe beieinander – der Abstand zwischen den Knoten beträgt lediglich zwei Millimeter –, dass nur bei einem kleinen Teil der Knoten Knospen auftreten. Jede Knospe ist ein kleiner, verdichteter Trieb aus embryonalen Blättern, Knoten (Nodien) und den Teilen der Sprossachse zwischen den Knoten (Internodien). Sie schlummert in Erwartung eines Nahrungsschubs aus den Wurzeln. Dann kann sie sich zu einem Zweig entwickeln.
Mit den ausgefächerten Keimblättern an der Spitze und getragen von einem ungleichmäßigen Stamm sieht die Douglasie jetzt wie eine kleine Palme aus. Sie ist winzig, aber ein voll funktionsfähiger Organismus. Das Bildungsgewebe sorgt dafür, dass sich die Zellen wie verrückt teilen und vergrößern, und die Keimblätter führen bereits die Photosynthese durch, diesen Prozess, der sie das ganze Leben begleiten wird.
Im ganzen Baum gibt es inzwischen viele Zellen, von denen jede ihre eigene, vorbestimmte Aufgabe erfüllt. Die Vielzelligkeit hat Pflanzen wie auch Tieren die Möglichkeit eröffnet, innerhalb eines einzigen Organismus eine Vielfalt von Funktionen zu entwickeln. Wie wir gesehen haben, ist ein vielzelliger Organismus im Grunde eine Kolonie kleinerer Organismen. Diese Vielfalt konfrontiert uns allerdings mit einem biologischen Paradoxon. Wie konnte sie überhaupt entstehen? Die Mitose, nämlich der Prozess der Zellteilung, stellt sicher, dass das Erbgut aller Tochterzellen identisch ist. Wenn aber Entwicklung und Spezialisierung von Zell- und Gewebetypen genetisch kontrolliert werden, wie sieht dann der Mechanismus aus, der die Unterschiede produziert?
In einer Reihe eleganter Versuche hat die Molekularbiologie gezeigt, dass die Befruchtung die Elternchromosomen miteinander vereinigt, um das Genom zu bilden, welches dann bei jeder Zellteilung gewissenhaft kopiert wird. Das Genom eines befruchteten Eis kann als eine Blaupause angesehen werden. Diese legt die Prozesse fest, durch welche irgendwann ein Individuum mit zahlreichen Zellen entsteht, die in ihren unterschiedlichen Rollen reibungslos zusammenarbeiten. Eine DNA-Blaupause ist allerdings viel zu umfangreich, als dass eine Zelle sie in ihrer Gesamtheit lesen könnte. Während die Zellteilung fortschreitet, erhält jede Tochterzelle stattdessen molekulare Signale mit der Anweisung, nur bestimmte Abschnitte der Blaupause zu lesen – zum Beispiel den Abschnitt über die Wurzelproduktion. Was aber sind das für Signale, die einer bestimmten Zelle Weisung geben, was sie lesen soll, und können wir sie beeinflussen? Die Tatsache, dass man bei Säugetieren kürzlich Stammzellen entdeckt hat, die »totipotent« sind, also die Fähigkeit haben, sich in jeden beliebigen Zelltyp zu spezialisieren, könnte, wenn man die Zellsignale besser versteht, zu solchen Anwendungen wie der Wiederherstellung verlorener Glieder oder sogar ganzer Organe führen.
