Du nimmst dieses vertraute, dumpfe Gefühl in deinem Bauchraum wahr – als ob etwas nicht in Ordnung ist, auch wenn du es nicht genau benennen kannst. Du beginnst, in deinem Leben Inventur zu machen. Du überprüfst in Gedanken deine Arbeit, dein Gehalt, deine Freunde, was bestimmte Menschen aus dieser oder jener Zeit deines Lebens wohl heute von dir denken würden, dein schönes neues Profilfoto auf Facebook. Alle Teile bilden zusammengenommen ein Bild, das dieses unbehagliche Gefühl eigentlich widerlegen sollte.
Und trotzdem.
Du gehst mit diesem lähmenden Schmerz durchs Leben. Er kann stark anschwellen und dann wieder abflauen. Ablenkung gibt es durch die Nachrichten, deinen neuen Job, Twitter oder irgendetwas anderes, was dir zuzeiten sogar noch ein wenig mehr Angst einflößt.
So geht es weiter, bis dir eines Tages bewusst wird, dass du von einem Schmerz getrieben, ja verfolgt wirst, dessen Ursprung du nicht herausfinden kannst. Nach und nach wirst du von ihm zermürbt. Es wird immer schwerer, morgens aufzustehen, immer schwerer, aus dem Haus zu gehen. Es ist einfacher, zu trinken und immer weiter zu trinken. Oder vielleicht auch immer weiter zu essen, shoppen zu gehen oder Fotos von dir auf Instagram zu posten. Es gibt die verschiedensten schlechten Angewohnheiten.
Je mehr du dich durch dieses schwache, beängstigende Gefühl verwirren lässt, das du nicht zuordnen kannst, desto schlimmer wird es. Und je schlimmer es wird, desto mehr bist du davon überzeugt, dass es dich vor etwas warnen soll, was kommen wird. Du beginnst, deinen Gefühlen Gedanken folgen zu lassen – Angst-Geschichten.
Du wirst feststellen, dass diese Geschichten unlogisch sind. Du reagierst über. Du bist überzeugt, dass deine Welt kurz vor einem Ende steht und dass dieses »Bauchgefühl«, von dem man dir indirekt so lange vermittelt hat, du solltest ihm vertrauen, dich einfach warnen will, damit du Schutz suchst.
Was du dabei nicht erkennen kannst: Nichts ist wirklich im Argen.
Tatsächlich ist alles in Ordnung. Genau deshalb fühlst du dich ja endlich sicher genug, das zu fühlen, was du wirklich fühlst. Hör auf mit den Projektionen. Hör auf, Geschichten zu erzählen. Diese dumpfen, beunruhigenden Gefühle betreffen nicht die Zukunft – sie betreffen die Vergangenheit.
Du hast sie die ganze Zeit mit dir herumgetragen.
Wenn wir unsere emotionalen Erfahrungen nicht vollständig verarbeiten, behalten wir sie bei uns wie das Essen, das wir nicht in unseren Stoffwechsel überführen können, oder wie Jacken und Hosen, die wir zwar nicht mehr brauchen, es aber auch nicht schaffen, sie zusammenzupacken und zum Altkleidercontainer zu bringen. Manchmal bergen sie in sich Trost, Weisheit und Führung. Manchmal sind sie Überbleibsel eines Kapitels, das schon lange abgeschlossen ist.
In beiden Fällen handelt es sich um Hinweise auf die Bereiche, in denen wir noch nicht frei sind.
Wenn du zur Heilung bereit bist, wirst du dich an einem sehr sicheren Ort hinlegen und dich auf diese Gefühle der Anspannung konzentrieren müssen. Lass dich von ihnen dorthin führen, wo sie ihren Ursprung haben. Du wirst dann Situationen sehen, die du vergessen hattest, und Gefühle spüren, an die du dich nicht mehr erinnern kannst. Die Vergangenheit wird in blitzhaften Momenten und Bildern vor dir auftauchen. Langsam, mit der Zeit, wird dir bewusst, was wirklich dahintersteckt – nämlich der Teil von dir, der sich abtrennen und eine Mauer um dein Herz bauen musste, weil sich dahinter eine Wunde befand, von der du nicht wusstest, wie sie hätte heilen können.
