VON DER SHAKTI IN DEN GÖTTINNEN INDIENS

Im religiösen und spirituellen Kontext des Hinduismus wird die Göttliche Mutter vor allem in den Formen der drei großen Hauptgöttinnen verehrt. Dazu zählen Sarasvati, Göttin der Weisheit und Künste, Lakshmi, Göttin der Harmonie und Liebe, und Parvati, Göttin des Bewusstseins und der Transformation. Sie sind die Shakti-Kräfte der Trimurti, der hinduistischen Trinität, die aus den Gottheiten Brahma (dem Schöpfer), Vishnu (dem Erhalter) und Shiva (dem Zerstörer) besteht und die grundlegende Unterteilung des Ishvara darstellt. Sarasvati ist Brahma zugeordnet, Lakshmi ist Vishnus Gemahlin, und Parvati ist die Gefährtin von Shiva. Andere Shaktis sind in der Regel Teilaspekte dieser Göttinnen, wie Durga und Kali etwa durchschlagende Qualitäten der Parvati-Kraft zum Ausdruck bringen oder Sita dem Weltenerhalter Vishnu in seiner Rama-Inkarnation als eine Verkörperung der Lakshmi zur Seite steht. Als Shakti verehrt werden auch die Erdgöttin Bhuma Devi, eine Reihe von Flussgottheiten und die zahlreichen lokalen Dorfgöttinnen Indiens. Selbst Vishnu nimmt in einer seiner Manifestationen als unwiderstehliche Verführerin Mohini eine weibliche Gestalt an. Obwohl die Shakti, wie wir am Beispiel von Shiva und Shakti betrachtet haben, immer in Kontakt mit ihrem männlichen Gegenpart steht, bleibt in der weiteren Betrachtung der Fokus vorwiegend auf die Göttin gerichtet. Die hinduistische Götterwelt gestaltet sich derart vielschichtig, dass es im Rahmen dieser Einführung unmöglich ist, sämtliche Facetten der Shakti aufzuzeigen, und somit noch viel Raum für individuelle Entdeckungen bleibt.

Sarasvati – die Verkörperung der Weisheit

„O beste Mutter, bester Strom, beste Göttin, Sarasvati! Sobald wir ohne Ausdruckskraft sind, schaffe für uns Ausdruck, Mutter!“45

Rig Veda, II. 41. 16

Eine der bedeutendsten Göttinnen Indiens ist Sarasvati, auch wenn sie eher selten in den mythologischen Erzählungen in Erscheinung tritt und auch in Tempelstätten kaum verehrt wird. Sie ist die weibliche Energie des Weltenschöpfers Brahma, der in seiner vierköpfigen Gestalt alle grundlegenden Ordnungsprinzipien der hinduistischen Kultur vereint. Dem Ursprung nach ist Sarasvati, deren Name „die Fließende“ bedeutet, eine Flussgottheit. Sie gilt als Göttin der Sprache, Weisheit, Gelehrsamkeit, Bildung, künstlerischen Gestaltungskraft und kreativen Intelligenz und wird als Schutzherrin der Künste, der Musik, der Wissenschaften, der Literatur und des Handwerks verehrt. Der Klang ihrer lautenähnlichen Vina gilt als Quelle der indischen Musik. Sarasvati ist die reine, unvermischte Essenz von Kunst und Wissen, die inspirierende Quelle, aus der alles künstlerische oder bildende Schaffen seine Kreativität bezieht (siehe Abb. 13 im Bildteil). In ihr lebt ein hohes ästhetisches Empfinden und die erfüllende Freude, die aus dem schöpferischen Tun entspringt. Während ihr Gemahl Brahma das schöpferische Grundprinzip verkörpert, repräsentiert ihre Kraft die sich verströmende Seligkeit des kreativen Schaffens und den freien Fluss der Inspiration.

Abb.13: Sarasvati

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Sarasvati wird als eine strahlende Erscheinung dargestellt, ein Wesen von unnahbarer Anmut und reiner Ausstrahlung, meist gekleidet in einen makellos weißen Sari, auf einer weißen Lotusblüte thronend, geschmückt mit weißen Blumen und gesalbt mit wohlriechender Sandelpaste. Die weiße Farbe symbolisiert, dass Sarasvati die Dunkelheit der Unwissenheit durch das reine Licht des Wissens erhellt und den Menschen in der Ausübung von Kunst und Gelehrsamkeit über seine Schattenseiten und Unvollkommenheiten hinausheben kann. Sarasvatis Tiere sind der Pfau und der Schwan. Der Pfau symbolisiert die Kraft des Sieges. Der Schwan steht für die essenzielle Wahrheit der Seele und ist der Mythologie zufolge ein Tier, das aus einem Gemisch von Wasser und Milch nur die Milch heraustrinken kann. Dieses Sinnbild verweist auf die spirituelle Unterscheidungskraft (Viveka), ohne die das höhere Wissen nicht erreicht werden kann.

Wie viele Hindu-Gottheiten wird auch Sarasvati mit vier Armen abgebildet. Sie halten die bereits erwähnte Vina, eine Gebetskette, ein Bündel Palmblätter und manchmal ein Wassergefäß. Das Palmblattbündel symbolisiert alle Bereiche des weltlichen und spirituellen Wissens. Die Vina weist darauf hin, dass Meisterschaft im künstlerischen Ausdruck von Intelligenz, Talent und ständiger Übung abhängig ist. Das Wassergefäß repräsentiert den Aspekt des Opfers, der im hinduistischen Denken von zentraler Bedeutung ist. Während das Wort „Opfer“ im westlichen Kulturkreis leicht einen negativen Beigeschmack besitzt und im Sinne von Schmälerung, Verzicht oder Einbuße benutzt wird, bedeutet es im hinduistischen Verständnis eher die Mehrung und Erfüllung des eigenen Potenzials durch positive Selbstdarbringung an das Höhere. So gibt sich der Künstler ganz an seine Kunst, der Wissenschaftler an die Wissenschaft und der spirituell Suchende an das Göttliche. Der Opfergedanke beschreibt zudem das Prinzip der konzentrierten, inneren Ausrichtung. Wer sein Wissen in weltlicher oder spiritueller Hinsicht mehren will, muss im Leben gezielt Prioritäten setzen, was einen Verzicht auf viele Dinge beinhaltet, die damit nicht kompatibel sind.

Die Gebetskette, Mala, die in der spirituellen Praxis zum Abzählen von Mantras benutzt wird, steht für den schöpferischen Aspekt, der im Fluss der Zeit verborgen liegt. Jede kreative Tätigkeit, jeder Lernprozess und jeder Wissenserwerb ist eng mit einer Entfaltung im Zeitgeschehen verbunden. Wir können nicht erwarten, über Nacht in den Besitz eines umfangreichen Wissens zu gelangen oder künstlerische Fähigkeiten im Schnellverfahren zu erwerben. Wer sich in dieser Hinsicht entwickeln will, muss sich die Zeit zur Freundin machen. Denn ob wir eine Sprache erlernen, Medizin studieren oder ein Musikinstrument meistern möchten, immer gilt, dass wir die Vollkommenheit in unseren Fähigkeiten erst am Ende eines langen und manchmal auch mühsamen Weges erreichen, auf dem unser Können durch ständige Ausrichtung und beharrliches Üben zur Reife gelangt. Auch unser spirituelles Wissen wird erst in Verbindung mit dem Zeitfaktor zur Blüte gebracht.

Wie jede indische Gottheit wird Sarasvati mit einer Fülle von Namen bezeichnet, die verschiedene Aspekte ihres Wesens betonen. So heißt sie Sarada („die Wesentliches gibt“), Vagishvari („Herrin der Sprache“) und Brahmi („Gefährtin Brahmas“). Sie ist auch Vak, das göttliche Wort, das als die erste Erscheinungsform der Göttlichen Mutter angesehen wird. In der Mythologie wird beschrieben, dass Vak sich mit Prajapati-Brahma, dem Urvater der Schöpfer, vereinte. Sie wurde schwanger und entfernte sich von ihm, um alle Dinge und Wesen zu gebären. Danach kehrte sie zu ihm zurück.

Das göttliche Wort ist der Urklang, und jeder Ton, der daraus hervorgeht, ist eine Schwingung, die untrennbar mit dem schöpferischen Willen des Höchsten verbunden ist. In vibrierenden Klangkörpern verdichtet Vak die Unendlichkeit des Absoluten zu einer Vielzahl von abgegrenzten Manifestationen, und seine unzähligen Möglichkeiten nehmen Gestalt an. Als Vak verkörpert Sarasvati auch das Geheimnis des Mantras, das machtvolle Schwingungsgrade des göttlichen Potenzials zum Ausdruck bringt. Sie repräsentiert das Urmantra der Schöpfung, den heiligen Laut Om, der die universelle Gegenwart des Höchsten darstellt.

Als Herrin des göttlichen Wortes herrscht Sarasvati auch über die sprachliche Ausdruckskraft und die Kommunikationsfähigkeit. Sie ist die Göttin der Dichtung, Literatur, Rede und Wortkraft und die erleuchtende Kraft des Intellekts, die im gesprochenen oder geschriebenen Wort zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus symbolisiert sie die Fähigkeit zum intuitiven Erfassen höherer Wirklichkeiten, die hinter jeder intellektuellen oder künstlerischen Tätigkeit steht. Es heißt, dass die altindische Hochsprache Sanskrit und die Schriften der Veden aus Sarasvatis Mund geboren wurden. Sanskrit gilt in der hinduistischen Tradition als die heiligste aller Sprachen, da sie allein über ihren Klang eine Anbindung an höhere Bewusstseinsebenen ermöglicht. Es ist die Sprache der vedischen Hymnen, der machtvollen Mantras, des höheren Wissens, der heiligen Rituale und der traditionellen Lehrschriften.

