„Führe mich vom Nicht-Wissen in das Wissen, führe mich von der Dunkelheit in das Licht, führe mich vom Tod in die Unsterblichkeit.“
Brihadaranyaka-Upanishad (1.3.28)
Transformation oder Wandlung ist ein Kernbegriff des spirituellen Wachsens. Er bezeichnet einen umgestaltenden Vorgang, der den inneren Weg von Anfang bis Ende begleitet und auf der Ausarbeitung durch eine bewusste Wirkkraft basiert. Wir sind als Mensch an die Begrenzungen unserer menschlichen Natur und unseres menschlichen Bewusstseins gebunden. Unter Einsatz von persönlichem Bemühen können wir diese zwar sublimieren und läutern, aber wir können aus eigenem Antrieb nicht mehr werden, als unser Wesen in den verborgenen Möglichkeiten seiner Anlagen „hergibt“. Transformative Prozesse setzen am Punkt der Unmöglichkeit an und verhelfen über den unmittelbaren Kontakt mit einem „bewussteren Bewusstsein“ − das auf shaktibezogenen Wegen die hochbewusste Transformationskraft der Shakti ist − zum Durchbruch in eine höhere Dimension des Seins. Die wegbereitende Kraft der Shakti wirkt im Yoga schon, bevor wir uns dessen überhaupt bewusst sind und bereitet unser Bewusstsein auf die Gewahrwerdung ihrer Gegenwart vor. Der eigentliche Transformationsprozess beginnt, wenn wir sie als eine lebendige Präsenz wahrnehmen und uns in den Momenten ihrer spürbaren Gegenwart bewusst ihrer Wirkkraft überlassen.
Was dann geschieht, lässt sich auf anschauliche Weise am Sinnbild des Lotus erfassen, das eines der bedeutendsten Symbole der indischen Kultur darstellt und den Vorgang der transformativen Entwicklung bildhaft beschreibt. Unser spirituelles Wachstumspotenzial wurzelt im tiefen, aber fruchtbaren Schlamm unserer menschlichen Unwissenheit und Unbewusstheit. Dort ruhen all unsere Unvollkommenheiten, „Krummheiten“ und Limitierungen in einem Zustand spiritueller Dunkelheit. Damit sie sich verändern und zur Schönheit einer Lotusblüte werden können, müssen sie ins Licht des Bewusstseins gelangen. Der Weg dorthin ist der transformative Wachstumsprozess. Er beginnt in uns selbst, durch die Kraft unseres inneren Strebens nach Licht, so wie der Lotussame inmitten des Dunkels aufbricht und zu keimen beginnt. Der Wachstumsprozess entfaltet sich, und die Lotuspflanze unseres spirituellen Weges wächst, angezogen von der nährenden Kraft der Sonne, einen langen Weg durch das Wasser des Lebens hinauf zum Licht, um schließlich (oberhalb des Wassers) unter den freien Strahlen der höchsten Sonnen-Wahrheit in einer neuen Dimension des Seins aufzublühen.
Auf dem Weg ins Licht wird die Dunkelheit zunehmend von Helligkeit erfüllt. Jedes „Mehr“ an Licht schenkt dem wachsenden Bewusstsein neue Kraft und neue Möglichkeiten. Jede Wachstumsstufe bringt eine neue Art des Gewahrseins; jeder Schritt lässt überholte Seinsweisen zurück. Das ist das Prinzip der Transformation. Wir können also nicht davon ausgehen, dass wir im Prozess des inneren Wachsens alles mitnehmen und integrieren können, was wir an seinem Ausgangspunkt sind. Vieles in uns wird auf dem Weg der Bewusstseinsentfaltung eine Veränderung erfahren, vieles wird aus unserem Leben „entrümpelt“ werden, und es mag uns zuzeiten auch schwerfallen, bestimmte Veränderungen zu akzeptieren. Der transformierende Prozess greift, um etwas Höheres hervorzubringen, immer in ein bestehendes Gleichgewicht ein, was in vielen Aspekten unseres Daseins eine zeitweise Disharmonie auslösen kann. So sind die Übergänge oft fordernde Zeiten, die innere und äußere Herausforderungen darstellen. Es verwundert also nicht, dass die mächtigste und durchschlagendste Transformationskraft, die die indische Tradition kennt, mit ihrer formhaften Erscheinung den Aspekt der Herausforderung unterstreicht.
„Die Formen der höchsten Wirklichkeit sind zwei: die Zeit und das Zeitlose.“
Maitri-Upanishad (6.15)
In der tantrischen Tradition wird betont, dass drastische Wahrheiten drastische Bilder brauchen. Eine alte indische Legende berichtet davon auf ihre Art. Sie erzählt, dass sich der Schöpfergott Brahma, der auf allen Ebenen des Universums den Segen der Wunscherfüllung gewährt, vor langer Zeit einmal Parvati zuwandte und sie wohlwollend fragte, welchen Wunsch er ihr erfüllen könne. Parvati, die sich schon geraume Zeit für ihre dunkle Erscheinung schämte, weil Shiva sie deswegen hin und wieder verschmähte, bat ihn um eine neue Hautfarbe. Brahma erfüllte ihr den Wunsch, indem er sie in zwei Hälften teilte, von denen eine zu einer wunderschönen goldfarbenen Göttin wurde, der Shiva nicht mehr widerstehen konnte, und die als Gauri, die Goldene, verehrt wird. Die andere Hälfte aber wurde noch dunkler, und aus ihr entstieg Kali, die schwarze Mutter der Zeit.
Von allen Gottheiten des Hinduismus ist es vor allem diese dunkelhäutige Göttin, die in einem Betrachter, der dem westlichen Kulturkreis entstammt, Gefühle von Abwehr und Entsetzen hervorrufen kann. Kali verkörpert einen zum Leben gehörenden Aspekt, der aufgrund seiner beunruhigenden Endgültigkeit nicht ohne Weiteres akzeptiert und vielfach sogar mit Grauen aus der Vorstellungswelt ausgeklammert wird. Denn in der Gestalt der wilden Kali wird die sanftmütige Parvati zur dunklen und unberechenbaren Gefährtin Shivas, aus der Zerstörung und Neubeginn geradezu hervorbrechen.