Wenn du bereit bist, wirst du das hinter dir lassen.
Du wirst dann wissen, dass die Wut, die Trauer und die Angst eine Art Schleier sind, ein Trigger, der dich aufwecken will, nicht lahmlegen.
Du wirst weinen müssen – um die 13-Jährige, deren Herz gebrochen wurde, um den 16-Jährigen, dessen Freunde gemein zu ihm waren. Du wirst das betrauern müssen, was du verloren hast, und auch die Zeit, als es passierte. Du wirst in die Vergangenheit zurückgehen, dich als erwachsene Person in diese Erinnerungen begeben und deinem kindlichen Ich sagen müssen, was es damals hätte sagen sollen, als es hätte sprechen müssen, aber die Worte oder den Mut nicht fand. Das wirst du tun müssen, immer und immer wieder, bis du langsam bemerkst, wie du leichter wirst. Du befreist dich. Auch wenn du die Zeit nicht zurückdrehen kannst, veränderst du doch in gewisser Weise deine Geschichte.
Du wirst schwitzen müssen. Du wirst deinen Körper dehnen und bewegen und genau darauf achten müssen, wo du angespannt bist und was sich unangenehm anfühlt, wo sich etwas angestaut hat und wo du den ganzen Schmerz speicherst.
Du wirst dich schütteln müssen. Du wirst dich auf den Boden legen und im wahrsten Sinne des Wortes alles herausschütteln müssen, was du festhältst. Du wirst es zulassen müssen, dich klein und verletzlich zu fühlen – dies sind schlussendlich die beiden Gefühle, gegen die wir uns am meisten wappnen.
Du wirst kapitulieren müssen. Durch all die Tränen, den Schweiß, das Schütteln und Rütteln wirst du aufhören, dagegen anzukämpfen. Du wirst dein vergangenes Leben so sehen, wie es war, sodass du dein jetziges Leben so sehen kannst, wie es ist: voller Hoffnung und Möglichkeiten.
Schließlich wirst du aufstehen, und dein Leben beginnt sich zu verändern.
Du wirst dich aus Beziehungen verabschieden und neue beginnen. Du wirst jemanden anrufen, mit dem du lange nicht gesprochen hast. Du wirst plötzlich Lust haben, einen neuen Kurs zu besuchen oder eine E-Mail für deine Kündigung aufzusetzen. Du wirst beginnen, zu schreiben, zu lesen, draußen zu sitzen, Wasser zu trinken und dankbar zu sein für diese einfachen, nährenden Dinge. Du wirst ein bisschen besser schlafen, und allmählich wirst du zu dir zurückkehren. Du wirst dich auf das emotionale Feuer einlassen und alles verbrennen, was dein Innerstes davon abhält, wirklich in der Welt zu sein.
Dann wirst du wissen: Wenn du jemanden verlierst, musst du weinen.
Wenn du frustriert bist, musst du frustriert sein.
Wenn du etwas sagen möchtest, musst du sprechen.
Während des Heilungsprozesses lernst du nicht einfach nur, zurückzugehen und das zu reparieren, was du nicht geschafft hast, sondern du lernst auch, wie du nach vorne drängst, wie du bewusster und stärker in der Gegenwart lebst, wie du deine Erfahrungen »in Echtzeit« verarbeitest. Je mehr du das tust, desto wacher wirst du werden, und du wirst beginnen, dich dem Leben zu stellen. Du beginnst, wieder zu sprechen, du beginnst, wieder zu fühlen, du beginnst, wieder zu sein.
Wenn du dich stark genug fühlst, um dir anzusehen, was nicht richtig ist, beginnst du, deine Seele ans Licht zu holen.
Sie war immer da. Sie war nur unter Jahren und Schichten von Identitäten, Darstellungsweisen, Überzeugungen und Vorstellungen verborgen, die sich wie ein Schutzpanzer um dich gelegt hatten.
Du bist nie verloren gegangen.
Du warst nur versteckt.
Die ganze Zeit, in der du dich so unwohl gefühlt hast, hat dein innerstes Selbst nur versucht, zu dir zu sprechen, dich an seine Existenz zu erinnern.
Es war nur dein Innerstes, das gesagt hat: Geh weiter. Es gibt mehr im Leben als das hier.