Ein Blatt im Licht
Der Prozess der Photosynthese ermöglicht auf der Erde Diversität und Leben in Fülle. Obwohl es auch früher kein Geheimnis war, dass Pflanzen Energie von der Sonne und Nährstoffe aus dem Boden erhielten – Leonardo da Vinci schreibt in seinen Notizbüchern ganz zu Recht, dass »die Sonne den Pflanzen Seele und Leben schenkt und die Erde sie mit Nass ernährt« –, hat sich erst vor relativ kurzer Zeit ein Verständnis dafür entwickelt, wie der Prozess tatsächlich funktioniert. Im Jahr 1779 veröffentlichte Jan Ingenhousz, ein holländischer Pflanzenphysiologe, ein Werk mit dem gewaltigen Titel Experiments Upon Vegetables, Discovering their Great Power of Purifying the Common Air in the Sunshine and of Injuring It in the Shade and at Night. Er hatte Experimente des großen englischen Chemikers und Theologen Joseph Priestley weitergeführt. Priestley verfasste zahlreiche Artikel über Religion und entdeckte den Sauerstoff. Mit seinen Studien zu »brennbarer Luft« hatte er 1766 begonnen. Bereits 1775 hatte er dann herausgefunden, dass Pflanzen in der Lage waren, eine durch Brand oder Fäulnis zum Atmen unbrauchbar gewordene Atmosphäre wiederherzustellen, indem sie ihr »dephlogisticated air« zugaben. Diese unentzündliche Luft nannte man später Sauerstoff.
Ingenhousz erkannte also schon früh die große Bedeutung der Pflanzen für das Leben der Menschen. Diese Tatsache ließ ihm keine Ruhe, sodass er von Holland nach England umzog, um näher bei Priestley und seinem Zirkel experimenteller Chemiker zu sein. Durch eigene Experimente fand er heraus, dass es nur die grünen Teile der Pflanzen waren, die die Luft durch Sauerstoffproduktion reinigten, und dass diese grünen Teile zudem den Kohlenstoff nicht, wie bisher angenommen, der Erde, sondern der Luft entzogen. Er begriff, dass Tiere und Pflanzen sich gegenseitig Nutzen brachten, die einen, indem sie Sauerstoff einatmeten und Kohlendioxid ausstießen, die anderen, indem sie der Luft Kohlendioxid entzogen und sie mit Sauerstoff anreicherten. Als Arzt, der er war – er hatte in Holland eine Impfung gegen Pocken entwickelt und im Jahr 1768 persönlich das österreichische Kaiserhaus geimpft –, und aufgrund seines neu erworbenen Wissens über die Funktion der Pflanzen brachte er Patienten mit Atemwegserkrankungen Hilfe, indem er sie bei Tage in Räume voller Grünpflanzen verlegte, die Pflanzen bei Nacht aber – mit dem Ende der Photosynthese – durch einen selbst erfundenen Apparat ersetzte, der reinen Sauerstoff produzierte.
Genau so ein Apparat ist die Nadel einer Konifere. Eine immergrüne Nadel und ein sommergrünes Laubblatt sind zwar unterschiedlich aufgebaut, enthalten aber viele gemeinsame Komponenten und verhalten sich ähnlich; sie unterscheiden sich allerdings im Aussehen, weil das jeweilige Umfeld unterschiedliche Anforderungen an die Leistungsfähigkeit stellt. Über die Vorteile von Sommergrün gegen Immergrün lässt sich schwer etwas Allgemeines sagen. Beide Baumtypen finden sich in einer Fülle unterschiedlicher Umweltbedingungen. Meistens allerdings sind laubabwerfende Bäume an ein Klima mit langen kalten Wintern angepasst oder auch an ein Klima mit Trockenperioden in niedrigeren Breitengraden. Es kostet weniger Energie, die Blätter im Herbst fallen zu lassen und jeden Frühling neue hervorzubringen, als sie bei längeren Perioden unterhalb des Gefrierpunktes beizubehalten. Dank der kleinen Oberfläche verdunstet eine Nadel weniger Wasser als ein Laubblatt und kommt deshalb in einem Umfeld mit viel Sonne und langen Trockenperioden gut zurecht, wie dies rund um das Mittelmeer und an den westlichen Berghängen von Nordamerika der Fall ist.
Zu viel Sonnenlicht hemmt die Photosynthese. Die Douglasie ist eine Baumart mit mächtiger Krone, das heißt, die oberen Äste empfangen eine Menge Sonne. Die konische Form stellt überdies sicher, dass die Äste der jeweils neuen Ebene keinen Schatten auf die darunter liegende werfen. Auch können Nadeln den Schnee besser als Laubbäume abschütteln, daher sind die Äste nicht im gleichen Maße bruchgefährdet. Überdies enthalten Nadeln wenig Saft, was bedeutet, dass sie besser gegen Frost gewappnet sind. Eine voll entwickelte Douglasie kann 65 Millionen Nadeln haben. Alle arbeiten ununterbrochen, jedoch ist keine einzelne Nadel einem Übermaß an Licht ausgesetzt.