Mit Kali betreten wir ein psychologisches Grenzland. Wer schreckt schon auf den ersten Blick nicht vor dem Abbild einer nackten und wilden Frauengestalt zurück, die mit abgeschlagenen Köpfen und einem Lendenschurz aus menschlichen Händen geschmückt, mit aufgelösten Haaren, blutverschmiert und mit heraushängender Zunge als archetypisches Symbol des unausweichlichen Todes erscheint? Die Form der Kali enthält zunächst wenig Anhaltspunkte, die mit dem gewohnten ästhetischen Empfinden konform gehen, das sich an den sanfteren Formen einer hingebungsvollen Anmut orientiert. Und doch strahlt aus ihr eine ursprüngliche, wilde, dynamische und archaische Kraft, die trotz des Zurückschreckens eine positive Bewunderung hervorruft und auf einen tiefgründigen Symbolgehalt verweist. Die Furcht vor der dunklen Göttin Kali kann nur durch Annäherung überwunden werden, durch ein Sicheinlassen auf die Tiefe der in ihr zum Ausdruck kommenden Facetten der Wirklichkeit.
Das Wort „Kali“ hat seinen Ursprung in dem Sanskritbegriff „Kala“, der „Zeit“ bedeutet. Kali ist die alles hervorbringende, alles verschlingende und alles zerstörende Macht der Zeit. Einer solchen Gewalt, der das ganze Dasein unterliegt, kann nur eine Darstellungsweise gerecht werden, die sowohl den Terror als auch die Ehrfurcht zum Ausdruck bringt, die sie auslösen kann. Die vielarmige Kali wird oft auf einem Verbrennungsplatz oder Schlachtfeld abgebildet, auf dem tote und verstümmelte Körper ihre Zerstörungsgewalt repräsentieren. Sie steht oder tanzt in herausfordernder Haltung und mit herausgestreckter Zunge auf dem reglosen Körper ihres Gemahls. Die hinduistische Mythologie berichtet, dass Kali oft so stark in ihrer Zerstörung bringenden Bewegung gefangen ist, dass sie von Shiva wieder besänftigt werden muss. Denn nur der Herr der Zeit und der Zerstörung hat die Macht, ihrer destruktiven Natur Einhalt zu gebieten. Wenn Kali sich in ihrem „Blutrausch“ verselbstständigt und jedes Gefühl für das rechte Maß verliert, beginnt das Universum unter ihrem wütenden Ansturm zu leiden. Einzig die Erkenntnis, dass sie auf ihrem Geliebten herumtrampelt, kann sie dann aus ihrer zügellosen Raserei zurückholen. Aber Shiva legt sich auch aus einem anderen, nicht ganz so selbstlosen Grund unter ihre stampfenden Füße. Denn ohne sie, so sagt der Tantrismus, ist er nichts anderes als ein Leichnam, und ohne ihn ist Kalis Tanz nur ein verheerendes und sinnloses Chaos.
Kali bewegt sich unbekleidet im unendlichen Raum des Universums, weshalb sie auch Digambara, die „Raumgekleidete“, genannt wird. Ihre tiefblaue oder fast schwarze Gestalt bildet einen scharfen Kontrast zum hellen Körper ihres Gemahls. Abgesehen von einem Schurz aus abgeschlagenen Händen und einer Girlande aus menschlichen Köpfen oder Totenschädeln ist sie vollkommen nackt. Ihr üppiges Haar ist nicht in sittsamen Zöpfen gebändigt, sondern fließt wild und offen über ihren Körper herab. Auf ihrer Stirn befindet sich ein glühendes drittes Auge. Ihre vielen Hände halten unter anderem ein gebogenes Opfermesser, einen frisch abgeschlagenen menschlichen Kopf, eine Schale mit Feuer und manchmal eine tiefrote Hibiskusblüte. Kali wird oft auch mit langen, scharfen Eckzähnen und krallenartigen Fingern gezeigt, die Lippen blutverschmiert, der wilde Blick ein Ausdruck des Blutrausches.
Angesichts ihrer abschreckenden Erscheinung könnte man annehmen, dass die schwarze Shakti in der hinduistischen Götterwelt nur einen Randplatz einnimmt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Obwohl sie eine Göttin darstellt, die Stabilität und Ordnung infrage stellt und damit außerhalb des gesellschaftlichen Rahmens steht, wird sie in vielen Landesteilen Indiens mit inniger Hingabe verehrt. Für den Hindu ist sie der Inbegriff der Göttlichen Mutter. Denn sie repräsentiert in ihrer zerstörenden Dynamik, die gleichzeitig den Samen für Erneuerung bringt, einen unverzichtbaren Aspekt der schöpferischen Energie.
Wie bei jeder Hindu-Gottheit muss auch bei Kali jedes Detail ihrer Gestalt symbolisch verstanden werden. So stehen die abgeschlagenen Hände ihres Lendenschurzes für die Fähigkeit und die Folgen des Handelns − und damit für das Karma. Das aufgelöste Haar unterstreicht ihre Unabhängigkeit. Kali wird unbekleidet abgebildet, um darauf hinzuweisen, dass das Göttliche in allen Formen dieser Welt immanent ist. Wird die „Bekleidung“ entfernt, tritt das darunter verborgene göttliche Bewusstsein „nackt“ und sichtbar hervor. In spiritueller Hinsicht ist die heftige Kraft der Kali nichts anderes als ein Akt der Enthüllung, mit dem sie sich die Kleider regelrecht vom Leibe reißt, um als ultimatives Licht dazustehen. Der indische Mystiker Ramakrishna, der einen tiefen Erfahrungsweg mit der dunklen Mutter ging, lehnt deshalb jede Reduzierung ihres grenzenlosen Wesens auf die Formen und Energien unserer begrenzten Weltenerfahrung ab und geht im Kontakt mit ihr pfeilgerade zur Quelle. Für ihn ist sie das ewige Brahman selbst, das in der Welt und als Welt aktiv ist.42
Wer mit dem spirituellen Auge auf Kalis vehemente Dynamik blickt, wird gewahr, dass sie der Welt durch ihre zerstörende Gewalt auch die ekstatische Erfahrung der Seligkeit schenken kann. Dieser bewusstseinserweiternde Aspekt ihres Wirkens ist in der bekannten Form des Nataraja integriert, des tanzenden Shiva, der als Gefährte der dunklen Shakti gilt. Shiva-Nataraja verkörpert die Dynamik des Universums und verdeutlicht auf eine besonders ansprechende Art, dass Shiva und Shakti in allen Bewegungen ihres gemeinsamen Weltenspiels als Zwei-in-Einem anwesend sind. Er ist der Meister des Ananda Tandava, des königlichen Tanzes ewiger Glückseligkeit, der auf die rhythmische Gesamtheit der kosmischen Aktivität und zugleich auf ihren ewig unbewegten Ursprung verweist.
