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Ich traf Kurt Kolonkos Mutter im Herbst 1947. Wie ich sie fand? Ganz einfach. Kurt hatte mir von der Stadt erzählt, in der er geboren war, und von der Werkstatt, die seine Familie dort hatte. Sein Vater hatte als Schmied in einem Kohlenbergwerk angefangen. Als er heiratete, investierte er die Mitgift in eine eigene Werkstatt: zwei alte Drehbänke und Schlosserwerkzeug, als Rettungsring, falls er von den Dreherarbeiten allein nicht leben konnte. Aber die Zeiten waren für Dreher ebenso schwer wie für Schlosser. Das Geschäft ging schlecht; die Familie konnte sich kaum ernähren. Der Vater ertränkte seinen Kummer meist in Alkohol, doch das Trinken löste seine Probleme nicht, linderte nicht einmal die seelische Not. Schließlich wurde er in eine Nervenheilanstalt eingeliefert und starb dort ein Jahr vor Ausbruch des Krieges. Kurt erinnerte sich, dass seine Mutter meinte, die Sorgen hätten ihn ins Grab gebracht. Die beiden Zwillingsbrüder, Kurt und Henryk, übernahmen die Werkstatt. Auch sie hatten keinen Erfolg. Kurt verbrachte seine meiste Zeit im Boxring und heimste Anerkennung und viele Pokale ein, aber die Kasse blieb leer. Eines Abends, so erzählte er mir, setzte seine Mutter ihm einen Teller mit Medaillen vor. »Dies hast du verdient, dies wirst du essen«, sagte sie ihm. Nicht er zerbrach den Teller, sondern Henryk, der sich in seinem Jähzorn oft mit den Kunden stritt, bis sie dem Familienunternehmen fernblieben. Es dauerte nicht lange, bis die Gläubiger vors Gericht gingen und der Gerichtsvollzieher die Geräte beschlagnahmte. Dann brach der Krieg aus, Henryk wurde zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt und Kurt von der Gestapo verhaftet. Was ihm zur Last gelegt wurde? Dass er in die Fußstapfen seines Vaters getreten war und zu trinken begonnen hatte. Es gab keine Boxringe, kein Einkommen mehr, es waren nur noch die Kneipen geblieben, wo man Alkohol auf Kredit bekommen konnte. Wenn der Alkoholpegel in seinem Blut zwei Promille erreicht hatte, schrumpften seine Probleme, und seine Kraft wuchs. Wehe dem, der ihm im Wege stand. Kurt war betrunken, als er prahlte, jeden Fritz – so nannte man die Deutschen in seiner Stadt – mit einem linken Haken zu Boden schlagen zu können, sogar Hitler persönlich. Die Wände hatten Ohren, seine Prahlerei wurde denen mitgeteilt, denen man solche Sachen erzählte, und noch in der gleichen Nacht schleppten sie ihn zum Verhör. Seine Mutter stand schluchzend vor dem Gestapogebäude, ein örtlicher Rechtsanwalt präsentierte Bescheinigungen über die gute Arbeit, die sein Bruder in Deutschland verrichtete, aber nichts half. Es gab kein Lebenszeichen von Kurt. Als sie einen elektrischen Stab in seinen Anus steckten, gab er zu, einer Untergrundbewegung anzugehören, die nicht existierte und nie existiert hatte. Das Militärgericht befand ihn für schuldig, feindliche Propaganda betrieben zu haben, und Ende 1941 kam er ins Konzentrationslager, klassifiziert als politischer Gefangener, der mit besonderer Strenge zu behandeln sei. Das erste Jahr verbrachte er in einem Strafkommando, dessen Härte nur wenige überlebten.

Als der Mangel an Arbeitskräften in der Rüstungsindustrie immer größere Ausmaße annahm, verziehen sie ihm den Kinnhaken für Hitler und überführten ihn in die »Eintrachthütte«.