Anders als Laubblätter, die am Ende der Saison abfallen, bleiben die Nadeln der meisten Nadelbäume zwei oder drei Jahre lang an Ort und Stelle – einige immergrüne Bäume, wie die Chilenische Araukarie, behalten ihre Blätter bis zu 15 Jahren. An den Borstenkiefern bleiben die Nadeln 50 Jahre lang. So haben die Bäume mehr Zeit, um die für das Ersetzen der Nadeln notwendige Energie anzusammeln. Sie produzieren auch insgesamt mehr Energie. Indem sie die Nadeln das ganze Jahr hindurch behalten, können Koniferen ohne Pause Photosynthese betreiben, selbst in den Wintermonaten, wenn sowohl Lichtstärke als auch Temperatur dramatisch absinken. Eine in Deutschland durchgeführte Studie verglich die von einem Laubbaum (in diesem Fall einer Buche) produzierte und gespeicherte Energie mit der eines Nadelbaums (einer Rotfichte). Man fand heraus, dass die Buche an 176 Tagen im Jahr Photosynthese betrieb, die Rotfichte dagegen an 260 Tagen. Trotz ihrer insgesamt kleineren Oberfläche übertraf die Produktivität der Fichte die der Buche um 58 Prozent.
Die Nadel einer Douglasie ist flach, im Querschnitt recht-eckig und besteht aus einer Epidermis, die die photosynthetisierenden Zellen umschließt. Die Blätter laubabwerfender Bäume und einige Koniferennadeln einschließlich derer der Douglasie enthalten zwei Zelltypen im Mesophyll: Palisadenzellen auf der Innenseite der Epidermis und locker gepackte Schwammzellen. Bei der Douglasie schützen die Palisadenzellen auf der Oberfläche der Nadeloberseite die Schwammzellen vor einer zu hohen Lichtdosis. Spaltöffnungen in der Epidermis der Nadeln, sogenannte Stomata, werden von zwei Schließzellen geöffnet und geschlossen. Stoma heißt im Griechischen Mund (ist also im englischen Wort stomach falsch gebraucht). Ein Laubblatt, etwa von Ulme oder Ahorn, besitzt Millionen Stomata, normalerweise an der Blattunterseite. Bei manchen Eichen haben die Blätter 100.000 Stomata pro Quadratzentimeter Blattoberfläche. Die Nadel einer Douglasie weist weniger Stomata auf. Die Schließzellen funktionieren wie Lippen; je nach Wassermenge in der Nadel schwellen sie an oder ziehen sich zusammen; so können sie bestimmen, wie viel Kohlendioxid durch die Stomata hereinkommt und wie viel Sauerstoff und Wasserdunst aus der Nadel austreten.
Ein Baum kann riesige Wassermengen aus der Erde holen und ausdünsten. Ein einziger Baum im Amazonasregenwald transportiert jeden Tag Hunderte Liter Wasser nach oben. Der Regenwald verhält sich wie ein grüner Ozean. Er lässt Wasser verdunsten, das nach oben regnet, als sei die Schwerkraft auf den Kopf gestellt. Die so entstandenen Nebel fließen dann in großen Dunstschwaden quer über den Kontinent. Das Wasser kondensiert, fällt als Regen nieder und wird durch die Bäume wieder nach oben gezogen. Auf seiner Wanderung nach Westen steigt und fällt es durchschnittlich sechs Mal, bis es endlich die physikalische Barriere der Anden erreicht und als mächtigster Fluss der Erde wieder quer über den Kontinent zurückfließt. Im asiatischen Wasserkreislauf spielt Indonesien eine ähnlich wichtige Rolle. Das Land verfügt über 114 Millionen Hektar Tropenwald und ist nach Brasilien das waldreichste Land der Erde. Rund um die Welt sind die Wälder ohne Unterlass dabei, die Frischwasservorräte der Erde aufzufüllen. Für Wetter und Klima spielen sie eine Schlüsselrolle.