Legenden berichten, dass Shiva-Nataraja jeden Abend zur Stunde des Sonnenuntergangs vor seiner Gefährtin Kali den Ananda Tandava tanzt. Indem er ihr über die Rhythmen seiner Bewegung die verborgene Freude des Kosmos mitteilt, beruhigt er ihr unberechenbares Gemüt und verhindert, dass sie jegliche Kontrolle über ihr zerstörerisches Wirken verliert und den Wesen der Welt unangemessenen Schaden zufügt. Er tanzt so lange, bis die dunkle Göttin dem göttlichen Rhythmus nicht länger widerstehen kann und, umringt von ihrer schrecklichen Gefolgschaft, im Einklang mit der kosmischen Freude ebenfalls zu tanzen beginnt.
In der universellen Realität, in der Myriaden von ineinander eingebetteten Bewegungen gleichzeitig ablaufen, repräsentiert Shiva-Nataraja fünf grundlegende Manifestationen der ewigen Energie: Schöpfung (Shrishti), Erhaltung (Sthiti), Zerstörung (Samhara), Verschleierung der göttlichen Essenz durch das Prinzip der Maya (Tirobhava) und ihre Entschleierung durch die göttliche Gnade (Anugraha). Im Kern der immensen und vielschichtigen Weltendynamik steht sein ewig-unbewegtes Sein als ruhige Mitte und unveränderliche Konstante, um das die Welt der Erscheinungen, geschaffen aus der wirbelnden Kraft seiner Shakti, in gewaltigen und hochenergetischen Zyklen ihre Runden zieht. In diesem Sinne ist Nataraja ein Shiva-Aspekt, der als integralen Teil seines göttlichen Wesens auch die Shakti mit einbezieht.
Die wunderschönen Nataraja-Bronzen der südindischen Chola-Epoche offenbaren, wie der König der Tänzer verstanden werden soll. Sie zeigen einen vierarmigen Nataraja von schlanker Gestalt und harmonischen Proportionen, der umgeben von einem Flammenkranz auf dem Rücken eines kleinen Dämons seinen mystischen Weltentanz präsentiert. Die Form des Nataraja kann vom Betrachter „gelesen“ werden, denn Attribute, Körperhaltung und Gesichtsausdruck bringen, ebenso wie die Gesten der Hände und die Haltung der Füße, verschiedene Aspekte einer tieferen Weisheit zum Ausdruck und vermitteln in ihrer Ausgewogenheit eine Botschaft, die inmitten der Turbulenzen des Lebens den Weg zur höchsten Glückseligkeit weist.
Shivas rechte obere Hand hält die Damaru, eine kleine Opfertrommel, deren Ton die Rhythmen der Schöpfung symbolisiert. Alles Geschaffene entsteht aus seiner Hand. Die linke obere Hand hält das Feuer der Zerstörung, das für das transformative Zusammenspiel von Shiva und Shakti von großer Bedeutung ist. Alles Geschaffene kehrt durch das Feuer der Auflösung, das die Kali-Kraft ist, in Shivas Hand zurück. Der Mensch kann in seiner Endlichkeit diesem gewaltigen Wirken nur dann unerschrocken begegnen, wenn er sich auf die Geste der unteren rechten Hand besinnt, die ihm Furchtlosigkeit und Schutz gewährt.
Alles Lebendige in der Schöpfung wird für eine bemessene Zeit in seinem formhaften Dasein erhalten, indem das gleiche Feuer der Zerstörung für seinen Unterhalt sorgt. In der physischen Welt kann nur am Leben bleiben, wer sich von seiner Umgebung ernährt. Dafür jedoch muss anderes Leben getötet werden. Lebenskraft ist die Nahrung des Körpers, und der Körper die Nahrung der Lebenskraft. Ein dem Leben immanentes Verschlingenwollen zieht sich wie ein unsichtbares Band durch alle Ebenen des Seins und äußert sich überall in einem unstillbaren Begehren. Jedes Wesen wächst so durch andere, lebt durch andere und erhält andere. Diese universelle Realität lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: „Der essende Esser wird gegessen.“ In der Brihadaranyaka-Upanishad (1. 2. 4) heißt es: „Leben ist Hunger, und das ist der Tod, und durch diesen Hunger, welcher der Tod ist, ist die materielle Welt geschaffen worden.“
Auf der spirituellen Suche ist das unstillbare Begehren als „innerer Hunger“ aktiv, der in einer „Umkehrbewegung“ gelebt wird. Denn hier geht es nicht um Befriedigung im weltlichen Mangel, der sich durch ständiges Nehmen und Einverleiben im Außen zu sättigen sucht (und nie zu sättigen ist), sondern um den Hunger nach etwas Wahrerem, das nur durch Geben und Hingabe an das Wesentliche erreicht werden kann. Spiritueller Hunger erfordert, dass das individuelle Wesen immer wieder der göttlichen Größe dargebracht wird. Das ist der Weg des Werdens, für den die Fähigkeit des Loslassens eine wertvolle Hilfe ist. Wenn eine anstehende Ablösung nicht freiwillig erfolgt, erzwingt sie die Feuerkraft der Kali unter Umständen auch mit Gewalt. Ihr transformatives Potenzial äußert sich darin, dass sie notfalls auch gegen den Willen des Praktizierenden jene Tore aufbricht, die ihn daran hindern, die ekstatische Freude, die im Herzen des Weltentanzes verborgen ist, in seinem eigenen Dasein zu erfahren.