Sarasvati wird in der Mythologie als Persönlichkeit mit zwei konträren Charaktereigenschaften beschrieben. Einerseits scheint sie von den „normalen“ Problemfeldern des Lebens unberührt zu bleiben und geradezu über dem „Normal-Menschlichen“ zu schweben. Da die Belange des Alltagslebens nicht der Ebene ihrer verfeinerten Energie entsprechen, nimmt sie an ihnen auch keinen Anteil, denn nur so kann sie das Beste repräsentieren, was Kunst und Wissen dem Menschen zu bieten haben. Ihre Abstand bewahrende Art bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie ein saft- und kraftloses Wesen wäre, das sich bei Beleidigungen und Demütigungen nicht zur Wehr zu setzen weiß. Sie ist durchaus zur Konfrontation und zum Beziehen eines eigenen Standpunkts bereit. Es heißt, dass selbst die Götter sich dann vor ihrer scharfen Zunge und ihren Flüchen fürchten, deren Wirkung unvermeidbar ist, weil sie als Herrin der Sprache eine unmittelbare Macht über das gesprochene Wort besitzt.

Um ihre unverhaftete Freiheit zu betonen, zeichnet die indische Mythologie manchmal ein drastisches Bild von Sarasvatis äußeren Lebensumständen. So gilt sie als Tochter und zugleich als Gattin des Schöpfergottes, was ein recht unmoralischer Tatbestand ist, den selbst ihre Mitgötter kritisieren. In einer Legende wird berichtet, dass sie sich in aller Öffentlichkeit den unziemlichen und leidenschaftlichen Nachstellungen ihres Vater-Gatten entziehen muss. Selbst als Brahma sie zeitweise an Vishnu und sogar an Shiva abtritt, der ihr eine respektvolle Behandlung verweigert, wird sie davon nicht aus der Bahn geworfen. Als Tochter begehrt, als Gattin gedemütigt oder verstoßen, scheint sie kein leichtes Los zu tragen. Nur scheint das aus ihrer Perspektive weniger dramatisch zu sein, da sie die Identifizierung mit diesen Rollen auf den Ebenen ihrer Kunst relativiert.

Wer Sarasvati in tiefer Hingabe zugewandt ist, steigt zu ihr auf eine karge Bergspitze, um in der klaren Atmosphäre ihrer hohen Gegenwart eine kreative Weite zu erlangen, die in den Tälern des durchschnittlichen Daseins nicht erfahren werden kann. Sarasvatis Kraft gewährt große Fähigkeiten, die eine vollkommenere Erfüllung schenken als viele andere Errungenschaften des Lebens. Doch der Preis, der für die Horizonte des höheren Wissens und die Ekstase der künstlerischen Leidenschaft zu entrichten ist, beinhaltet das Verblassen gewöhnlicher Interessen. In diesem Zusammenhang verkörpert die Göttin der Weisheit eine große Transformationskraft. Die Konzentration bleibt ständig auf die Vervollkommnung gerichtet, und der Mensch gelangt in Bereiche, die den meisten seiner Mitmenschen verschlossen bleiben. Auf diesen höheren Stufen ihres hohen Wissens schenkt die Göttin Erfolg und Einsamkeit zugleich.

Mythologie: Wie die Musik in der Welt erwachte

Zum Ausklang eines heißen indischen Tages saßen Parvati und Sarasvati müßig im Schatten eines Ashvatta-Baumes beisammen und spürten gemeinsam den verschlungenen Pfaden der Unendlichkeit nach. Als sich der Nachmittag langsam dem Abend zuneigte und aus einem nahegelegenen Tempel die Andachtsglocke herüberklang, ergriff die erhabene Sarasvati das Wort und vertraute der Freundin im Klang ihrer melodischen Stimme, die sich wie eine Raga in die heilige Stimmung der frühen Abendstunde flocht, ein lange gehütetes Geheimnis an.

„Du weißt, meine Schwester, dass ich in meiner kreativen Kraft die Herrin der Künste bin, wozu ja auch die Musik gehört, die wir in diesem Land besonders innig verehren. Ich selbst werde oft mit der Vina in meinen Armen dargestellt, der Laute des göttlichen Tons. Wisse, dass sie mir dein Gemahl, der große Shiva, selbst in den Schoß gelegt hat, damit ich ihr die edelsten aller Weltenklänge entlocke. Dadurch kamen wir uns nah, denn wer das Wesen der Vina wahrhaftig versteht, erfasst auch die tiefe Freude des unnahbaren Gottes. Lass dir erzählen, wie es dazu kam.

Meine Geschichte ereignete sich, kurz nachdem mein Gatte die Musik aus seinem göttlichen Haupt in die Welt geboren hatte, aber sie lag noch reglos im tiefen Dunkel der Zeit. Bis dein göttlicher Gefährte, o Parvati, dich eines Abends schlafend vorfand. Nie hatte er dich vollkommener gesehen als in deinem Schlaf. Der Anblick deiner ebenmäßigen Gestalt mit ihren schlanken Gliedern und anmutigen Rundungen erweckte in ihm eine unbeschreibliche Seligkeit; und es erhob sich in ihm der Wunsch, die gesamte Schöpfung an seiner Freude, die sich nicht in Worten ausdrücken ließ, teilhaben zu lassen. Er sann über ein Geschenk nach, eine Gabe seines Entzückens, die nicht nur die Gottheiten, sondern auch die Sterblichen in höhere Dimensionen entführt. Und so schuf er nach dem Bild deiner weiblichen Vollkommenheit ein Instrument, das die Macht besitzt, in seinem Klang das Ausmaß seiner Liebe zu dir in die Welt zu tragen. Das ist die Vina, o Parvati, die hier auf meinem Schoß ruht. Sie ist dein Wesen und deine Schönheit, sie ist wie du, meine Schwester. Ihr wohlgeformter Resonanzkörper sind deine Brüste, ihr langer Hals ist dein anmutiger Arm und ihre schimmernden Bünde deine silbernen Armreifen. Sie ist das Abbild deiner unsterblichen Schönheit. Jeder, der sie hört, wenn sie in Ekstase erbebt, spürt das Feuer von Shivas unendlicher Liebe zu dir, das die Grenzen zwischen Natur und Seele verbrennt. Sie besitzt den geheimen Ton, in dem das Männlich-Weibliche sich gegenseitig aufnimmt und zu einer Einheit verschmilzt; sie hat den Klang, der so allumfassend und doch so transparent ist, dass man durch ihn hindurch die Stille des Ursprungs hört. Das erste Musikinstrument war erschaffen, doch niemand vermochte ihm jenen alles umarmenden Ton zu entlocken, den der große Shiva in seinem Liebesentzücken gehört hatte. Jemand musste es lernen, und Shivas Wahl fiel auf mich. Mir, o Parvati, gab er die Vina − das Abbild der Welt, die du bist − in die Hände, damit ich eure Liebe durch meine Kunst in den reinen Tönen der Musik erklingen lasse. Er wusste genau, dass nur ich der göttlichen Laute ihr verborgenes Geheimnis entlocken konnte, denn ich verkörpere die stets abseits stehende Gestalt der Reinheit, bin die einsame Hüterin der hohen Ideale, die sich nicht mischt mit den verschlungenen Pfaden und dem Lärm der gewöhnlichen Welt. So wurde ich zu seiner Auserkorenen, die im reinen Klang die Brücke bildet zwischen ihm und dir, seinem Spirit und deiner Weltsubstanz. Ich wurde die heilige Matrix, in der eure unvollkommenen Hälften in einem einzigen vibrierenden Ton zusammenfinden.

Wer die Reinheit erfassen will, muss sich erheben und emporsteigen, denn sie verweilt nicht in den Niederungen des Lebens. Wer das Höchste will, darf sich nicht auf den Irrwegen eines seichten Verlangens verlieren, darf den verlockenden Formen der Welt nicht verhaftet sein, muss sie benutzen wie ein Instrument, ohne selbst von ihnen benutzt zu werden. So übte ich mich darin, emporzustreben und mich völlig der Kunst und in ihr dem Höchsten darzubringen, denn in dem Maße, wie ich mich hingab an den Klang, schenkte sich der Klang mir. Ich verlor mein Selbst an ein Dasein, das die kleinen Genüsse der Sinne nicht kennt und sich allein an der Vollkommenheit des reinen Spirits erfreut. Mein einziges Verlangen war meine bedingungslose Hingabe an die Musik, denn nur so fand mich der reine Klang. Ich vertraute meinem Weg und gab ihm alles, was ich habe und bin. So wurde ich die Göttin der Töne, der Sprache und der Musik, der Ragas und der Raginis, des Tanzes, der heiligen Veden, der Mantras und weisen Worte und der reinen All-Schwingung, in der sich der Ewige in der Welt offenbart.