Pflanzen sind außerdem eine ergiebige Quelle für Substanzen, welche die Menschen über Jahrtausende auszubeuten lernten. Im Jahr 1817 untersuchten zwei französische Chemiker Alkaloide und Pflanzenfarbstoffe. Das waren Pierre-Joseph Pelletier, Assistenzprofessor für die Naturgeschichte der Arzneien an der Pariser École de Pharmacie, sowie Joseph Bienaimé Caventou, ein Doktorand. Sie entdeckten nicht nur die Alkaloide Strychnin, Chinin und Koffein, sondern fanden zudem heraus, dass das grüne Pigment in Pflanzenblättern eine Verbindung darstellte, die sie Chlorophyll nannten, nach den griechischen Wörtern für »gelblich-grün« und »Blatt«. Obwohl sie das damals noch nicht wussten, hatten sie die Verbindung isoliert, die Photosynthese ermöglicht.
Chlorophyll besteht aus fünf Elementen: den vier grundlegenden Elementen des Lebens – Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff – und einem fünften dazu, Magnesium, einem Metall aus dem Boden, das für fast jede lebende Materie unverzichtbar ist. Menschen zum Beispiel müssen täglich 200 Milligramm Magnesium zu sich nehmen, um Knochen und Blut gesund zu erhalten. Dies geschieht durch Verzehr von Pflanzen oder pflanzenfressenden Tieren. Es ist das Magnesium im Chlorophyll, was Blätter und Nadeln grün erscheinen lässt. Die Moleküle absorbieren die roten und die blauen Bestandteile des Sonnenlichts, nicht aber die grünen. Wenn Licht von einer Pflanze reflektiert wird, dann ist das, was wir sehen, das nicht absorbierte grüne Licht. Wir leben in einer grünen Welt, weil Boden und Pflanzen Magnesium enthalten.
In seinem Buch Flowering Earth erinnert sich Donald Culross Peattie, wie er als Botanikstudent in Harvard aus den Efeublättern, die an den Außenwänden von Harvards ehrwürdigen Gemäuern wuchsen, Chlorophyll zu extrahieren lernte. Zuerst kochten er und seine Mitstudenten die Blätter und legten sie dann in Alkohol; die Blätter verloren die Farbe und der Alkohol wurde grün. Dann verdünnten sie den Alkohol mit Wasser und fügten Benzol hinzu. Die Lösung trennte sich auf, unten der gelbe Alkohol und oben das dicke, grüne Benzol, das wie Schaum auf dem Tümpel schwamm: »Man musste nichts weiter tun, als Letzteres vorsichtig in ein Reagenzglas abzugießen«, schreibt Peattie, »dann hatte man Chlorophyllextrakt, dunkel, schwabbelnd, schwer, etwas viskos und ölig, mit einem Geruch, der sehr stark an die Messer eines Rasenmähers nach einem Kampf gegen regennasses Gras erinnerte.« Die Bestandteile eines Chlorophyllmoleküls waren seltsam vertraut, wie Peattie durch Spektralanalyse herausfand. »Für mich, den Botanikerlehrling, den künftigen Naturforscher,« schreibt er, »gab es nur eine Tatsache, die den Puls höher schlagen ließ, und dies ist die große Ähnlichkeit zwischen Chlorophyll und Hämoglobin, der Essenz unseres Blutes.« Das ist kein überspannter Vergleich, sondern eine wortgetreue Analogie im wissenschaftlichen Sinne: »Zwischen beiden Strukturformeln gibt es nur einen signifikanten Unterschied: dass nämlich das Zentrum eines jeden Hämoglobinmoleküls ein Eisenatom ist, beim Chlorophyll aber ein Magnesiumatom.« So wie das Chlorophyll grün ist, weil Magnesium das ganze Lichtspektrum außer Grün absorbiert, so ist Blut rot, weil Eisen alles außer Rot absorbiert. Chlorophyll ist grünes Blut. Seine Bestimmung ist es, Licht einzufangen, so wie es die Bestimmung des Blutes ist, Sauerstoff einzufangen.