Was den inneren Wachstumsprozess immer wieder behindert, ist die Ego-Haftigkeit, die sich von bestimmten Dingen und Verhaltensmustern nicht lösen will. Der kleine Dämon Mulayaka, auf dem Shiva tanzt, repräsentiert das menschliche Ego, das vom rechten Fuß des göttlichen Tänzers fest unter Kontrolle gehalten wird. Im Tanz der Glückseligkeit zerbricht die Ichbezogenheit. Die Haltung der linken unteren Hand symbolisiert Erlösung. Sie deutet auf den erhobenen linken Fuß und zeigt damit an, dass die Befreiung von den Turbulenzen der Welt erreicht werden kann, wenn der Mensch sich vom Ego löst, während er es gleichzeitig, wie Shiva, fest unter Kontrolle hält. Die gesammelte Ruhe der unbewegten Mitte entspricht dem inneren Losgelöstsein vom weltlichen Geschehen. Der königliche Tänzer ist in der Welt, aber nicht von der Welt. Er verkörpert im Zentrum eine Haltung innerer Distanz, um die das gestaltende und zerstörende Prinzip der Shakti kreist, das durch die Bewegung der Arme zum Ausdruck kommt. Die ruhige Mitte und der nach innen gerichtete Gesichtsausdruck des Tänzers stehen in einem starken Kontrast zur kraftvollen Bewegung seines Körpers, die durch die aufgelösten und zur Seite wehenden Haarflechten noch unterstrichen wird.
Nataraja wird mit den üblichen Attributen Shivas abgebildet: das dritte Auge, die Kobra, der Sichelmond und die Göttin Ganga in seinem Haar. Sein Körper ist mit Armspangen und Halsbändern reich geschmückt. Der ungleiche Schmuck seiner Ohren ist ein Hinweis auf das kosmische Zusammenspiel von männlichem und weiblichem Prinzip als Grundlage der kosmischen Realität. Die Flammenaureole um Nataraja symbolisiert den Kreislauf von Schöpfung, Erhaltung und Auflösung, die zyklische Existenz des Universums und den Flammenkreis des menschlichen Herzens, das von Shivas kosmischem Tanz durchdrungen wird. Denn Nataraja ist ein Shiva-Aspekt, der mit der Tiefe des spirituellen Herzens verbunden ist. So verwundert es nicht, dass sich sein Haupttempel im südindischen Chidambaram befindet, dem „Ort, an dem Bewusstsein im Herzen wohnt“.
Herr der Zerstörung! Göttlicher Tänzer!
In Bronze vollendet zum Ausdruck gebracht
trägt deine zeitlose Form durch die Jahrhunderte
das Abbild steigend zerfallender Vielfalt
und alles durchdringender ruhender Kraft.
Hüter des dritten Auges! Herr der Askese!
Als unbewegter Maßstab und ewiges Lächeln
stehst du – ein großer Unbeteiligter –
in einer Mitte, der Welten entspringen,
die sich vergessend in dir entfalten und die
du gnädig wieder hinwegraffst,
wenn der rasende Pulsschlag der Enge
die Wonne des göttlichen Selbst nicht erreicht.
Träger des Sichelmonds! Herr der Erkenntnis!
In den wirbelnden Wolken der Maya bist du
Geringes und Alles, Vernichter, Beschützer,
Erzeuger, Lehrer und Mutter im Rhythmus der Zeit.
Zwischen Feuer und Trommel treibt die Bestimmung,
Schlag um Schlag verlängert die Schöpfung,
jede Flamme erhält die kosmische Summe
in kreisendem Gleichgewicht
und läutert den einzeln begriffenen Raum,
bis die Seele vollkommen erwacht.
Herr der Ekstase! Lehrer der Weisen!
Durch die Sprache der Hände gewährst du
inmitten des kämpfenden Chaos
Befreiung und Furchtlosigkeit.
Auf dem Weg der Erkenntnis offenbart sich
das Unsichtbare – Zerstörung wird schöpferisch.
Kosmischer Tänzer – du tanzt den Ananda Tandava
auch im Flammenkreis menschlicher Herzen.
Der Ursprung des Nataraja-Tempels von Chidambaram in Südindien wird mit einer alten Legende in Verbindung gebracht, die berichtet, dass dort, wo heute der Tempel steht, der Chola-Herrscher Vira Chola vor über tausend Jahren der Augenzeuge eines ungewöhnlichen Ereignisses wurde.
Vira Chola, so wird erzählt, war mit großem Gefolge zur Jagd in den Wäldern von Thillai unterwegs. Das Wild, dem sie folgten, führte den König und seine Jagdgesellschaft immer tiefer in den Dschungel hinein, und am Ende des Tages mussten sie feststellen, dass sie jedes Gefühl für die Richtung verloren hatten. Auf der Suche nach dem richtigen Weg hörten sie plötzlich durch das dichte Laubwerk hindurch den rhythmischen Klang von Tanztrommeln und folgten ihm zu einer Lichtung im Wald, wo sich ihren Augen ein höchst seltsamer Anblick bot. Rings um den freien Platz hatte sich eine merkwürdige Versammlung unterschiedlichster Waldbewohner eingefunden. Da saßen die weisen Rishis, die tagelang in der einsamen Stille der Natur meditierten, neben ausgezehrten Asketen, die in der Abgeschiedenheit strengste Enthaltsamkeit übten, und den wilden Männern der im Wald lebenden Volksstämme, die die Tanztrommeln schlugen. Auch die Tiere des Waldes hatten sich eingefunden, Elefanten und Tiger, Wildbüffel und Affen, Rehe und Leoparden, Streifenhörnchen, Vögel und Bienen. Aus ihren Höhlen in der Unterwelt kamen die Nagas, die Fruchtbarkeit schenkenden Schlangenwesen, hervorgekrochen, und selbst die Götter waren von den hohen kosmischen Ebenen herabgestiegen und hatten sich unter die Versammlung gemischt, die wie gebannt auf das Zentrum der Lichtung starrte. Dort trafen sich Shiva und Kali im rotgoldenen Licht der untergehenden Sonne, begleitet von den ekstatischen Rhythmen der Trommeln, zu einem Tanzwettbewerb. Der große Gott hatte seine Shakti zu diesem Wettstreit herausgefordert.
