Wachstum ist schwer.
Manchmal macht es uns richtig Angst.
Es erfordert, einen ehrlichen Blick auf uns selbst zu werfen, Abstand von dem zu nehmen, was wir bisher wussten, und unsere Fühler in die Ungewissheit auszustrecken, ohne zu wissen, wann wir jemals zum nächsten Schritt finden werden.
Das bedeutet, dass wir so bleiben, wie wir immer gewesen sind, wenn wir uns nicht bewusst entscheiden, etwas anderes zu werden. Sicher entwickelt sich jeder Mensch mit der Zeit und passt sich an, doch wenn du dies nicht ganz bewusst tust, wirst du am Ende zum Produkt der Menschen und der Umstände in deinem Umfeld – im Gegensatz zu einem authentischen Ausdruck dessen, wer du wirklich bist.
Es ist eine notwendige Aufgabe zu wachsen.
Die einzige Frage ist, wann wir es tun und wie lange wir brauchen, bis wir erkennen, dass wir uns häufig einigen unserer Instinkte widersetzen, um eine bessere Situation für uns selbst zu erschaffen.
Hier beschreibe ich einige unserer unbewussten Ängste, die verhindern, dass wir all das werden, wozu wir in der Lage sind, und wie sich diese Ängste möglicherweise auf dich auswirken.
1 Es ist für dich behaglich geworden, dich unbehaglich zu fühlen.
Genauso wie ein Zuviel von einem übertrieben süßen Dessert die Geschmacksknospen überfordern und reizlos werden kann, lehnen wir emotionale Höhen ab, wenn wir diese nicht gewohnt sind.
Gay Hendricks, Autor von The Big Leap, nennt dies: an deine »Obergrenze« stoßen.
Seiner Theorie zufolge haben die Menschen nur eine bestimmte Toleranz für das Glücksempfinden, und wenn unsere Emotionen diese Grenze überschreiten, beginnen wir unbewusst, uns selbst zu sabotieren, um uns wieder zurück zu einer als angenehm empfundenen »Baseline« zu bringen.
Jede Veränderung, egal wie positiv, wird unangenehm sein, bis sie zu etwas Vertrautem wird.
Du brauchst dein System nicht mit »Positivität« zu fluten, um dies zu überwinden.
Es ist im Grunde ein Prozess der Erdung, des Ausdrucks von Dankbarkeit und der Veränderung deines Glaubenssystems hin zu der Überzeugung, dass du dich gut fühlen darfst, dass du Gutes in deinem Leben erschaffen darfst und dass du all die schönen Dinge verdienst, die Blüten treiben – du brauchst sie nicht immer wieder aus der Erde zu reißen.
2 Du kennst noch nicht alle deine Optionen.
Der menschliche Verstand kann nichts in die Zukunft projizieren, was er noch nicht aus der Erfahrung kennt.
Wenn du dir eine mögliche Entwicklung in deinem Leben vorstellst, so wie du es dir wünschst, machst du dir in Wirklichkeit ein Bild von der Lösung für eine vergangene Erfahrung – von einem Gefühl, das du früher schon einmal hattest und das du gerne wieder haben möchtest. Was du dabei nicht mit einbeziehen kannst, sind die Dinge, an die du gar nicht denkst, weil du nicht einmal weißt, dass du sie gerne hättest.
Wahres Wachstum erfordert echte Forschungsarbeit, eine Zeit des »trial and error«. Das setzt voraus, dass du zuerst einmal zugibst, dass du vielleicht noch nicht weißt, was du möchtest.
Diese Ungewissheit ist eine beunruhigende Erfahrung, sodass die meisten Menschen sie vollständig vermeiden wollen. Sie betäuben sich aus Angst vor dem Unbekannten mit Tätigkeiten, die sie gedanklich völlig beanspruchen, und nehmen gar nicht wahr, dass sie keine Antworten finden können, solange sie nicht zulassen, das Unbekannte zu akzeptieren. Statt eine Glückserfahrung mühsam zu konstruieren, finden wir sie vielleicht in dem Moment, in dem wir wertschätzen, was wir bereits haben – statt zu planen, wie wir das erreichen, was wir nicht haben.
Hierdurch nähern wir uns dem, was uns tatsächlich besonders guttut, nicht dem, was am besten erscheint oder von außen gesehen das Richtige für uns sein »sollte«.
3 Du glaubst, dass negative Ergebnisse wahrscheinlicher sind als positive.
Wenn du dir all die möglichen Entwicklungen für dein Leben vorstellst, erscheinen die negativen wahrscheinlich realistischer als die positiven. Der Grund ist der sogenannte Negativity Bias, eine Negativ-Tendenz, die bedeutet, dass wir dazu neigen zu glauben, das Schlechte sei realer als das Gute – weil wir davor mehr Angst haben.
Weil das eine als eine Drohung erscheint und das andere nicht, wendet sich unsere Aufmerksamkeit natürlicherweise genau dem zu, von dem wir das Gefühl haben, wir sollten es mehr im Bewusstsein behalten. Allerdings hat dies den gegenteiligen Effekt von Selbstschutz. Wenn wir zu sehr an unsere Negativ-Tendenz glauben, setzen wir am Ende Veränderungen Widerstand entgegen, ergreifen weniger Gelegenheiten und finden uns in eine allgemein weniger optimistische Perspektive auf das Leben ein.