Als ich, in Ergebung versunken, meine ersten Tonfolgen spielte, eilten die Götter und Menschen herbei. Sie beknieten mich, ihnen meine Musik zu schenken. So reifte ich zur Gottheit der Lehrkunst heran, und meine ersten Schüler wurden die Gandharvas, jene gottgleichen himmlischen Wesen, die den süßen Düften der irdischen Blüten entstiegen waren. Als Entgelt für meine Unterweisung forderte ich von ihnen das mondgleiche Soma zurück, den berauschenden Seligkeitstrank, den sie den Göttern entwendet hatten. Aus dem göttlichen Nektar schöpfend webte ich Tropfen um Tropfen den Glanz des höchsten Entzückens in meine Musik und konnte so Shivas verwandelnde Ekstase in den vibrierenden Klang rufen, bis jede Note gefüllt mit seiner Wonne erzitterte und zur Nahrung der Seele wurde. Und ihr, die ihr als göttliches Paar die ewige Zweiheit in der ewigen Einheit seid, ihr braucht mich, damit die Welt ein wenig von der Reinheit und Macht eurer Liebe erahnt.“

Sarasvati verstummte und ließ die Finger leise über die Saiten der kunstvollen Vina gleiten, die wie ein lebendiges Wesen auf ihrem Schoß lag. Für eine Weile noch saßen die beiden Göttinnen, eingehüllt von den zartbebenden Klängen, in einvernehmlichem Schweigen beisammen, während das sanfte Licht des frühen Abendstunde langsam in das stille Dunkel der Nacht überging.

Mythologie: Wie die Göttin Sarasvati zur Erde kam

Eine alte Legende erzählt, dass die Göttinnen Lakshmi, Ganga und Sarasvati vor langer Zeit einmal alle drei mit Vishnu verheiratet waren und mit ihm in seiner himmlischen Heimstatt Vaikuntha lebten. Diese Situation blieb natürlich auf Dauer nicht ohne Spannungen. Eines Tages bemerkte Sarasvati zum wiederholten Male, dass ihr Gemahl viel mehr Zeit mit Ganga verbrachte als mit ihr oder Lakshmi und forderte ihn im Beisein der beiden anderen Göttinnen auf, seine Zuneigung gerecht unter seinen Frauen zu verteilen. Ganga fühlte sich bei diesen Worten ebenfalls angesprochen und wies den Vorwurf energisch zurück, und so entbrannte zwischen ihr und Sarasvati eine hitzige Auseinandersetzung. Vishnu stand daneben und hörte dem Streit der Shaktis eine Weile zu. Dann verlor er jedes Interesse daran und entzog sich der Situation, indem er davonging. Der Streit spitzte sich mehr und mehr zu und wurde schließlich handgreiflich. Die beiden Flussgöttinnen rissen sich gegenseitig in der strömenden Flut an den Haaren und ließen ihre Wasser gewaltig ansteigen, bis sie ungezügelt über die Ufer traten und einander aus ihrem himmlischen Flussbett zwangen. Aufbäumend und wild schäumten ihre zornigen Wassermassen, prallten tosend aufeinander und flossen unversehens ohne jede Kontrolle bis auf die Erde herab, wo sie eine große Überschwemmung anrichteten. Die friedliebende Lakshmi bemühte sich nach Kräften, das Ausmaß der Katastrophe zu mindern. Immer wieder stellte sie sich zwischen die beiden aufgebrachten Flussgöttinnen und redete ihnen zu, sich zu beruhigen. Doch Sarasvati beschuldigte sie in ihrer Wut, dass sie mit ihren Schlichtungsversuchen nur für Ganga Partei ergreifen würde. Und in ihrem aufbrausenden Temperament verfluchte sie die liebliche Lakshmi dazu, ihre himmlische Heimstatt zu verlassen und auf Erden die Gestalt einer Pflanze anzunehmen. Entsetzt über diese Ungerechtigkeit ergriff daraufhin die ebenso unbändige Ganga das Wort und verfügte in ihrem Zorn, dass Sarasvati für eine längere Zeit als Fluss auf die Erde herabkommen solle. Sarasvati setzte dem entgegen, dass Ganga, die Personifikation höchster Reinheit, ebenfalls auf die Erde herabkommen werde, und zwar als ein Fluss, dessen Bestimmung es sei, die Asche der Verstorbenen zum Meer zu tragen.

Als Vishnu etwas später wieder in Vaikuntha eintraf und von den gegenseitigen Verwünschungen erfuhr, erklärte er, dass von seinen drei Frauen nur Lakshmi noch so lange bei ihm bleiben würde, bis es für sie an der Zeit sei, sich aufgrund des Fluches auf der Erde zu verkörpern. Dort würde sie ihm während seiner nächsten Inkarnationen in Gestalt der heiligen Tulsipflanze nahe sein. Ganga und Sarasvati aber sandte er umgehend als Flüsse hinab zur Erde und erklärte ihnen auch den Grund für diesen Entschluss. „In allem, was ihr an Worten von euch gebt, liegt die Shakti-Macht der Verwirklichung. Alles, was ihr aussprecht, muss und wird geschehen. Aber es liegt auch ein Segen in den Worten, zu denen eure aufbrausende und ungezähmte Natur euch verleitet hat, denn es ist euch bestimmt, die irdische Schöpfung mit eurem erhabenen Wesen zu bereichern.“ Und so brachte Ganga das Symbol von Reinheit und Unsterblichkeit mit sich zur Erde herab, und Sarasvati beschenkte die Welt mit ihrem reichen Wissen.

Betrachtung: Sich der Kraft des eigenen Wortes bewusst sein

In gleicher Weise, wie Sarasvati ihr überschäumendes Temperament manchmal nicht zügeln kann, haben auch wir hin und wieder das Problem, unsere Worte – und erst recht unsere Gedanken − im Zaum zu halten. Worte und Gedanken stellen Formationen dar, denen eine große Manifestationskraft innewohnt. Alles, was wir sagen oder denken, trägt, ebenso wie unsere Emotionen, zu der uns umgebenden Atmosphäre bei und stellt ein Schwingungsfeld unseres Bewusstseins dar, das einen Effekt auf unsere Umgebung ausübt. Jede ausgesandte Frequenz ist „ansteckend“, was alle bestätigen können, die schon einmal von guten oder unguten Äußerungen in ihrem Umfeld mitgerissen wurden. In diesem Sinne sind verbale Reaktionen, die uns von unseren Mitmenschen entgegengebracht werden, oftmals ein Spiegel unserer eigenen Bewusstseinsschwingung. Wenn wir uns dessen bewusst sind, kann unser Umgang mit Sprache zu einem wichtigen Übungsfeld für die innere Entwicklung werden. Idealerweise sollte jedes Wort mit Bewusstheit geäußert werden, damit es für uns und andere eine erhebende und nährende Kraft darstellt. Je mehr wir lernen, uns der Macht des Wortes in unserem Leben bewusst zu sein, desto deutlicher werden wir etwas von dem erspüren, was hinter der hörbaren Klangschwingung steht.

Lakshmi – die meergeborene Herrin der Fülle

„Ich grüße die Göttin Mahalakshmi, die Anfanglose und Endlose, die ursprüngliche Energie, die Kraft des höchsten Wesens, die durch Yoga Geburt annahm und eins ist mit der Yoga-Shakti, dieser Mahalakshmi gilt mein Gruß. Ich grüße die Göttin Mahalakshmi, die auf dem Lotussitz thronende, deren Wesen das höchste Brahman ist, die der Höchste Herr und die Mutter des Universums ist, an diese Mahalakshmi geht mein Gruß.“

Mahalakshmi Ashtakam Stotram

Lakshmi ist die Gemahlin des Gottes Vishnu und damit die Energie und Mutter aller erhaltenden Prozesse. Sie ist eine Göttin, der die Herzen entgegenwachsen, da sie dem Leben Fülle, Liebe, Harmonie, Überfluss, Reichtum, Glück, Fruchtbarkeit, Gesundheit, Wohlstand, Schönheit, Wachstum und reiche Ernten gewährt. Auch Lakshmi besitzt viele Namen und Attribute. Kamala („schön wie ein Lotus“), Indira („strahlend wie die Sonne“), Padma („Lotusblüte“), Jaladhija („Tochter des Meeres“), Haripriya („Geliebte Vishnus“) und Chanchala („die Unbeständige“) sind nur einige davon (siehe Abb. 14 im Bildteil). Im vedischen Zeitalter wurde sie bereits unter dem Namen Sri erwähnt. Allerdings war sie in der Frühzeit der indischen Kultur noch nicht mit Vishnu, sondern abwechselnd mit verschiedenen Gottheiten des Veda liiert, dessen Hymnen darauf hinweisen, dass ihre Macht mit Leben spendendem Wasser, Landwirtschaft und den Kräften der Erde in Verbindung gebracht wurde.

Abb.14: Lakshmi – Nischenskulptur, Brihadeshwara Tempel, Gangaikondacholapuram

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Wie ihr Gemahl Vishnu ist Lakshmi eng mit dem Symbol des Wassers verbunden, das verschiedene Zustände und Bewegungen des Bewusstseins symbolisiert. Ihre Wohnstätte ist der unendliche Ozean, in dem sie zusammen mit Vishnu auf den Windungen der riesigen Weltenschlange Ananta residiert. In den Puranas wird geschildert, dass Lakshmi in ihrer ersten Inkarnation als Tochter des Weisen Bhrigu geboren wurde. Der hinduistischen Mythologie zufolge wurde sie ein zweites Mal aus dem Wasser des Ur-Ozeans geboren, als dieser von den Göttern und Dämonen gequirlt wurde, um aus den Fluten das kostbare Amrita, den Trank der Unsterblichkeit, zu gewinnen. Als eine meergeborene Göttin ist sie mit der griechischen Aphrodite vergleichbar.

