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Der Gedanke ans Schloss beruhigt mich. Am Schloss ist ein Schloss, allerdings nur in der ersten Woche. Niemand kann dann rein. Ich könnte mir vorstellen, dort zu tanzen. Weil alle kaputt von draußen reinkommen, gibt sich niemand mehr Mühe, kein Händchengeben, keine kohärenten Gespräche. Es ist himmlisch. Einmal die Woche kommt der Süßigkeitentraktor, so stelle ich es mir vor. Eine Pflegerin legt ihre kühle Hand auf meine Stirn und druckt nebenbei Aufkleber mit meinem Namen und meiner Menschennummer aus, die sie auf all meinen Besitz klebt. Sie gießen Menschenkitt in unsere Köpfe und Herzen, bis wir wieder wie neu sind. Sonntags geschieht dann nichts. Wir müssen aushärten.

 

Auf dem Gelände gibt es viele Sitzgelegenheiten, die von erschlafften Menschen, die ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft wiederherstellen müssen, besessen sind. Im Vorbeigehen höre ich Gesprächsfetzen (Ich habe so wahnsinnige Angst vor Kritik. – Wirst du denn oft kritisiert? – Nee, nie.), Pferde gibt es auch, sie unterliegen der Schweigepflicht.

 

Der Sessel im Gesprächszimmer ist so unbequem, dass es eigentlich nur Absicht sein kann. Ein Balken drückt in meine Lendenwirbelsäule, während Doktor Soundso über Stuhlgang spricht, als hätten den alle Menschen. Dann fragt er mich, ob ich Gewaltphantasien kenne. Ob ich Angst habe zu sterben. Ob ich schon mal über den Tod nachgedacht habe. Nein, nie. Wir reden über Harry Potter, was dann auch später in meiner Akte steht.

 

Die elektronisch verstellbaren Betten verfügen über kleine Haken, die die Matratzen auch ohne Menschengewicht bei Aufrichtung des Kopf- oder Fußteils in Position halten. Die Technik braucht den Menschen nicht mehr.

 

Wir sitzen in einem Kreis auf Rattanstühlen und schweigen, bis die Gefühle kommen. Das ist so gewollt. Der Therapeut muss keine Gefühle bekommen, er hat ja sicher schon welche, draußen, zu Hause, sonst könnte er diesen Job nicht machen. Ich bekomme Kopfschmerzen, das zählt auch. Danach rollen wir uns mit Igelbällen ab. Einige erhalten den Auftrag, draußen nach Zweigen zu suchen. Das ist, damit sie sich nichts antun. Wir bauen daraus ein Nest für unsere Königin (mich). Ich soll den größten Baum auf dem Klinikgelände bestimmen. Dort werde ich brüten und auf weitere Instruktionen warten. Die Lautsprecheranlagen auf den Fluren summen und knacken. Ich weiß Bescheid.

 

Wir stehen einander im Mehrzweckraum mit geschlossenen Augen paarweise gegenüber. Ich schwebe eine Handbreit über dem Boden und bin froh, als wir die Augen wieder öffnen dürfen, da Gravitation bei mir nicht wirkt, wenn ich zu lange allein bin. Dann Blickkontakt, bis mein Kopf anfängt wegzurieseln. Ich rinne meinen Rücken hinab und durch meine Finger in meine Hosentaschen und Schuhe. Als L. wegsieht, kann ich ein paar Hände voll Kopf zurückschaufeln. Es ist beides kein idealer Zustand.

 

Wir spielen: Das Haus brennt und nur ich bemerke es. Ich muss die anderen überzeugen, sich mit mir in Sicherheit zu bringen. Die anderen haben die Aufgabe, nicht auf mich zu hören. Wir verbrennen alle, aber langsam, wegen der Tränen.

 

Der Versuch, zurückzuverfolgen, wo alles anfing und was folglich alles rückgängig gemacht werden müsste. Zu spät. Was bleibt: Zukunft verhindern, so bald wie möglich. O. k., nur noch dieses eine Lied.

 

Am Ende dann hat ein Arzt mit seinem Daumen über meine Armbeuge gestrichen, wo die Haut ganz dünn ist und darunter sollten blaue Venen sein, waren aber nicht, das hat er schon vorher gesehen, aber trotzdem noch diese Geste ohne Handschuhe, die mich getröstet hat, weil es sich so anfühlte, als sei es nicht meine Schuld.