Der Chola-König und sein Gefolge wurden beim Zuschauen sofort von dem unwiderstehlichen Zauber des Tanzes erfasst. Shiva tanzte die Vorgaben im männlichkräftigen Tandava-Stil. Sein Tanz war vollkommen. „Nataraja!“, riefen die Anwesenden, „unser Herr ist ein Tänzer! Ein königlicher Tänzer!“ Danach tanzte die dunkle Göttin Kali, die eine lodernde Feuerkrone über dem Haar trug, dieselben Schrittfolgen im anmutig-weiblichen Laya-Stil. Auch ihr Tanz war vollkommen. „Machtvolle Mutter!“, rief die Versammlung, „königliche Herrin, nichts ist vergleichbar mit deiner Kraft!“ Über eine lange Zeit hinweg wechselten sich die beiden Tänzer ab. Ein Sieger konnte nicht ermittelt werden, da ihre Kunstfertigkeit gleichermaßen perfekt war. Als die Sonne schon untergegangen war, tanzte das wettstreitende Paar immer noch im letzten Licht der Dämmerung und feuerte sich, eingebettet in die kommende Nacht, zu immer neuen Höchstleistungen an. Der Tanzwettbewerb entschied sich, als Shiva im atemberaubenden Wirbel seiner Bewegungen einen seiner Ohrringe verlor. Ohne den wilden Tandava auch nur für einen einzigen Augenblick zu unterbrechen, hob er das Schmuckstück mit den Zehen auf und streckte das Bein vor dem Körper in die Höhe, um sich den Ohrring, ebenfalls mit den Zehen, wieder einzusetzen. Diese Bewegung, die intimste Körperteile entblößte, wollte Kali aufgrund ihres Schamgefühls nicht nachtanzen. Obwohl es sie mit bebendem Zorn erfüllte, mit dem sie nur umgehen konnte, indem sie den Ort des Wettstreits sofort verließ, gewährte sie ihrem Gemahl den Sieg. Es heißt, dass der Chola-Herrscher Vira Chola zu Ehren des Shiva-Nataraja am Ort des Tanzwettbewerbs eine goldene Halle erbaute, um welche später die imposante Tempelanlage von Chidambaram entstand.
Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Wir alle kennen diese berühmte Frage, die hier − übertragen auf den Tanzwettbewerb – die Frage nach der Vorrangstellung von höchstem Bewusstsein oder höchster Kraft ist. Wir wissen auch, dass es sich um eine dieser seltsamen Fragen handelt, die kaum zu beantworten sind, weil beide Aspekte in einem so engen Zusammenhang stehen, dass der Ursprung sofort zur Wirkung und die Wirkung sofort wieder zum Ursprung führt. Und so tanzen Shiva und Kali höchst symbolisch abwechselnd in die sie einhüllende Nacht hinein – in jenen Zustand also, in dem eine eindeutige Antwort nicht mehr gesehen werden kann. Die beiden wettstreitenden Tanzpartner repräsentieren dabei nicht nur das göttliche Bewusstsein und seine Kraft, sondern auch zwei entgegengesetzte Richtungen der indischen Spiritualität. So tanzt Shiva-Nataraja sinnbildlich für das vedantische Wissen, das sich gänzlich auf den Ishvara-Aspekt des Göttlichen bezieht. Ziel seiner Erkenntniswege ist allein das Aufgehen in Brahman, das jenseits der vergänglichen Formen der Welt und des eigenen Geistes im Zurücktreten von der Weltnatur realisiert wird. Kali dagegen steht für die tantrische Tradition, die den Shakti-Aspekt betont und ihren Erfahrungsweg mit der Göttlichen Mutter geht. Ihr Ziel ist, unter Einbeziehung der Welt-Natur zum wahren Genuss ihrer Macht und zur höchsten Verwirklichung zu gelangen. Doch gewinnt keiner der beiden Tänzer den Tanzwettbewerb durch eine klar erkennbare Überlegenheit, denn im spirituellen Leben gibt es keine Vormachtstellungen. Alle Wege und Methoden haben ihren Wert, und alle haben wichtige Elemente zum Mosaik der spirituellen Entwicklung beigetragen. Und im Grunde sind an der Suche nach der höchsten Wirklichkeit immer beide Aspekte, Er und Sie, beteiligt – so wie Nataraja sein eigenes Wesen und das seiner Shakti in seiner kraftvollen, statisch-dynamischen Gestalt vereint. Als Shiva die Entscheidung schließlich mit einer List herausfordert, tritt Shakti zurück und überlässt ihm den Sieg, da sie ihr größtes und sorgsam gehütetes Geheimnis nicht preisgeben will − das große Rätsel vom Ursprung der Welt, das die Seher aller spirituellen Traditionen und alle Wissenschaftler nicht lösen konnten und das noch immer unerkannt im Dunkel des Anfangs liegt. Wie geschieht der Übergang vom Transzendenten zum Immanenten? Wie wird die überkosmische zur kosmischen Realität? Was geschieht wirklich im Geburtskanal der Shakti, wenn sie die Welten gebiert? Wie beginnt Shivas königlicher Weltentanz? Auch wenn die Weisheit Indiens viele nachvollziehbare Konzepte dazu entwickelt hat, bleibt die Antwort auf diese Fragen alleine Ihm, dem einzigen Zeugen der kosmischen Geburtsstunde überlassen.
Auf jedem Entwicklungsweg müssen Komponenten im Menschen bezwungen oder verändert werden, damit eine Annäherung an das Wesentliche stattfinden kann. Das innere Wachstum ist Kalis Weg der tausend kleinen Tode. Wer so bleiben will, wie er ist, kann keine spirituelle Entfaltung erfahren. Jede Veränderung aber ist gleichzeitig auch ein Abschied oder ein kleiner Tod, der im dynamischen Fluss der Kali-Zeit geschieht. Zerstörung ist damit ein schöpferischer Prozess, der den Fortschritt des spirituellen Weges durch das Beiseiteräumen aller hinderlichen Komponenten sichert.