Lakshmi wird als eine bezaubernd schöne und reich geschmückte Göttin dargestellt, die in einen rosaroten Sari gehüllt vor einer anmutigen Seelandschaft auf einem Lotus sitzt oder steht. Sie hat vier Arme, von denen die beiden oberen Lotusblüten von der gleichen tiefrosa Farbe halten, in die sie gekleidet ist. Der voll aufgeblühte Lotus symbolisiert die Fülle ihrer göttlichen Macht im Universum. Ihre beiden unteren Hände formen bedeutungsvolle Handgesten (Mudras) für das Gewähren von Segen und Wohlstand. Zu ihren beiden Seiten befinden sich weiße Elefanten, die die Göttin aus bauchigen Krügen mit himmlischem Wasser übergießen. Ihr Reittier ist das mächtige Adlerwesen Garuda. Ein weiteres Begleittier ist die Eule, die Weisheit, Intelligenz und Intuition symbolisiert. Sie gilt auch als Vorbotin eines kommenden Unheils und stellt in diesem Zusammenhang Lakshmis Schwester Alakshmi dar, die Unglücksgöttin der hinduistischen Tradition.

Über ihren Gemahl Vishnu ist Lakshmi in besonderer Weise mit dem Bereich des Lebendigen verbunden. Er nimmt einen irdischen Körper an, um für das Gleichgewicht der Kräfte zu wirken, wenn die Erde durch den Aufschwung der dunklen Mächte bedroht ist. Als seine Shakti ist Lakshmi mit ihm auch in seinen Inkarnationen verbunden, und seinen Verkörperungen als Varaha, Rama und Krishna steht sie zum Beispiel als Varahi, Sita und Rukmini zur Seite.

Die indische Mythologie präsentiert eine Vielzahl an Legenden, die den Status verschiedener Göttinnen − wie Parvati, Durga, Kali und Sarasvati − durch eine Schilderung ihre konkreten Handlungen sichtbar machen. Lakshmi ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme, und ihre Rolle auf der universellen Bühne ist nicht sofort offensichtlich. Obwohl das weibliche Element generell die ausführende Kraft darstellt, wird sie nur selten als eine handelnde Instanz gezeigt, weshalb ihr Wesen weniger über äußere Aktivitäten fassbar ist. Es ist (fast) immer ihr Gemahl, der nach außen sichtbar und aktiv in Erscheinung tritt. Lakshmi personifiziert in seinem Handeln die Summe aller Kräfte und Ressourcen, auf die er bei der Erfüllung seiner Aufgaben zurückgreifen kann, während sie in der Stille seines Herzens anwesend ist und ihn auf diese Art durch alle Umstände und Ereignisse begleitet. Wo immer sein all-durchdringendes und all-erhaltendes Potenzial im Universum aktiv ist, sind es wieder die Zwei-in-Einem, Er und Sie, die diesmal über Seine Handlungskraft die Welten ordnen und sich ihrer Missstände annehmen. So bleibt die Vishnu-Tradition – ganz im Einklang mit dem vedantischen Ansatz – auf den männlichen Pol, den Ishvara-Aspekt, konzentriert und stellt im schöpferischen Wirken Sein göttliches Bewusstseinslicht (und nicht Ihre Kraft) in den Vordergrund.

In den oberen Bereichen der kosmischen Realität ist Lakshmi stets auch ein hoher Aspekt der göttlichen Weltenmutter. Sie repräsentiert ihre Süße, Harmonie, Liebe, Fülle und Seligkeit, die als göttliche Gnade in das Leben strömt, und die auch verborgen in der Tiefe des Herzens lebt, wo sie, wie Mystiker aller Kulturen zu berichten wissen, durch die spirituelle Praxis erfahren werden kann.

Da Lakshmi vor Unvollkommenheit und Disharmonie zurückschreckt, müssen im äußeren Leben zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden, unter denen ihre Kraft sich mitteilen kann. Das Wenige, was sich unter den Bedingungen der menschlichen Unzulänglichkeiten von ihrer Herrlichkeit zum Ausdruck bringt, ist nicht von dauerhaftem Bestand. Aus diesem Grund gilt Lakshmi oft als eine unbeständige und launenhafte Göttin, die unserer halbbewussten „Welten-Etage“ nur gelegentliche Kurzbesuche abstattet. Dessen ungeachtet ist sie wegen der überfließenden Fülle, die sie dem Leben auch in materieller Hinsicht verheißt, im hinduistischen Kulturkreis über alle Maßen beliebt, und viele volkstümliche Erzählungen handeln von der außergewöhnlichen Kraft ihres Segens.

Mythologie: Wie die Devas und Asuras den Ur-Ozean quirlten

Die Geschichte von Lakshmis Geburt gehört zu den schönsten Erzählungen der indischen Mythologie und weist einen starken Sinnbildcharakter auf. Wie viele mythologische Geschichten bedient sie sich einer Symbolik, die dem praktischen Lebensumfeld ihrer Entstehungszeit entstammt.

Die Götter (Devas) und die Dämonen (Asuras) hatten sich verbündet, um aus den Wassern des gewaltigen Ur-Ozeans den Nektar der Unsterblichkeit zu gewinnen, die im Chaos der kosmischen Bewegung versunkene, unvergängliche Essenz allen Seins. Die eher ungewöhnliche Allianz kam zustande, weil ihnen vorhergesagt wurde, dass dieses schwierige Unterfangen nur durch eine konzentrierte Bündelung aller zur Verfügung stehenden Kräfte gelingen könne. Die Götter und Dämonen diskutierten lange darüber, wie sie bei der Umsetzung ihres Unterfangens vorzugehen hätten. Schließlich kamen sie überein, das Prinzip des Butterns auf einen größeren Maßstab zu übertragen und den Ur-Ozean zu quirlen wie die Milch im Butterfass, um dann aus den Fluten den aufsteigenden Nektar der Unsterblichkeit abzuschöpfen wie die Butter aus der Milch.

Ein Projekt von diesen Ausmaßen brauchte ein gigantisches Butterholz und ein passendes Butterseil. Kurz entschlossen warfen sie mit vereinter Kraft den gewaltigen Mandara-Berg in das Wasser hinein und wickelten die königliche Schlange Vasuki, die sie für ihr Vorhaben gewinnen konnten, als riesiges Butterseil um ihn herum. Die Götter und die Dämonen stellten sich an den gegenüberliegenden Ufern des Ur-Ozeans auf. Wie beim Tauziehen ergriffen die Götter das Schwanzende der Schlange, die Dämonen packten am Kopfende an, und dann begannen sie mit vereinten Kräften den Ur-Ozean zu quirlen. Doch der riesige Berg hatte in den gewaltigen Fluten keinen festen Drehpunkt und kippte bei den schnellen Drehbewegungen sofort zur Seite. Nachdem sie ihn einige Male aufgerichtet und mit neu aufgewickeltem Schlangenseil das Buttern wieder aufgenommen hatten, mussten sie enttäuscht feststellen, dass es ihnen auf diese Art nicht gelingen würde, dem Meer seinen kostbaren Schatz abzuringen. In ihrer Verzweiflung wandten sich die Devas an Vishnu und baten ihn inständig, sich der ausweglos erscheinenden Situation anzunehmen. „Herr“, riefen sie, „im Vorgang der Weltenschöpfung ist uns die wichtigste Sache verloren gegangen, die Unsterblichkeit. Jetzt sind wir alle, ob Gott oder Dämon, der Vergänglichkeit preisgegeben. Wir haben uns vereint darum bemüht, den verlorenen Schatz durch das Buttern des Urmeeres zu bergen, aber in den gewaltigen Wassern finden wir keinen Drehpunkt für unser Butterholz. Wir bitten dich inständig, hilf uns bei diesem Unterfangen, und gib uns so unser Anrecht auf die Unsterblichkeit zurück!“