Die Negativ-Tendenz schränkt uns nicht deshalb ein, weil wir nicht realistisch sein können, sondern weil wir nicht verstehen, dass positive Resultate oft wahrscheinlicher sind als Worst-Case-Szenarien; sie triggern uns emotional nur nicht so stark.
4 Wenn du viel Zeit in etwas investiert hast, bleibst du dem treu, selbst wenn es auf lange Sicht nicht das Richtige für dich ist.
Diese Befangenheit verhindert zu sehen, dass das Schiff ohnehin dem Untergang geweiht ist und jedes zusätzliche Quäntchen Mühe, Zeit oder Ressourcen, das wir an Bord investieren, uns am Ende verloren geht. Es ist sinnlos, das Ganze nur deshalb retten zu wollen, weil wir so lange daran geglaubt haben. Manchmal sind selbst die Dinge, für die wir alles getan haben, langfristig einfach nicht das Beste für uns.
Es ist schwer loszulassen, aber noch schwerer, es nicht zu tun.
5 Du räumst dem Priorität ein, was du zuerst geglaubt hast.
Das Gehirn hat die Neigung, alles, was wir zuerst getan, gewusst oder gelernt haben, zu priorisieren und überzubewerten.
Das macht es schwer für uns, den Kurs zu wechseln.
Deine allererste Betrachtung und Einschätzung deiner Karriereaussichten haben in dir verankert, was du heute für möglich hältst. In Bezug auf deine allererste Bekanntschaft mit bestimmten geografischen Bereichen oder Menschentypen verhält es sich wahrscheinlich genauso.
Was auch immer du als Erstes erfahren hast oder woran du ursprünglich geglaubt hast, wird in deinem Gehirn Vorrang bekommen. Es ist wichtig, dass du dir dessen bewusst bist, denn wenn sich eine bessere Gelegenheit ergibt, musst du in der Lage sein, sie als solche zu erkennen.
6 Du gibst eine langfristige Einschätzung aufgrund einer kurzfristigen Erfahrung ab.
Wenn du behauptest, du würdest niemals wieder Liebe finden, weil du gerade eine Trennung durchgemacht hast, oder wenn du dich generell für hässlich hältst, weil dir dein Outfit heute nicht gefällt, oder wenn du in dem Gefühl versinkst, du würdest niemals deinen Weg im Leben finden, weil du dich gerade verloren fühlst, dann nimmst du eine Extrapolation vor.
Eine Extrapolation ist die Projektion einer einzelnen Erfahrung auf eine dauerhafte Annahme über das Leben.
»Dieser Moment ist nicht dein Leben, er ist ein Moment in deinem Leben.« – Ryan Holiday
Du erkennst dabei nicht, dass die negative Erfahrung, die du gerade durchläufst, nicht bedeutet, dass sie auf die Art und Weise, die du befürchtest, den Rest deines Lebens bestimmen wird.
Was du eigentlich meinst: Du kannst keinen Ausweg aus den gegenwärtigen Umständen sehen, weil du sie in gewisser Weise nicht vollständig kontrollierst.
Doch statt zu versuchen, aufgrund deiner momentanen Situation ein endgültiges Urteil darüber zu fällen, wie das Leben ist oder nicht, wie es sein wird oder nicht, versuch diese Situation als das zu sehen, was sie tatsächlich ist: eine Erfahrung, die du gerade durchmachst und die am Ende verblassen wird, so wie alle anderen auch.
7 Du nutzt Selbstreflexion mehr als Vermeidungsstrategie und weniger als eine Möglichkeit, dein Leben wirklich zu verändern.
Wenn wir in unserem Leben etwas Neues beginnen, geschieht dies fast immer aufgrund einer Erkenntnis über das Leben oder einer Erkenntnis über uns selbst.
Wir erkennen, dass wir unseren Kurs korrigieren müssen, wir haben einen Aha-Moment über den Menschen, der wir sein möchten, wir lassen das los, was uns zurückhält, wir finden Mut, und wir schlagen unseren neuen Weg ein.
An diesem Punkt fallen viele Menschen wieder in ein tiefes Loch.
Auch wenn viele denken, der Prozess des Loslassens der Vergangenheit und des Einlassens auf die Zukunft sei beängstigend, so ist er doch auch befreiend. Tatsächlich so befreiend, dass das Hochgefühl der Offenbarungen und lebensverändernden Erkenntnisse manchmal ihre konkrete Umsetzung in den Hintergrund drängt.
Es ist nämlich so, dass – egal, was du im Leben tun oder sein willst, was du gut und auch langfristig machen möchtest – alles an irgendeinem Punkt langweilig und eintönig wird. So ist manchmal einfach die Lebensrealität. Wenn du auch zweifellos mehr Frieden und Erfüllung darin finden wirst, das zu tun, was wirklich das Richtige für dich ist, wirst du doch auch schlechte Tage haben, Zeiten des Burn-outs, du wirst dich selbst in manchen Momenten hinterfragen müssen, und dir wird klar werden, dass der Entschluss, dich vollständig aus dem Gewohnten zu reißen und neu anzufangen, weitaus aufregender und spannender war, als tagein, tagaus den einmal eingeschlagenen Pfad zu verfolgen.