Innerhalb der Schwammzellen gibt es zahlreiche kleine Pakete, die Chloroplasten, und innerhalb jedes Chloroplasten gibt es eine Anzahl noch kleinerer Pakete, sogenannte Grana. Diese bestehen aus alternierenden Schichten von Chlorophyll und Proteinen in einer Suspension aus flüssigen Enzymen und Salzen. So funktioniert jeder Chloroplast wie eine erstaunlich leistungsfähige Photovoltaikzelle, die Sonnenenergie auffängt und damit aus Luft Nahrung macht. Für die Energie, die erforderlich ist, um Kohlendioxid und Wasser in Zucker umzuwandeln, können Chloroplasten Sonnenlicht nahezu unbegrenzt auffangen. Da die Energie in Glucoseketten gebunden ist, kann das Zuckermolekül aufbewahrt und zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt genutzt werden, um die Bausteine von Makromolekülen herzustellen: Lipide, Stärke, Proteine und Nukleinsäuren.
»Auf welche Weise«, fragt Peattie, »verwandelt Chlorophyll, der alte grüne Alchemist, den Unrat der Erde in lebendes Gewebe?« Wasser, das aus den Wurzeln hochgezogen wird, kommt durch das mit dem Stamm verbundene Xylem in die Nadel und breitet sich dann zwischen den Schwammzellen aus. Kohlendioxid wird durch die Stomata in die Nadel gesaugt. Wenn ein Sonnenlicht-Photon auf einen Chloroplasten trifft, wird aus jedem Chlorophyll-Molekül ein Elektron herausgeschleudert. Diese Energie stimuliert das Molekül und dieses nutzt dann die Stimulation, um eine chemische Reaktion auszuführen.
Tatsächlich vollzieht sich eine Serie von Reaktionen in Bruchteilen von Sekunden. Die durch das herausgeschleuderte Elektron freigesetzte Energie spaltet Wasser in seine Bestandteile, Wasserstoff und Sauerstoff. Auch Kohlendioxid wird in seine Einzelelemente zerlegt. Dann verbinden sich die freigesetzten Stoffe – Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff – erneut, um Kohlensäure zu bilden, die augenblicklich in Ameisensäure umgewandelt wird – in eben jene Verbindung, die das Brennen der Ameisenbisse verursacht. Daraus wird Formaldehyd und Wasserstoffperoxid, und diese werden sofort zu Wasser, Sauerstoff und Glukose. Ein Teil der Glukose wird dann in Fruktose, oder Fruchtzucker, umgewandelt, zum sofortigen Gebrauch durch den Baum. Der Rest wird zu Stärke verdichtet, die zum künftigen Gebrauch in die Wurzeln hinuntergeschickt und gespeichert wird. Sauerstoff und Wasserdampf werden mittels Ausatmung und Verdunstung durch die Stomata ausgestoßen. Zu den weiteren im Lauf des Prozesses gebildeten Produkten gehören Aminosäuren – die wesentlichen Bestandteile des Proteins – und verschiedene Fette und Vitamine.
All diese chemische Aktivität benötigt Licht und all das Licht wird von der Sonne bezogen, welche trotz einer Entfernung von 150 Millionen Kilometern mit der erstaunlichen Geschwindigkeit von 215.000.000.000.000.000 Kalorien pro Sekunde Energie auf die Erde hinunterliefert. Der größte Teil dieser Energie wird gar nicht in die Photosynthese einbezogen – sie trifft überwiegend auf Wüstensand, Berghänge, die Polareisdecken oder auch auf die Haut, die wir ihr aussetzen. Die Pflanzen nutzen lediglich ein Prozent. Dies reicht jedoch aus, um den Planeten am Leben zu erhalten.