Die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens erreichte Vishnus Herz. Er verkörperte sich in der Gestalt der Riesenschildkröte Kurma und tauchte in die Fluten hinab, wo er sich mit seinem mächtigen Rückenpanzer unter den Mandara-Berg schob und ihm so eine feste Auflage bot. Erleichtert nahmen die Devas und Asuras das Quirlen des Ur-Ozeans wieder auf, und diesmal waren ihre Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Nacheinander gab das Meer sämtliche Schätze frei, die bei der Schöpfung in seinen Tiefen versunken waren. Als Erstes erschien Kamadhenu, die Wunsch gewährende göttliche Milchkuh des Überflusses. Sie wurde den niederen Gottheiten als Lohn für ihre Mühen geschenkt. Dann tauchte die Göttin Varuni aus den Fluten auf, die von den Dämonen beansprucht wurde. Danach kam der Wunsch erfüllende Baum Kalpavriksha, den der Götterkönig Indra in seinen himmlischen Garten pflanzte. Als Nächstes erschien der leuchtende Sichelmond, den Shiva sich als Schmuck auf seine wilden Haarlocken setzte. Dann tauchte das Juwel Kaustubha aus den Wassern auf, das an Vishnu gegeben wurde, gefolgt von Airavat, dem himmlischen Elefanten, den Indra als Reittier nahm, und Uchchaishrava, das weiße Pferd, das dem Dämonenkönig Bali zugesprochen wurde. Unter den nächsten Objekten, die der Ozean freigab, war Shankh, das Muschelhorn, das aus den Wellen emporstieg und sich in Vishnus Hand schmiegte, um an seinen Lippen den Ruf des Göttlichen in die Welt zu tönen. Und schließlich kam Dhanvantari, der strahlende Gott der ayurvedischen Heilkunst, der den Krug mit dem Nektar der Unsterblichkeit in seinen Händen trug. Die Dämonen wollten sich in wilder Gier sofort darauf stürzen, um ihn in Besitz zu nehmen. Doch Vishnu, der dies vorausgesehen hatte, nahm umgehend seine weibliche Form an und trat in Gestalt der unwiderstehlichen Zauberin Mohini vor sie hin. Den Dämonen gelang es nicht, sich ihren verführerischen Reizen zu entziehen. Von einer Sekunde zur nächsten vergaßen sie den Nektar der Unsterblichkeit. Ihr Begehren hatte ein neues Ziel gefunden. Von ihrer Schönheit völlig in den Bann geschlagen hingen sie an den Lippen der schönen Frau, als diese mit lockender Stimme zu sprechen begann und ihnen vorschlug, das Urmeer noch ein weiteres Mal zu quirlen, um ganz sicherzugehen, dass sie die kostbaren Schätze auch bis auf das letzte Stück erhalten hatten. Von ihrer Ausstrahlung vollkommen hypnotisiert stimmten die Dämonen, die keinen klaren Gedanken mehr fassen konnten, ihren süßen Worten zu, die sie mit verführerischen Gesten unterstrich. Gehorsam nahmen die Asuras schließlich zusammen mit den Göttern das Quirlen des Ur-Ozeans wieder auf.

Doch plötzlich verfinsterte sich der Himmel und ein Todesgrauen erfüllte die Luft. Statt der erwarteten Schätze tauchte ein Gefäß mit dem todbringenden, blauen Kaal-kut, dem gesammelten Gift der Welt, aus den Tiefen des Meeres auf und bot sich, von den Wellen gehalten, der erschrockenen Versammlung an. Keiner wollte es nehmen, alle wichen vor ihm zurück. Tanzend hielt es sich auf den Wellen, doch eine heftige Woge schäumte auf und schlug seinen Deckel entzwei. Die Götter und Dämonen schrien vor Entsetzen auf, denn jetzt drohte das Gift von den Wellenkämmen ins Meer zu fließen und den Ur-Ozean, das Wasser der kosmischen Existenz, auf immer unbrauchbar zu machen. In ihrer Not wandten sich die Devas an Shiva, denn keiner ist besser geeignet, mit dem Gift der Welt umzugehen, als der Herr der Transformation. „Mahadev!“, riefen sie, „Großer Gott! Nimm dich in deiner unendlichen Gnade dieser Situation an und lass nicht zu, dass die Welt an ihrem eigenen Gift erstickt. Sie ist doch nicht geschaffen worden für den Tod, sondern für die Wanderung in das Licht! Erbarme dich und nimm das Gift, das sie bedroht, zu dir!“ Und Shiva erbarmte sich. Gelassen streckte er die aschebeschmierte Hand aus, nahm das offene Gefäß von den Wellen und trank es in einem Zug aus. Als er die todbringende Flüssigkeit hinunterschlucken wollte, hielt ihm seine Gefährtin Parvati den Hals zu, und das Gift sammelte sich in seiner Kehle und färbte sie blau – ein Zeichen, das der große Gott nie wieder verlor. Aus diesem Grund wird Shiva auch Nilakantha, der Blaukehlige, genannt.

Die letzte Kostbarkeit, die das Meer preisgab, war die strahlende Göttin Lakshmi. Auf ihrem Lotussitz thronend tauchte sie, umgeben von einem goldenen Licht, aus den schäumenden Wassern empor. So herrlich war ihre Gestalt und so mächtig die Ausstrahlung ihrer Wohltaten und Fülle gewährenden Gegenwart, dass alle Anwesenden ehrfürchtig vor ihr auf die Knie sanken und sich vor ihrer majestätischen Göttlichkeit in Demut verneigten. Himmlische Elefanten begleiteten sie, gossen mit ihren Rüsseln aus runden Krügen heiliges Wasser über sie aus und hießen sie mit duftenden Blütengirlanden willkommen. Vishnu spürte Lakshmis Nähe tief in seinem Herzen. Er erhob sich von den riesigen Windungen der kosmischen Schlange Ananta und erwartete sie am Ufer des Ur-Ozeans, um mit ihr den Bund der Ehe einzugehen. Die Götter jubilierten und der Götterkönig Indra rezitierte eine Hymne zu Ehren der Lakshmi, die die Göttin so sehr erfreute, dass sie versprach, ihren Reichtum schenkenden Segen über alle auszubreiten, die diese Hymne singen.

Bevor Vishnu sich jedoch in Ruhe mit seiner Shakti auf sein Schlangenbett zurückziehen konnte, musste er sich noch ein weiteres Mal um den Nektar der Unsterblichkeit kümmern. Denn jetzt wollten die Asuras nicht länger auf ihren Anteil warten, den die Götter ihnen jedoch nicht mehr gewähren wollten, da sie befürchteten, dass die Dämonen ihre Unsterblichkeit zu neuem Machtmissbrauch benutzen würden. Vishnu nahm sich der Situation kurz entschlossen noch einmal in der Form der verführerischen Mohini an. Sie setzte sich den Krug mit dem kostbaren Nektar auf die Hüfte und schritt vor den Göttern und Asuras unter Zurschaustellung ihrer weiblichen Reize auf und ab. Und wieder wurden die Asuras vollkommen in ihren Bann geschlagen. „Soll ich euch den Trank austeilen?“, fragte sie. „Ja!“, schrien die Dämonen wie aus einem Mund. Mohini bat die Götter und Dämonen, sich einander in zwei langen Reihen gegenüberzusetzen und begann, den Göttern aus dem Krug auszuschenken, während sie gleichzeitig weiter mit den Asuras flirtete. Als sie die Reihe der Devas bedient hatte und sich den Asuras zuwendete, war der Krug leer. So wurden die Dämonen um ihren Anteil an der Unsterblichkeit geprellt.

Betrachtung: Die Herausforderung des inneren Aufbruchs

Die innerste Essenz unseres Seins ist Unsterblichkeit, und jeder spirituelle Weg ist auf die eine oder andere Art um das Erlangen von dem, was unvergänglich ist, bemüht. Das Quirlen des Ur-Ozeans geschieht in unserem Inneren und symbolisiert den Wachstumsprozess, die Entwicklung im Yoga, das innere „Umgerührtwerden“, das uns mit den versunkenen Schätzen unserer eigenen spirituellen Wahrheit in Kontakt bringt. Um bei der inneren „Schatzsuche“ erfolgreich zu sein, müssen die Energien unseres Wesens, so gegensätzlich sie auch sein mögen, „alle an einem Strang ziehen“. Die stagnierenden Wasser des Lebens müssen bewegt werden, damit im Bewusstsein neue Impulse auftauchen und überholte Strukturen aufbrechen können. Ein Teil von uns repräsentiert die Devas, die Kräfte der lichtvollen Ausrichtung, die mit den höheren Ebenen des Seins verbunden sind. Ein anderer Teil verkörpert die Ego-Kräfte, die sich selbst in den Mittelpunkt des individuellen Universums stellen und sich von jeder Handlung einen persönlichen Vorteil versprechen. Ein Teil in uns will den Aufbruch in ein größeres Bewusstsein, der andere will von seinen beharrlichen Ansprüchen nicht zurücktreten. Diese beiden Hälften zusammenzuhalten ist eine konzentrierte Arbeit, die viel Ausdauer und Kraft erfordert. Ihre spannungsgeladene Zusammenarbeit mobilisiert Energien, die uns innerlich kräftig „umrühren“. Mit der ungewohnten Bewegung beginnt eine Zeit der inneren Instabilität. Das bestehende Gleichgewicht wird aufgelöst, und der neuen Bewegung fehlt es zuerst noch an Boden. Wir merken, dass vieles nicht mehr so klappt wie gewohnt, und im inneren „Umgerührtwerden“ scheint sich für eine geraume Zeit kein Fortschritt abzuzeichnen. Die neue Grundlage kann nur mit Unterstützung einer bewussten Kraft kommen, die größer ist als beide Hälften unserer Natur. Das ist Vishnu in der Geschichte (der sich mit seiner Hochzeit unmissverständlich zu seiner Shakti-Kraft bekennt). In der progressiven Entwicklung kommen auch die Schwächen und Unzulänglichkeiten ans Tageslicht. Alles, was unter den Teppich des Lebens gekehrt wurde, wird wieder sichtbar. Um den Wachstumsprozess mitgehen zu können, muss all dies bearbeitet werden, und die einzige Macht, die dieses Unterfangen bewerkstelligen kann, ist die Kraft der Transformation. Dies ist der Shiva unserer Geschichte, der das Feld des kommenden Bewusstseins durch den Wandel der alten Unzulänglichkeiten vorbereitet. Erst wenn das geschehen ist, wird der Weg frei für neue Erfahrungen, und im Meer unseres Lebens tauchen neue Möglichkeiten des Bewusstseins auf.