Am Ende des spirituellen Weges ist Kali auch die große Verschlingerin von Kala, der Zeit. So führt sie als Energie, die im Fluss der Zeit für Auflösung sorgt, in letzter Konsequenz in einen Seinszustand, in dem sich Raum, Zeit und Kausalität spurlos auflösen. Hier wird Kali zu Shivaratri, zur „dunklen Nacht Shivas“. Dieser Zustand ist wie ein Nichts, das die Macht hat, alle äußeren Komponenten des Universums zu absorbieren. Um diesem Schritt einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, wird Kali schwarz oder dunkelhäutig dargestellt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass sie auch dann keinen radikal auslöschenden Aspekt repräsentiert. Denn wenn sämtliche Formen und Energien des Kosmos annulliert sind, existiert immer noch das ewige Brahman, in dem neben absolutem Sein und größtmöglichem Bewusstsein auch der Aspekt der höchsten Freude enthalten ist. In diesem Sinne stellt die von allem Weltlichen entkleidete, dunkle Kali eines der größten Symbole für das Ananda, die reine, transzendente Seligkeit des Brahman, dar.
„Wie soll der zu Krishna gelangen, der niemals Kali verehrt hat?“43
Sri Aurobindo
Die Gottheit, die das göttliche Entzücken des Ananda wie kein anderer Aspekt des Hindu-Pantheons zum Ausdruck bringt, ist der blauhäutige Flötenspieler Krishna, der zusammen mit Rama als die bedeutendste Inkarnation Vishnus angesehen wird. Er verkörpert die innewohnende, seelische Göttlichkeit und die unwiderstehliche Macht der höchsten Liebe, der sich die menschliche Einzelseele ohne Vorbehalte und unbeeinflusst von den Bindungen des gegenwärtigen Lebensgefüges überlässt. Unzählige Mythen und Legenden ranken sich um sein Leben. Die bedeutende Lehrschrift der Bhagavadgita hat in ihm seinen Ursprung und erklärt ihn zum göttlichen Wagenlenker auf dem Schlachtfeld des Lebens. Seine Jugend wird als eine Zeit beschrieben, in der er der Geliebte der Gopis ist, der (verheirateten!) Hirtenfrauen, die vom betörenden Klang seiner Flöte zu ihm gerufen werden (siehe Abb. 11 im Bildteil).
Der blaue Krishna ist es auch, der die höchste göttliche Freude in das menschliche Leben trägt. Dieses Ananda kann das Leben jedoch erst dann erfüllen, wenn sich die Turbulenzen des egobestimmten Daseins gelegt haben. Die dunkle Göttin Kali ist die Kraft, die auf dem Weg dorthin die notwendigen „Begradigungen“ vornimmt und, wenn erforderlich, die „inneren Knoten“ mit einschlagender Macht durchtrennt, ein Prozess, der ohne Zweifel sehr effektiv ist, aber auch ein gewisses Maß an Schockwirkung mit sich bringt. „Kali ist Krishna“, erläutert Sri Aurobindo, „enthüllt als schreckliche Macht und furchtbare Liebe. Sie erschlägt mit ihren grimmigen Hieben das Selbst in Körper, Leben und Geist, um es als ewigen Spirit zu befreien.“44
Das verborgene Zusammenspiel von Kali und Krishna nimmt auf der Weltenbühne noch weitreichendere Dimensionen als im individuellen Leben an. So fließt der Kali-Aspekt in das Prinzip des schrecklichen Zeitgeistes ein, als der sich der sonst so sanfte Krishna (in der Bhagavadgita) dem Helden Arjuna offenbart, der vor einer wichtigen Entscheidungsschlacht von moralischen Bedenken geplagt wird. Das zugrundeliegende Thema ist die Problematik einer großen Zeitenwende, die durch das göttliche Bewusstsein bereits entschieden, aber auf der Weltenbühne noch nicht zur Ausführung gebracht ist. In der unerbittlichen Form des Zeitgeistes repräsentiert Krishna das Bewusstsein von dem, was dem göttlichen Willen entsprechend durch die äußeren Ereignisse ausgearbeitet werden muss. Krishna steht damit für die göttliche Intention in der Zeit, die den weltzeitlichen Umbruch durch einen unvermeidbaren Krieg gestaltet. Der zermalmende Beschluss des Zeitgeistes und seine schrecklichen Konsequenzen stellen ein eindrückliches Sinnbild für das auf Entwicklung drängende Wirken der Kali-Kraft dar, die Zerstörung als Vorbedingung für einen mächtigen Fortschritt benutzt. In diesem Sinne zerstört Krishna (als Zeitgeist der Bhagavadgita) nicht um der barbarischen Freude an der Zerstörung willen, sondern um in einer zerfallenen und degenerierten Weltenordnung den Weg für eine höhere Wahrheit frei zu machen.
Mutter Kali, zornige Tänzerin kommender Schönheit
und treibender Macht,
Schwarze Mutter der Metamorphose,
ich wandere immer noch schlafwandelnd über
die Schlachtfelder deiner Siege.
Geliebte, Verbrennende und leicht Umgangene bist du mir.
Hand in Hand mit dir im Traum töte ich traumhaft leicht
dir widerstrebende Teile in mir und teile mit dir deinen Ruf,
aber wachend suche ich immer noch nach dem Ort,
an dem das Entkommende weniger schmerzhaft stirbt.
Wir müssen Kali-Themen nicht lieben, aber wir sollten anerkennen, dass es sie gibt, und uns nicht so verhalten, als ob diese unausweichlichen Aspekte des Lebens nicht existieren. Leben im Kontakt mit Kali heißt, die Zeit von beiden Seiten zu umarmen und den ewigen Kreislauf des Daseins in seiner Ganzheit zu würdigen. Mit ihren Augen erblicken wir, dass in der Winzigkeit des Samens schon der mächtige Baum verborgen ist, der aus ihm hervorgeht, und sich mit jedem Stück Holz, das in unserem Kamin so heimelig brennt, der gesamte Lebensweg eines Baumes als Wärme verschenkt.