Feuerheller Salamander
Drunten im kühlen Schatten unseres Baumes und der benachbarten Farne, der Lupinen und Weideröschen hält ein Rotsalamanderweibchen (Plethodon vehiculum, western redback salamander) bei der Insektenjagd inne, um das Bachufer nach Räubern oder einem potenziellen Partner abzusuchen. Der Rotsalamander gehört zu den 21 Salamanderarten, die in der Umgebung der Douglasie vorkommen. Dies hier ist ein langgestrecktes, geschmeidiges, schwarzes Weibchen. Ein deutlich erkennbarer kupferroter Pinselstrich läuft über Rücken, Schwanz und Beinoberseiten. Der Bauch ist bleich, mit weißen und schwarzen Flecken, und wie sie da im Dunklen wartet, gehen ihre Rippen auseinander und zusammen wie bei einem Blasebalg. Der Rotsalamander ist eine lungenlose Amphibie, er atmet also nicht durch den Mund, sondern nimmt Sauerstoff direkt durch die Haut auf. Damit dies gelingt, hat der Salamander eine derart durchlässige Epidermis entwickelt, dass sie ständig von Austrocknung bedroht ist. Deshalb findet man ihn nur in dunklem, feuchtem Mikroklima. Seine Haut ist so zart und brüchig wie die Auskleidung unserer Lungen.
Andere im Norden lebende lungenlose Salamander wie der Aneides ferreus und der Eschscholtz-Salamander (Ensatina eschscholtzii) verbringen ihre Zeit am liebsten auf dem Urwaldboden mitten in verrottendem Holz, wo es jede Menge Springschwänze zu fressen gibt und die Feuchtigkeit selbst bei einem Feuer konstant bleibt. Der Rotsalamander dagegen findet sich häufiger in offenem Gelände, auf Lichtungen oder Brandflecken, gerne auf nach Westen hin abfallenden Schutthalden, wo es Kiesboden und wenig direkte Sonne gibt, dazu niedriges Blattwerk als Schutz und Zugang zu Wasser. Alle Salamander sind wechselwarm, ihre Körpertemperatur schwankt also entsprechend der Temperatur der sie umgebenden Objekte – Luft, Steine, verrottende Materie. Rotsalamander mögen es etwas wärmer als einige andere Arten.
Das Weibchen, von dem die Rede ist, hat nur einen sehr kleinen Bereich zur Verfügung, lediglich zwei Quadratmeter, und so wie es aussieht, kommt es ihr nicht darauf an, ihn zu verteidigen. In diesem Teil des Waldes ist die Salamanderdichte hoch, fast 800 pro Hektar. Eine konsequent durchgeführte territoriale Verteidigungsstrategie würde sehr viel Energie kosten. In verrottendes Holz, wo sie anderen Salamandern begegnen könnte, wagt sie sich normalerweise nicht hinein und wenn sie doch in ein Holzstück schlüpft, dann bleibt sie nahe an der Oberfläche, direkt unter der Rinde, anstatt sich tief in das zerfallende Kernholz zu wühlen. Offenbar liebt sie Höhlungen am Fuß des Schwertfarns. Der April ist ihr Paarungsmonat und im Juni legt sie dann ihre Eier, anders als die Wassersalamander lieber aufs Land als ins Wasser. Die Jungen, die dann aus den Eiern schlüpfen, sind makellose wenn auch winzig kleine Ebenbilder ihrer selbst.