Die Erdgöttin und ihr Weg vom Chaos ins Licht

Gelegentlich wird Lakshmi an der Seite ihres Gemahls in zwei unterschiedlichen Formen dargestellt, die als Sri Devi und Bhuma Devi bezeichnet werden. Sri Devi repräsentiert die mächtige und überreiche Lakshmi-Fülle, die immer bei Vishnu verweilt und aus seinem hohen Bewusstsein heraus auf das Universum einwirkt. Als Bhuma Devi ist Lakshmi die Erdgöttin, eine hinduistische Gaia oder Mutter Erde, die − wie in vielen Kulturen der Welt − mit den Kräften der Materie, der Natur, des Bodens, der Fruchtbarkeit und des Wachstums assoziiert wird. Die Tatsache, dass Bhuma Devi dem Weltenerhalter als weibliche Kraft zur Seite steht, betont, dass die Erde in ihrer Gesamtheit eine Ausdruckskraft des erhaltenden und aufbauenden Prinzips darstellt. Dies erklärt auch, warum Vishnu der Erdgöttin eine innige Fürsorge entgegenbringt und sie bei ihrer evolutiven Reise in das Licht des Bewusstseins helfend begleitet.

Eine kleine, aber bedeutsame Erzählung verdeutlicht, dass Vishnus unterstützender Einfluss tatsächlich nicht nur dem Bewusstsein der Einzelwesen, sondern dem gesamten Erdbewusstsein zugutekommt. Die Mythologie berichtet, dass die Erdgöttin Bhuma Devi von dem Dämon Hiranyakashipu in das Dunkel eines sinnlosen Chaos gerissen wurde, in dem jede Bewusstseinsregung in einer hoffnungslosen Unbewusstheit versank. Der Dämon hatte sich einst vom Schöpfergott Brahma die Gabe der Unsterblichkeit erbeten. Als er genau beschreiben musste, wie sie sich gestalten sollte, zählte er alle Lebewesen auf, die ihn nicht töten konnten. Dabei vergaß er Varaha, den Eber. Aus diesem Grund inkarnierte sich Vishnu in der Gestalt eines Ebers und tauchte zum tiefsten Punkt der lichtlosen Finsternis hinab. Dort besiegte er Hiranyakashipu und hob die Erdgöttin behutsam und mit zärtlicher Zugewandtheit aus dem Chaos ins Licht.

Parvati – die Göttin des Bewusstseins

Parvati ist als Tochter des Himalaya eine Berggöttin, die das hohe Bewusstsein der spirituellen Gipfelerfahrungen darstellt. Sie verkörpert die Energie, die der Bewusstseinsentfaltung zugrundeliegt, und wirkt als göttliche Liebesmacht auf vielfältige Art auf die Welt ein. Als Herrin der Transformation repräsentiert sie die gebündelte Kraft aller umwälzenden und erneuernden Prozesse und ermöglicht eine dynamische Entwicklung des spirituellen Potenzials.

Parvati fächert sich in ein schier unerschöpfliches Spektrum an Shakti-Aspekten auf, denn entsprechend der extremen Persönlichkeit des Weltenzerstörers Shiva vereinen sich auch in ihr große Gegensätze, die sich nicht in einer einzigen Erscheinungsform zum Ausdruck bringen lassen. Sie ist die komplexeste und mächtigste Göttin des Hinduismus, und es lässt sich vermuten, dass in ihre Gestalt die archaischen Dorfgottheiten eines prähistorischen Mutter- und Fruchtbarkeitskultes eingeflossen sind. Die meisten weiblichen Gottheiten des Hinduismus stellen Variationen ihrer segnenden, erhabenen, milden, kämpferischen, Licht bringenden, Schutz gewährenden oder zerstörenden Macht dar.

Parvati wird an der Seite ihres Gemahls hauptsächlich in ihren sanften und wohlwollenden Aspekten gezeigt, die manchmal aber erst in Erscheinung treten, nachdem ihre wilde und ausufernde Seite von Shiva „gezähmt“ wurde. Ihre milden Funktionen fördern materiellen und kulturellen Wohlstand, gebieten über die Kräfte der Fruchtbarkeit und repräsentieren den Schutz und die Aufrechterhaltung der religiösen Ordnung und der weiblichen Pflichten. In ihrer unabhängigen und wilden Kraft übt sie als Wächterin der kosmischen und göttlichen Gesetze eine noch größere Schutzfunktion aus. Sie wird zur gewaltigen und unbezwingbaren Kriegerin der höchsten Wahrheit, die ihre Waffen gegen alles richtet, was sich den göttlichen Prinzipien entgegenstellt. In diesem Zusammenhang repräsentiert sie neben der kriegerischen Durga auch eine Vielzahl an zerstörenden Aspekten. Es gibt Hunderte von lokalen Erscheinungsformen der Parvati, von denen jede eine bestimmte Facette ihres Wesens zum Ausdruck bringt.

Wie in vielen Kulturen der Erde, die einen langen Weg mit der Göttin gegangen sind, wird die weibliche Ur-Kraft auch in der indischen Tradition in drei großen Grundformen anerkannt und als jungfräuliche Göttin, Leben spendende Mutter und Repräsentantin des Todes und der Auflösung verehrt, die alle in Parvati zum Ausdruck kommen. Die meisten ihrer Formen heben den schöpferischen Mutteraspekt hervor und betonen hervorbringende, nährende und Zuflucht gewährende Eigenschaften in den unterschiedlichsten Ausprägungen. In der hinduistischen Mythologie gilt sie zudem als Mutter des elefantenköpfigen Gottes Ganesha, des weisen Beseitigers der Hindernisse und Schwierigkeiten, und seines jugendlichen Bruders Kartikeya, der siegreich die antigöttlichen Mächte bekämpft (auf Abb. 5 im Bildteil sind beide neben Shiva und Parvati abgebildet). Aber auch als dunkle Göttin kommt ihr (besonders in der Gestalt der Kali) eine bedeutende Rolle zu. Im Aspekt der Jungfrau ist sie im mythologischen Gefüge des Hinduismus am wenigsten sichtbar und gleichzeitig von unvergleichlicher Kraft, da sie in dieser Form die Identität mit dem reinen Ideal ihres Wesens darstellt. Die jungfräuliche Göttin ist sozusagen die „Stammzelle“ unter den Shaktis und verkörpert ein freies Potenzial, dem alle Möglichkeiten des Wirkens offenstehen, weil es durch die Bindung an einen männlichen Aspekt nicht auf einen bestimmten Ausdruck festgelegt ist. Damit steht sie für die unabhängige, uneingeschränkte, unerreichbare, unberechenbare und in ihrer Unschuld und ursprünglichen Reinheit nichts und niemandem untergeordnete oder verpflichtete Weiblichkeit. Sie repräsentiert eine ungebrochene und undifferenzierte Kraft, die sich jeder Herausforderung anpassen kann. Gleichzeitig symbolisiert sie die Fähigkeit der Ur-Materie der Prakriti, jede Form hervorzubringen, ohne sich jemals zu erschöpfen oder in ihrem selbstseienden Daseinsgrund zu versiegen.

Mythologie: Die jungfräuliche Göttin Kanyakumari

In einer lange zurückliegenden Zeit herrschte im Süden Indiens der Dämonenkönig Banasura, der das Land – wie alle asurischen Mächte − mit nicht enden wollender Gewalt und schrecklichem Terror in eine entsetzliche Notlage zwang. Hilferufend wandte sich die geschundene Erdgöttin an die Devas, und wieder einmal sahen sich die Götter gezwungen, zum Wohle der Erde und ihrer Bewohner einzugreifen. Noch einmal konnten sie Parvati überzeugen, sich der Situation anzunehmen. Doch diesmal erbaten sie von ihr, dass sie dem Dämon in Gestalt einer Jungfrau gegenübertreten solle, da sie nur dann die Kraft besäße, ihn zu besiegen. Denn in seiner Jugend war Banasura von einem Weisen dazu verflucht worden, durch die Hand einer Frau zu sterben. Um die Wahrscheinlichkeit eines solchen Todes zu verringern, erbat er sich die besondere Gnade aus, dass diese Frau noch Jungfrau sein müsse, und hielt sich, als seine Bitte gewährt wurde, in seiner grenzenlosen Arroganz für unbesiegbar.