Der Blick auf Kali ist immer auch der Blick auf die unausweichliche Tatsache der eigenen Endlichkeit. Die Augen vor Kali zu verschließen, kommt der Unfähigkeit gleich, sich im Leben mit der Tatsache des eigenen Todes vertraut zu machen und diesen als Teil eines größeren Zyklus und als Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Seele zu verstehen.
Im Mahabharata wird eine Episode geschildert, die beschreibt, dass die fünf Pandava-Brüder auf ihrer Wanderung im Exil nacheinander zu einem See kommen und am Ufer niederknien, um ihren Durst zu stillen. Da erschallt aus dem See eine Stimme, die sie auffordert, innezuhalten und zuerst einige Fragen zu beantworten. Durstig wie sie sind, negiert einer nach dem anderen die Aufforderung. Doch als das erste Wasser ihre Lippen benetzt, sinken sie tot zu Boden. Yudishthira, der älteste der Brüder, trifft zuletzt am See ein und sieht verwundert seine toten Brüder am Ufer liegen. Aber auch er ist durstig und beugt sich sofort zum Wasser nieder, um zu trinken. Da erschallt ein weiteres Mal die Stimme aus dem See und fordert ihn zur Beantwortung ihrer Fragen auf. Yudishthira beherrscht sich, steht auf und antwortet geduldig und mit großer Weisheit auf alle Fragen. Die letzte Frage, die ihm gestellt wird, lautet: „Was ist das größte Geheimnis?“ Yudishthira zögert nicht eine Sekunde und sagt: „Das größte Geheimnis besteht darin, dass alle Menschen wissen, dass sie sterben werden, und doch verhalten sich alle so, als würde es nie geschehen.“ Ein großer Verdrängungsmechanismus liegt also über den Kali-Themen. Es betrifft zum Glück immer die anderen, selbst ist man ja Gott sei Dank nicht betroffen, nicht von Krankheit, nicht von Kriegen, nicht von Leiden, nicht vom Tod. Bis es dann so weit ist, und sie das eigene Leben berühren. Kali macht darauf aufmerksam, dass wir lernen müssen, schon im Leben zu sterben und das Leid zu überwinden, damit wir im weltlichen Dasein die Ewigkeit spüren – und auf den Tod und Veränderungen vorbereitet sind. (Yudishthiras Brüder werden übrigens alle wieder zum Leben erweckt.)
Im Tantrismus gilt die Shakti-Verehrung als Vidhya, höchste Weisheit. Aus diesem Grund werden die zehn Weisheitsgöttinnen der tantrischen Tradition Mahavidhyas genannt („Maha“ bedeutet groß und „Vidhya“ Weisheit). In ihrer Gesamtheit präsentieren sie einen durch tantrisches Denken geprägten Themenkreis, dessen einzelne Aspekte unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zur Welt der Shakti-Erfahrung bieten. Die dunkle Göttin Kali eröffnet den Kreis der Mahavidhyas, und alle anderen Weisheitsgöttinnen werden als ihre Ausfächerungen betrachtet. Eine mythologische Episode beschreibt, warum die Shakti sich in den Formen der Mahavidhyas manifestierte.
Es geschah zu der Zeit, als Shiva mit Sati, der ersten Verkörperung seiner Shakti, verheiratet war. Die beiden lebten glücklich miteinander, bis Sati eines Tages von jenem beklagenswerten Opferritual ihres Vaters erfuhr, zu dem sie und ihr Gemahl nicht eingeladen waren. Als sie zornentbrannt zu ihrem Vater reisen und ihn zur Rede stellen wollte, erklärte ihr Shiva auf seine gelassene Art, dass dies gar nicht nötig sei. Denn weil Daksha Ihn und nicht Sie mit der unterlassenen Einladung demütigen wolle, würde das Ritual ohnehin nicht zu einem glücklichen Ende kommen. Also könne sie auch gleich daheim bleiben und sich den langen Weg sparen. Bei diesen Worten flammte ihr heißblütiges Temperament erst so richtig auf. In ihrem Unmut fühlte sich auch von ihrem Gatten nicht ernst genommen und wollte umgehend mit dem ihr zustehenden Respekt behandelt werden. Um Shiva an das ganze Ausmaß ihrer göttlichen Muttermacht zu erinnern, nahm sie eine Reihe von unterschiedlichen Shakti-Formen an. So gewaltig war die Energie, die von ihnen ausging, dass das Universum sie kaum ertragen konnte. Der kosmische Raum expandierte ins Unermessliche, die Sterne erzitterten auf ihrer Bahn, die Feuer loderten zum Himmel und die Winde wurden schwach beim Anblick ihrer vielfältigen Gegenwart. Selbst Shiva konnte sich der Furcht des Universums nicht entziehen und versuchte eingeschüchtert, dem gewaltigen Übermaß an Shakti-Kraft zu entfliehen. Doch in welche Richtung er sich auch wandte, überall stand ihm eine von Satis Erscheinungen im Weg und hinderte ihn an der Flucht. Schließlich musste er eingestehen, dass es keinen Ort gab, an dem er der machtvollen Fülle ihrer majestätischen Göttlichkeit entkommen konnte, und er akzeptierte ehrerbietig ihren Willen.
Den Mahavidhyas kommt in der tantrischen Praxis eine besondere Bedeutung zu, da sie Aspekte darstellen, die den inneren Transformationsprozess beschleunigen und intensivieren. Jede dieser Shaktis repräsentiert eine spezielle Facette der Kali-Kraft, die im Leben des Praktizierenden aktiviert werden kann. Jede Göttin ist somit „ein Weg in sich selbst“ und besitzt ihre eigene Qualität und ihren eigenen Namen. Die Schlüsselbegriffe der Mahavidhyas sind Zeit, Weisheit, Bewusstsein, Raum, Energie, Leere, Wahrnehmung, Innehalten, Ausdruckskraft und Schönheit. Praktizierende mögen sich ihr Leben lang auf nur einen einzigen dieser Aspekte beziehen oder den situativen Bedürfnissen und jeweiligen Momenten ihrer Entwicklung entsprechend von Mahavidhya zu Mahavidhya „wandern“.