Weltweit sind nur 40 Salamanderarten bekannt, sie sind jedoch weitverbreitet. Zu der Zeit, als sich unser Baum aufzurichten begann, kannte man Salamander in Europa, Kleinasien und weit nach Afrika hinein. Damals gab es sogar den sagenumwobenen Feuersalamander (Salamandra salamandra). Nach Aristoteles, dessen Wort nach wie vor Gesetz war, waren Salamander gegen Flammen gefeit; sie hatten so kaltes Blut, dass sie Feuer löschen konnten, allein dadurch, dass sie hindurchliefen. Bis ins 17. Jahrhundert hinein hielten sich Geschichten von Leuten, die gesehen haben wollten, wie in ihren Feuerstellen Salamander seelenruhig auf brennenden Holzscheiten lagen. Salamander galten auch als extrem giftig. Alexander der Große berichtete, dass 4.000 seiner Männer sowie 2.000 Pferde augenblicklich tot umfielen, nachdem sie aus einem Bach, in den ein einziger Salamander gefallen war, getrunken hatten. Kletterte ein Salamander einen Baumstamm hinauf, war die Frucht vergiftet. Möglicherweise gibt es eine wissenschaftliche Grundlage für Mythen dieser Art; denn bestimmte Salamander scheiden eine dünne, milchähnliche Substanz aus, die, wenn man sie schluckt, wie ein tödliches Nervengift wirkt. Aus diesem Grund werden sie auch von den meisten Räubern in Ruhe gelassen. Ein Mantel aus Salamanderhaut war angeblich gegen Feuer gefeit und deshalb das ideale Kleidungsstück für Alchemisten oder solche, die als Zauberer gelten wollten. So besaß zum Beispiel der Papst einen solchen Mantel. Leider entsprach der Ruf der Salamanderhaut nicht den Tatsachen. Dioscurides warf Salamander zu Dutzenden ins Feuer, um zu sehen, was passierte; sie verbrannten und wurden cross wie Chips. Offenkundig war es notwendig, doch etwas genauer hinzusehen.
Während seines 25-jährigen Aufenthalts in China, der 1271 begann, suchte Marco Polo vergeblich nach dem Tier. »Von dem Salamander in der Form einer Schlange, der angeblich im Feuer leben soll,« berichtete er bei seiner Rückkehr nach Venedig im Jahr 1296, »konnte ich in den östlichen Regionen keinerlei Spuren entdecken.«
Obwohl Marco Polo nie einen Feuersalamander sah, erwähnte er doch in seinem Bericht, dass in der Gegend von Chinchitalas sogenanntes Salamandertuch produziert wurde, hergestellt aus einer »aus dem Berg gewonnenen Substanz«. Diese bestand aus »Fasern, die der Wolle nicht unähnlich sind. Nachdem man diese Substanz zum Trocknen in die Sonne gelegt hat, wird sie in einem Messingmörser zerstoßen und dann so lange gewaschen, bis die erdigen Teilchen entfernt sind.« Die so gewonnene Wolle wird dann zu einem Faden versponnen und zu Tuch gewebt, das eine Stunde lang ins Feuer gelegt wird, bis es weiß wird, »und es verbrennt nicht.« Marco Polo vermutete, bei der aus dem Berg geförderten Substanz könnte es sich um fossile Salamanderhaut handeln. Wir kennen sie unter dem Namen Asbest. »Man sagt, in Rom werde ein Tüchlein aus diesem Material aufbewahrt, welches der Großkhan dem Papst als Geschenk hat schicken lassen, damit es als Hülle für das Heilige Schweißtuch Jesu Christi diene.«
Heute weiß man, dass die Chromosomen-Zellen der Salamander mit hundertmal mehr DNA vollgepackt sind als bei den Säugetieren, die Menschen eingeschlossen. Niemand weiß, was alle diese zusätzlichen Nukleotiden dort sollen; vielleicht sind sie einfach nur das, was die Genetiker »DNA-Schrott« nennen. Im Allgemeinen aber gibt es in der Natur nichts Überflüssiges, wie schon Aristoteles bemerkte. Salamander sind also noch immer ein Geheimnis.
Vom Ozean her erhebt sich ein Wind und fährt durch das Blattwerk der jungen Laubbüsche am Bachbett, oberhalb unseres Bäumchens. In seinem späteren Leben wird der Baum sich gegen den Wind schützen müssen; der rüttelt und schüttelt dann an seiner Krone und droht, Äste abzureißen, er lockert die Verankerung des Baumes in der Erde, er facht an seinem Fuß die Bodenfeuer an und bläst die Samen hoch hinauf in die Berge. Wenn es um die Frage geht, wer Gestalt und Struktur der großen Wälder bestimmt, dann kommen Windstürme gleich nach dem Feuer. Im Lauf der nächsten fünf Jahrhunderte werden größere Stürme mit Windgeschwindigkeiten von über 200 Kilometern pro Stunde Douglasienwälder in der Größenordnung von Millionen Hektar umblasen. Für den Augenblick jedoch ist der Wind eine gütige Macht.