»Wenn du mich nach dem Krieg besuchen willst«, sagte er einmal, »gehe aus dem Bahnhof in die Hauptstraße, biege nach links ab, gehe etwa fünfhundert Meter und biege wieder links ein. An der Ecke wirst du ein Straßenschild sehen, auf dem ›Enge Gasse‹ steht. Sie ist wie ihr Name. Es ist ziemlich schmutzig dort, die offenen Mülltonnen versperren dir auf den Bürgersteigen den Weg, aber die Hauptsache ist, dass ich in diesem Viertel geboren und aufgewachsen bin. Vielleicht werden sie nach dem Krieg den Müll wegschaffen, aber selbst wenn es sauber sein sollte, wird es dir nicht schwerfallen, unsere Werkstatt zu finden. Du musst dir nur merken: Enge Gasse Nummer 3.«

Ich fand die Werkstatt leicht. Fünf ausgetretene Stufen führten vom Bürgersteig in den Keller des alten Hauses. Die Tür war verschlossen. Ich suchte die Klingel. Es gab keine. Einst war eine Glastür dagewesen, doch die Scheiben waren zertrümmert und durch Sperrholz ersetzt worden. Jemand hatte »Billige Dreharbeiten« darauf geschmiert. Ich klopfte. Keine Antwort. Ich klopfte lauter. Von innen sagte eine Frauenstimme: »Es ist offen.« Ich stieß gegen die Tür. »Vorsicht, da ist noch eine Stufe«, sagte wieder die Frau. Der Raum war düster. Nur über der Drehbank brannte eine Glühbirne. Weiter hinten im Keller stand ein Mann. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, glaubte jedoch, Kurt erkannt zu haben.

»Kurt?«, fragte ich zögernd.

Der Mann antwortete nicht. Ich trat einen Schritt vorwärts, aber die Frau versperrte mir den Weg.

»Das ist nicht Kurt. Das ist sein Bruder Henryk. Was wünscht der Herr?«

»Ich suche Kurt Kolonko.«

»Weshalb sucht der Herr Kurt Kolonko?«

»Um mit ihm zu sprechen.«

Die Frau blickte unsicher auf die Tasche, die ich unter meinem Arm hatte. Ich bemerkte eine misstrauische Note in ihrer Stimme.

»Sie haben nichts zu befürchten, meine Dame. Ich bin ein Freund von Kurt.«

»Kurt hat keine Freunde mehr«, antwortete sie trocken.

»Ich bin sein Freund.«

Sie stand bewegungslos, als warte sie darauf, dass ich fortführe. Sie bat mich nicht, Platz zu nehmen. Ich stand an der Schwelle zur Werkstatt und fühlte mich unwohl. Ich stellte mich vor.

»Und wer ist die Dame?«

»Ich bin Kurts Mutter.«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte ich und beugte mich vor, um ihr nach polnischer Manier die Hand zu küssen.

Sie presste ihre Hand gegen ihre Schürze, als ob sie jeden Kontakt mit mir vermeiden wollte, wich einen Schritt zurück, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Drehbank und sagte:

»Was gibt es da zu denken? Jeder weiß, dass ich Kurts Mutter bin. Und Sie? Sie sind kein Kunde und kein Polizist, also wer sind Sie?« Ihre Stimme drückte kalte Feindseligkeit aus. Aus den Geschichten Kurts wusste ich, dass seine Mutter etwa fünfzig Jahre alt sein musste. Diese Frau sah viel älter aus. Ein Lichtstrahl, der durch die Tür fiel, beleuchtete ihr Gesicht und zeigte Falten und Müdigkeit. Ihr Blick konzentrierte sich auf mich, doch in ihren Augen war keinerlei Neugierde. Ihr Sohn Henryk kam aus dem Schatten; erst jetzt fiel mir die außerordentliche Ähnlichkeit zu Kurt auf. Er wollte etwas sagen, aber mit einer energischen Handbewegung befahl sie ihm, ruhig zu sein. Er gehorchte ihr wie ein gescholtenes Kind.