Parvati stieg von ihren göttlichen Gefilden herab und nahm in der südlichsten Stadt des Landes als eine wunderschöne, kindliche Prinzessin Gestalt an, die den Namen Kanyakumari erhielt. Wie es auch den menschlichen Wesen bei der Geburt geschieht, konnte sie sich an ihre Herkunft nicht mehr erinnern. Nur hin und wieder stieg eine leise Ahnung vergangener Herrlichkeiten in ihr hoch. Dann sehnte sie sich nach einem Entzücken, das sie nicht benennen konnte. Als sie herangewachsen war und ihr Vater nach einem Ehemann für sie Ausschau hielt, stieg die versunkene Erinnerung schlagartig in ihr empor, und sie verkündete zur großen Überraschung ihrer Eltern, dass sie keinen menschlichen Gatten wünsche, da sie schon seit Urzeiten mit Shiva verheiratet sei und deshalb nur ihn ein weiteres Mal ehelichen würde. Von diesem Tag an verehrte sie ihn in ihrem Herzen und erreichte durch die tiefe Kraft ihrer Hingabe, dass Shiva auf dem heiligen Berg Kailash aus seiner Selbstversenkung erwachte und ihren Ruf wahrnahm. Umgehend machte er sich mit seinem Gefolge auf den langen Weg zum südlichsten Punkt des Landes. Dort angekommen hielt er um ihre Hand an, die ihm freudig gewährt wurde, und die sternenkundigen Weisen legten den Tag ihrer Eheschließung fest. Da der Stand der Gestirne auch über die eine Glück verheißende Stunde der Vermählung gebietet, wurde der Zeitpunkt der Hochzeitszeremonie nach einem genauen Studium der Himmelskörper auf Mitternacht festgelegt. Die Prinzessin machte sich derweil für das große Ereignis bereit. Die Macht der großen Göttin, die seit der Geburt in ihr wirkte, weckte weitere Erinnerungen, und so erhob sich in ihrem Gedächtnis plötzlich das Bild von Shiva als schönem Bräutigam. Sie erkannte staunend, wie viel Sorgfalt der sonst so nachlässige Weltenzerstörer damals darauf verwendet hatte, sie am Tag ihrer lange zurückliegenden Hochzeit mit einer angenehmen Erscheinung zu erfreuen, und sie beschloss, es ihm gleichzutun. Ihr Körper wurde mit wohlriechender, heller Sandelholzpaste gesalbt. Schwarzglänzendes Kajal umrahmte die dunkle Schönheit ihrer Augen und hob ihren Blick als ein lebendiges Versprechen hervor. Tiefroter Kumkum ließ die Glut ihrer Lippen verlangend aufleuchten und wurde auch zum ersten Mal als roter Punkt auf die Stirn, dem Sitz ihres dritten Auges, aufgetragen, als das traditionelle Zeichen der verheirateten Frau. Dann hüllte sie sich in kostbare Seidengewänder, legte edles Geschmeide an und wartete voller Ungeduld am Strand des äußersten Landzipfels auf ihren göttlichen Bräutigam. Dieser befand sich derweil in einem nahegelegenen Tempel und wartete auf den richtigen Zeitpunkt, um mit seinem prunkvoll geschmückten Gefolge zu seiner Braut aufzubrechen.

Doch die Braut und ihr Bräutigam hatten die Rechnung ohne die anderen Gottheiten gemacht, die zutiefst besorgt waren, dass die Shakti-Prinzessin mit der Hochzeit ihre Jungfräulichkeit und damit ihre wichtigste Waffe für den Untergang des Dämons verlieren würde. Lange hielten sie Rat und kamen überein, die Hochzeit mithilfe einer List zu umgehen. Als der Abend schon der Nacht gewichen war und die späte Stunde des Aufbruchs nahte, verwandelte sich der weise Götterbote Narada in einen Hahn. In der Nähe des Tempels, in dem Shiva weilte, versteckte er sich in einem Gebüsch und begann plötzlich so laut zu krähen, als ob der Morgen schon bevorstünde. Shiva erschrak bis ins Mark und dachte, dass er die eine günstige Stunde für die Eheschließung verpasst hätte. Da er seiner Braut in seiner großen Scham nicht unter die Augen treten wollte, reiste er mit seiner Begleiterschar kurzerhand wieder zum Kailash ab. Währenddessen saß die jungfräuliche Prinzessin immer noch am Strand und wartete auf ihn. Die Stunden gingen eine nach der anderen dahin. Erst als der Morgen graute, wurde ihr bewusst, dass ihr Bräutigam in dieser Nacht nicht mehr kommen würde. Enttäuscht und gedemütigt warf sie ihren Hochzeitsschmuck in das Meer und wischte die Brautzeichen von ihrem Körper. Die helle Sandelholzpaste färbte zusammen mit dem schwarzen Kajal und dem roten Kumkum die kleinen Kieselsteine am Strand. Bis auf den heutigen Tag legen diese bunten Steine am Meeresstrand Zeugnis ab von ihrer bitteren Enttäuschung.

Doch die Prinzessin gab die Hoffnung nicht auf. Tag für Tag und Nacht für Nacht stand sie am Ufer des Meeres und erwartete die Ankunft ihres geliebten Bräutigams. Viele Jahre gingen so ins Land. Als die Kunde von ihrer nicht nachlassenden Beharrlichkeit Banasura erreichte, ahnte er die drohende Gefahr und begab sich sofort in den Süden des Landes. Er plante, die Prinzessin zu töten, um auszuschließen, dass sie ihm in ihrer Jungfräulichkeit gefährlich werden konnte. Doch als er nach der langen Reise endlich vor ihr stand, rief ihre große Schönheit ein so starkes Begehren in ihm wach, dass es jeden Gedanken an die tödliche Gefahr in ihm auslöschte. Besessen von dem Wunsch, sie zu besitzen, erklärte er ihr sein Verlangen. Doch die Prinzessin lachte ihn aus. Als der Dämon sie in der Blindheit seiner Begierde weiterhin belästigte, zog sie aus den Falten ihres Gewandes ein verborgenes Schwert und forderte ihn immer noch lachend zum Kampf heraus. Ein erbarmungsloser Zweikampf entbrannte zwischen ihnen, den die Prinzessin in kürzester Zeit für sich entschied. Mit einem gewaltigen Hieb ihres Schwertes trennte sie dem Dämon den Kopf vom Leib. Die Götter, die das Geschehen mit atemloser Spannung verfolgt hatten, feierten jubelnd ihren Sieg. Kanyakumari aber nahm ihre hoffnungsvolle Haltung am Strand wieder ein. Die Jahre gingen ins Land, und allmählich verwandelte sich ihre Gestalt in Stein. So steht sie heute immer noch am Saum des Meeres und wartet auf ihren Bräutigam.

Mythologie: Die Geschichte der Minakshi von Madurai

Vor lange Zeit flehte der Pandya-Herrscher von Madurai die Götter mit aufwendigen Ritualen und kostbaren Gaben um einen männlichen Erben an. Während der Opferzeremonie manifestierte sich im Opferfeuer die Gestalt einer Shakti, die sich langsam in ein wunderschönes Mädchen verwandelte, dessen geschwungene Augenform von allen Anwesenden bewundert wurde. Es war die Göttin Parvati, die sich dem königlichen Paar als künftige Tochter offenbarte. Nicht lange danach wurde die Königin schwanger und gebar ein Mädchen, die in Erinnerung an die Feuervision Minakshi genannt wurde, „die Schöne mit den fischförmigen Augen“. Als seine Frau kein weiteres Kind mehr empfing, sah der Herrscher ein, dass er sich mit einer Tochter als Erben abfinden musste. Er dachte lange über die Situation nach und beschloss, die Prinzessin wie einen Sohn und Thronerben aufzuziehen und sie in die Künste der Kriegsführung und die Pflichten eines Regenten einzuweihen. Unter der Anleitung kundiger Waffenmeister entwickelte sich Minakshi bald zu einer unbezwingbaren Kriegerin, der auf dem Übungsplatz keiner ihrer Gefährten gewachsen war.

Als sie einige Jahre später zur Frau heranreifte, bildeten sich zum Schrecken ihrer Eltern an ihrem Körper drei Brüste aus. Ein weiser Seher, der nach dem Sinn dieses ungewöhnlichen Wachstums gefragt wurde, wandte sich an die Götter und erhielt von ihnen die Antwort, dass die dritte Brust von alleine verschwinden würde, sobald Minakshi ihrem rechtmäßigen Gatten gegenüberstünde. Nachdem die Königstochter das heiratsfähige Alter erreicht hatte, lud ihr Vater eine Reihe von jungen Adeligen ein, unter denen Minakshi dem Brauch entsprechend ihren zukünftigen Gemahl auswählen sollte. Als sie am festgesetzten Tag in ihrer strahlenden Kraft vor die Versammlung der heiratswilligen Kriegersöhne trat, verkündete sie mit knappen Worten, dass sie nur denjenigen zum Mann nehmen würde, der sie im Kampf besiegen könne. Die Brautwerbung wurde daraufhin auf dem Kampfplatz fortgesetzt, und nacheinander traten die edlen Krieger gegen sie an. Doch so sehr sie sich auch bemühten – Minakshi gewann jeden einzelnen Kampf. Und der Tag neigte sich seinem Ende zu, ohne dass sie an ein Eheversprechen gebunden war.

Kurze Zeit später folgte Minakshi ihrem Vater auf den Thron, und bald darauf wurde ihr Reich von benachbarten Herrschern angegriffen, die von einer Frau kein Verständnis für Kriegsführung erwarteten und in ihrer Thronbesteigung eine günstige Gelegenheit sahen, das reiche Land der Pandyas zu erobern. Doch Minakshi belehrte sie eines Besseren. Die eindringenden Armeen trafen auf eine geschickte Feldherrin, die inmitten ihrer Krieger wie eine zornige Göttin auf dem Schlachtfeld stand und in kürzester Zeit sämtliche Angreifer zurückschlug. Innerhalb weniger Wochen hatte sie ihr Reich nicht nur verteidigt, sondern weit über die Grenzen hinaus ausgedehnt. Die unterworfenen Herrscher mussten Tributzahlungen leisten, und so vermehrte sich der Wohlstand ihres Volkes. Minakshis Ruhm verbreitete sich in Windeseile über das Land, und die Schilderungen ihrer Heldentaten machten sie zu einer legendären Gestalt, von der behauptet wurde, dass sie furchtlos jede Herausforderung annahm. Sogar als die Gottheiten sich eines Tages, um ihre Stärke zu testen, mit ihren Angreifern verbündeten, zögerte sie keinen Augenblick und zog entschlossen mit ihrem Heer bis vor Shivas Wohnstatt, wo sie eine Attacke gegen die Heerschar der Ganas gewann.