Die Weisheitsgöttinnen Chinnamasta und Dhumavati zählen zu den extremsten Shakti-Aspekten, die die indische Kultur zum Erfassen transformativer Prozesse hervorgebracht hat. Besonders die bildhafte Darstellung der Chinnamasta ist von solch vehementer Wirkung, dass sie ein eingängiges Beispiel abgibt für den grenzwertigen Aspekt der tantrischen Kunst, die darauf abzielt, gewohnte Denk- und Konditionierungsmuster mittels Schockwirkung „aufzubrechen“. Sie regt Erschrecken und Faszination gleichermaßen an und rührt mit ihrer archetypischen Kraft an tiefe psychologische Strukturen. Chinnamasta steht unbekleidet auf den ebenfalls nackten Körpern eines Liebespaares, das in inniger sexueller Umarmung auf dem Boden liegt (siehe Abb. 12 im Bildteil). Sie trägt eine lange Kette aus abgeschlagenen Köpfen, schwingt ein hocherhobenes, bluttriefendes Schwert und präsentiert auf der Handfläche ihren eigenen abgeschlagenen Kopf. Aus ihrem schlangenumwundenen Halsstumpf strömen in hohem Bogen drei kraftvolle Strahlen Blut, von denen der mittlere in den offenen Mund ihres abgeschlagenen Kopfes fließt. Die beiden anderen Blutstrahlen fließen in die Münder von zwei weiblichen Begleiterinnen, die der Göttin zur Seite stehen.
Chinnamasta ist die energiereichste und intensivste Form der Shakti, eine einschlagende Kraft des Blitzes, pure Elektrizität, die das Denken ausschaltet und das Bewusstsein in eine „kopflose“ Erfahrung katapultiert. Ihre Weisheit repräsentiert den blitzartigen Übergang in ein Bewusstsein jenseits des Denkens, das gewaltsame Aufbrechen der Schranke, die zwischen Unwissenheit und Weisheit liegt, und die freie Weite des überbewussten, transzendenten Seins. Voraussetzung für ihr Wirken ist die zum Kronenchakra aufgestiegene Kundalini-Kraft. Chinnamastas Schlüsselwort ist Wahrnehmung, und mit ihrer kopflosen Gestalt wird unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass es sich hierbei um die Gewahrwerdung einer Wirklichkeit handelt, die jenseits der Grenzen unseres Mentalbewusstseins liegt. Diese Höhen der tantrischen Erfahrung sind nur möglich, wenn der Kopf „zur Seite gelegt“ wird und das Blut, welches dynamische Lebenskraft und Kundalini-Energie symbolisiert, frei nach oben aufsteigen kann.
Dhumavati wird als eine alte, hagere Frau gezeigt, die in den weißen, schmucklosen Sari einer Witwe gehüllt ist und von einem riesigen Schwarm schwarzer Krähen begleitet wird. Sie sitzt unter einem Baldachin auf einem hölzernen Wagen, der mit dem Emblem einer Krähe gekennzeichnet ist. Ihr Gesicht ist verhärmt und faltig, ihr Haar ungepflegt und verfilzt, ihre Kleidung unsauber und zerrissen, ihre Brüste hängen heraus, in ihrem Mund fehlen etliche Zähne und ihre Gliedmaßen wirken abgearbeitet und verformt. Ihre linke Hand ruht auf einem geflochtenen Korb, ihre rechte Hand ist zum Chin-Mudra, der Handgeste der Wissensvermittlung, erhoben.
In vergleichbarem Ausmaß, wie Chinnamastas Energie einen extremen Aufstieg bewirkt, führt Dhumavati tief in das Dunkel des Lebens herab. Sie ist die Witwe unter den Weisheitsgöttinnen, Shakti ohne Shiva, verkrüppelt, verkrümmt, streitsüchtig, problembeladen, verhärmt und versunken im Chaos des Schmerzes und der Orientierungslosigkeit. Ihre Erscheinung verkörpert Ablehnung und Verneinung, Armut und Leiden, Unglück, Furcht, Mittellosigkeit, Niederlage, Verlust und Missgeschick. Ihre negative Kraft zwingt dazu, auf der inneren Ebene eine Erfahrung zu suchen, die die äußere Ebene nicht gewährt. Dhumavatis Weisheit fordert Befreiung von jeder Anhaftung, Entfaltung der inneren Wirklichkeit und ein Wissen, das aus harter Erfahrung geboren wird. Sie will die innere Essenz von der vordergründigen Illusion trennen, durch den äußeren Anschein in die innere Wahrheit blicken, das Ablegen unreifer Wünsche und Vorstellungen bewirken und zur Erweckung des schlafenden Potenzials führen. Als Glücksgöttin im Gewand der Unglücksbotin enthüllt sie die Unvollkommenheiten der egobezogenen Existenz. Leben im Kontakt mit Dhumavati erkennt die Macht des Leidens und die Herausforderung des Schmerzes an. Es sieht schwierige Lebensphasen als Gelegenheit, um in Kontakt mit dem Wesentlichen zu gelangen, und besteht auf dem Annehmen der dem Leiden innewohnenden Lehre, um diese als Sieg für die Seele zu erfahren. In diesem Sinne symbolisiert Dhumavati den Fortschritt, der aus dem Entwicklungsdruck der schwierigen Umstände entsteht. Dhumavatis Schlüsselwort ist Leere. Als einzige Shakti ohne männlichen Gegenpart symbolisiert sie vollständige Unbewusstheit, den Zustand, in dem jeder Kontakt mit dem innewohnenden Bewusstseinslicht unterbunden ist. Auf die höhere Ebene transformiert, wird Leere zur Abwesenheit formhafter Erscheinung. In diesem Sinne fordert Dhumavatis Kraft die Transzendierung der kosmischen Realität als Voraussetzung, damit die höchste Wirklichkeit, das Brahman, aufleuchten kann.