»Nun, was ist der Wunsch des Herrn?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Er fängt am besten von vorn an.«

»Es ist eine lange Geschichte.«

»Er soll versuchen, sie kurz zu machen.«

»Also, in einem Satz: Ich stehe tief in Kurts Schuld, und ich bin gekommen, um sie zurückzuzahlen, wenn es überhaupt möglich ist, solch eine Schuld zu begleichen. Ich vermute, dass Sie mich verstehen?«

»Ich habe kein einziges Wort verstanden.«

»Hat er Ihnen nichts erzählt?«

Sie antwortete nicht, und ich, dessen Verlegenheit von Minute zu Minute wuchs, fuhr mit leichtem Stottern fort:

»Dann werde ich es erklären. Kurt und ich waren zusammen im Lager. In der ›Eintrachthütte‹. Sie wissen, dass er dort war, denn Sie haben ihm einmal ein Paket geschickt. Er bekam es, obwohl die Kapos im Allgemeinen die Pakete stahlen. Aber bei Kurt wagten sie es nicht. Kurt hatte einen besonderen Status. Er wusste sich zu helfen. Sie können stolz auf ihn sein. Auch auf das, was er für mich getan hat. Ich habe nicht aufgehört, daran zu denken, seit wir auseinandergegangen sind. Ich stand dort, hilflos, ein jüdischer Junge, für den niemand einen Finger gerührt hätte, um ihn zu retten, bis auf Kurt … Warum ausgerechnet Kurt? Das werde ich nie verstehen. Ich werde es nicht verstehen, solange er es mir nicht selbst sagt. Sehen Sie diese kleine Tasche?«

»Ich sehe sie.«

»Sie enthält genug Geld, um zwei neue Drehbänke zu kaufen, und zwar mit Nortongetriebe und allen technischen Neuerungen. Es ist keine Vergütung, es ist unmöglich, den Wert eines geretteten Lebens zu bezahlen, aber ich habe keinen anderen Weg, um meine Dankbarkeit zu zeigen. Sind Sie jetzt beruhigt? Könnten Sie jetzt Kurt rufen?«

»Nein, das kann ich nicht.«

Ich hielt ihr die Tasche hin. Sie nahm sie nicht. Stattdessen richtete sie sich auf. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, so als ob sie die Maske der Müdigkeit gegen die der Wut ausgetauscht hätte. Ein kleiner Muskel zuckte in ihrem Mundwinkel, bis die hasserfüllten Worte aus ihr hervorbrachen:

»Wie kannst du es wagen, in mein Haus zu kommen, du stinkender Jude!«, schrie sie. »Wie kannst du es wagen, dein elendes Leben zu leben, wenn mein Sohn nicht mehr unter den Lebenden ist! Wie kannst du es wagen, mir deine dreißig Silberlinge anzubieten! Verschwinde von hier!«

Henryk trat aus seiner dunklen Ecke, um sich einzumischen. Seine Mutter hielt ihn zurück und kam mir so nahe, dass ich ihren heißen Atem spüren konnte: ihre Stirn direkt vor meiner Stirn, ihre Augen direkt vor meinen, ihr Zorn gegen meine Verlegenheit. »Du stinkender Jid, verdammt sollst du sein in alle Ewigkeit!«, zischelte sie wie eine Schlange. Dann spuckte sie mir ins Gesicht. Ich wischte mir die Spucke mit dem Ende meines Ärmels ab, und sie, die ihre Gefühle nicht beherrschen konnte, bespuckte mich noch einmal. »Der Herr soll ihr verzeihen, Kurt kehrte nicht aus Auschwitz zurück«, sagte Henryk ruhig. Ich stand da, entsetzt, gelähmt und stumm; und erst als sie mir zum dritten Mal ins Gesicht spucken wollte, warf ich die Tasche weg – oder sie fiel mir aus der Hand – und flüchtete.

Nein, ich floh nicht. Es gibt Situationen, vor denen man nicht weglaufen kann. Die Flamme in ihren Augen, die Wut in ihrem Gesicht, die Gehässigkeit in ihrer Stimme, das Gift in ihrer Spucke und selbst der zuckende Nerv in ihrem Mundwinkel, all das verfolgt mich, wohin ich auch gehe. Und manchmal, bis zum heutigen Tag, wenn mich jemand wegen meines Benehmens beschimpft, wenn ich in eine Situation gerate, aus der es keinen vernünftigen Ausweg gibt, wenn ich hilflos einem unverständlichen Zorn gegenüberstehe, für den es keine Berechtigung gibt, wenn mich das Gefühl der Verwirrung und Enttäuschung überfällt, weil man meine Absichten missverstanden hat, wische ich mir mit dem Ärmel mein trockenes Gesicht ab.