Als der treue Nandi Shiva davon in Kenntnis setzte, erhob sich dieser von seinem eisigen Sitz. „Die Zeit ist gekommen“, erklärte er mit größter Gelassenheit, „dass ich mir diese siegreiche Kriegerin einmal ansehe.“ Er ergriff seine göttlichen Waffen und ritt ihr langsam auf seinem Stier entgegen. Minakshi sah den seltsamen Krieger von Ferne kommen und erwartete ihn in Kampfposition. Als er näher kam und sie ihn genauer betrachten konnte, lachte sie schallend auf. Denn er schien ihr in seiner abgerissenen und aschebeschmierten Erscheinung kein ernstzunehmender Gegner zu sein. Doch als er ihr schließlich gegenüberstand und sie ihre Waffen schon zum Zweikampf erhoben hatte, bemerkte sie plötzlich, dass ihre dritte Brust verschwunden war – was nur bedeuten konnte, dass sie ihrem zukünftigen Gatten gegenüberstand. Sofort legte sie die Waffen nieder und begrüßte ihn voller Freundlichkeit (siehe Abb. 15 im Bildteil).

Abb.15: Hochzeit der Minakshi – Wandmalerei, Minakshi Tempel, Madurai

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„Kehr zurück in dein Reich, edle Parvati“, sagte Shiva zu ihr. „In wenigen Tagen folge ich dir nach Madurai, um noch einmal den Bund der Ehe mit dir zu schließen.“ Minakshi sammelte umgehend ihr Heer um sich und begab sich in ihre Hauptstadt zurück. In großer Eile wurde alles für die bevorstehende Hochzeit vorbereitet. Blütengirlanden wurden gewunden, kostbare Stoffe ausgebreitet und erlesene Geschenke zusammengestellt. Die Hochzeitshallen wurden geschmückt und köstliche Speisen zubereitet. Als Shiva zur festgesetzten Zeit auf dem Nandi in Madurai einritt, erstaunte er alle Anwesenden mit der unerwarteten Schönheit seiner Gestalt. Denn für diesen Tag kam er als Sundaram, als schöner Bräutigam. Seine helle Haut war von der Ascheschicht befreit und duftete nach kostbarem Sandelöl, seine Hüften waren in seidene Tücher gehüllt, die Haltung seines schlanken Körpers war anmutig und seine Haarflechten lagen sorgfältig geordnet um sein Haupt. Begleitet wurde er von seinen Ganas und einer großen Schar weiterer Gottheiten, von denen Brahma die Aufgabe des Priesters übernahm. Vishnu übte die Rolle des Brautvaters aus und gab Minakshis Hand zur Ehe in die Hand ihres schönen Bräutigams. Nach dem Hochzeitsfest blieb Shiva in Madurai und regierte für einige Zeit zusammen mit seiner Gemahlin das Land. Aber dann rief das Heimweh ihn mit Macht zum Kailash zurück, und er reiste zusammen mit Minakshi zu seiner eisigen Wohnstatt zurück. Damit ihr Volk nicht vollkommen auf seine Königin verzichten musste, ließ er aus grünem Stein ein Abbild von ihr anfertigen, das in Madurai verblieb und bis auf den heutigen Tag im großen Tempel der Stadt als eine gütige Form der Parvati verehrt wird.

Mythologische Flussgöttinnen – Indiens fließende Shaktis

Auch Flüsse werden im hinduistischen Kulturkreis aufgrund ihres bewegten Wesens als Shakti-Kräfte angesehen. Eine besondere Verehrung wird den Saptasindhavas entgegengebracht, den sieben heiligen Flüssen Indiens. Zu ihnen zählen Ganga (Ganges), Yamuna, Sindhu (Indus), Narmada, Godavari, Kaveri und der unterirdische mythologische Fluss Sarasvati. Die großen Ströme bringen Nahrung, Leben und Fruchtbarkeit zu den Menschen. Ihr Leben spendendes Wasser formt die Basis des menschlichen Daseins und trägt auf vielen Ebenen zur Mehrung und Entfaltung bei. Zusammen mit der Sonnenkraft ermöglicht es das Wachstum der Lebensformen, die dem Menschen als Nahrung dienen. Die Flussgöttinnen sind somit ein elementarer Ausdruck für die nährende und erhaltende Kraft in der Schöpfung. Darüber hinaus gilt ihr fließendes Wasser als eine Macht der spirituellen Reinigung. Im höheren Sinne symbolisieren die Flussgottheiten auch den Zufluss der geistigen Nahrung und die fortschreitende Bewegung des inneren Wachstums. Denn wie die Flüsse zum Meer, so strebt das Bewusstsein in der spirituellen Entwicklung nach der Einswerdung mit dem Brahman.

Es war entlang der fruchtbaren Uferstreifen des versiegten, mythologischen Flusses Sarasvati, dass die nomadischen Völker des alten Indien in einer Region des heutigen Pakistan sesshaft wurden und ihre reiche Kultur entwickelten. Die fließende Sarasvati repräsentiert die geistigen und materiellen Errungenschaften dieser Zivilisation. So wurde schon früh das aufblühende Wissen mit dem Fluss verbunden und Lernen, Lehren und Weisheit mit den Wasserläufen assoziiert. Zahlreiche Erzählungen berichten, dass große Meister ihre Einsiedeleien am Ufer eines Flusses errichteten und dort ihre Schüler unterwiesen.

Auch in der indischen Mythologie ist das Wesen der fließenden Shaktis ein beliebtes Thema. So wird etwa erzählt, dass Parvati mit ihrem Gemahl nicht allein lebt. Sie teilt ihn mit der Flussgöttin Ganga, die in Shivas aufgetürmter Haarkrone wohnt. Das Ramayana-Epos berichtet dazu, dass in grauer Vorzeit ein Herrscher namens Bhagiratha nach seiner Thronbesteigung gelobte, das Land erst zu regieren, wenn Ganga die Asche seiner Vorfahren mit ihrem heiligen Wasser benetzt und dadurch von einer schweren Verfehlung gereinigt hätte. Er übergab das Reich seinen Ministern und zog sich in die Einsamkeit des Himalaya zurück, wo ihm nach langer spiritueller Praxis der Weltenschöpfer Brahma die Erfüllung seines Wunsches gewährte und ihm zusicherte, dass er Ganga aus den himmlischen Gefilden auf die Erde herabgießen werde. Gleichzeitig warnte er Bhagiratha vor ihren gewaltigen Wassern, unter deren ungemindertem Aufprall die Erde zerbersten könne. Ohne zu zögern unterzog sich Bhagiratha ein zweites Mal einer strengen spirituellen Disziplin und betete diesmal zu Shiva, dass er ihm beistehen möge. Jahrelang stand er in der Yoga-Haltung des Baumes auf einem Bein, die ausgestreckten Arme mit aneinandergelegten Handflächen der hohen Gottheit entgegengestreckt, bis sein ganzes Wesen zu einem flammenden Flehen wurde. Schließlich gewährte Shiva ihm seine Bitte. Die Göttin Ganga stürzte in zorniger Wildheit von ihrer himmlischen Ebene herab und verfing sich in dem Labyrinth seiner wildverschlungenen Haarlocken. Shiva leitete die Flussgöttin von seinem Haupt in einem sanfteren Strahl auf die Erde herab, wo Götter, Menschen, Tiere und die Wesen der Unterwelt ihr entgegenströmten und ihr Heil bringendes Wasser freudig begrüßten. Bhagiratha lief ihr eilig voraus und führte sie in die dunklen Bereiche der Unterwelt, wo sie die Seelen seiner Verwandten von der Verfehlung befreite. Seither durchfließt die Ganga als heiliger Strom das Land und gilt den Menschen als eine lebendige Kraft, die ihnen den Weg zur Unsterblichkeit öffnen kann.

Aber auch um andere Flussgöttinnen ranken sich alte Legenden, wie um die Yamuna, den heiligen Fluss, an dessen Ufern die Gottheit Krishna aufwuchs. An ihren Wassern traf er sich mit den Gopis, den jungen Hirtinnen, zum Liebesspiel und besiegte den mächtigen Schlangendämon Kalya mühelos im Tanz. Schon in den Veden wird die Yamuna unter dem Namen Yami als Leben spendende Tochter des Sonnengottes Surya und als Zwillingsschwester von Yama, dem Gott des Todes, erwähnt. Yami und Yama sind der Überlieferung zufolge das erste Menschenpaar.

Mit Shiva eng verbunden ist die Flussgöttin Narmada. Sie gilt als Tochter des asketischen Gottes und entstand der Mythologie zufolge, als er sich in einem Zustand tiefster Meditation befand. In der brennenden Hitze seiner immensen spirituellen Konzentration rann ihm der Schweiß von der Stirn, und aus einem glänzenden Schweißtropfen, der zu Boden fiel, wurde die Göttin Narmada geboren, die ein Sinnbild für die transformierende Macht des erhabenen Gottes darstellt.