Leb wohl, Bronka, leb wohl, Anna Karenina. Das kleine Abenteuer war vorbei. Aber wir mussten nicht ihretwegen das Dorf verlassen, sondern wegen des Pferdes eines Nachbarn. Ein braunweißes Pferd, das in der Nacht gestohlen worden war.
Mit Beginn der Schneeschmelze fegte eine Welle von Diebstählen über die Gegend hinweg. »Jedes Jahr das Gleiche«, schimpfte Kruczek. »Im Winter halten sich die Diebe von unseren Häusern fern. Sie wissen, dass ihre Spuren im Schnee sie verraten würden, und es gibt nichts, was einen wütenden Bauern davon abhielte, mit einer Heugabel oder einem Beil auf einen Dieb loszugehen. Aber der Frühling ist für diese Schufte ein Segen, auch weil man ihnen dann nicht nachjagen und mit ihnen abrechnen kann.«
Pferdediebe waren in seinen Augen besonders bösartige Verbrecher; ohne Pferde konnten die Bauern den Boden nicht bearbeiten, und ohne gepflügte Erde gab es kein Brot. Arbeitstiere waren der wichtigste Besitz eines jeden Hofes. Für uns war der nächtliche Einbruch im Nachbarhaus das Signal, schnell zu packen. Das gestohlene Pferd war beim Dorfregistrar für landwirtschaftliches Eigentum eingetragen, der dafür verantwortlich war, dass jeder Bauer pflichtgemäß sein Pferd der deutschen Armee zur Verfügung stellte. Mein Vater war bereit, dem Nachbarn den vollen Wert des Pferdes zu ersetzen, der Nachbar jedoch fürchtete, dass die Sache auffliegen und er von den Behörden nach der strengen Kriegsgesetzgebung bestraft werden würde. Es gab keinen anderen Ausweg, als zur Polizei zu gehen und den Diebstahl anzuzeigen. Fälle dieser Art, bei denen kein Verdacht auf Sabotage oder Terror bestand, wurden meist von der polnischen Hilfspolizei behandelt. Die Bauern kamen gut mit ihnen aus, dennoch bedeutete ihr Erscheinen im Dorf bereits Gefahr. Alle, die in der Gegend wohnten, mussten verhört werden. Kruczek meinte, wir sollten uns im Keller verstecken und dort das Ende der Untersuchung abwarten. Aber Vater winkte ab. »Viel zu gefährlich«, entschied er. »Wenn sie uns entdecken, wird uns niemand helfen, nicht einmal Gott. Die polnischen Polizisten müssen die Nazis benachrichtigen. Und die Nazis werden keinen verschonen. Es geht nicht nur um uns. Auch ihr beide und eure Kinder werden dafür bezahlen müssen. Wir haben keine Wahl. Wir gehen nach Krakau zurück.«
Wir kamen mittags in Krakau an. Bis zum Abend hatten wir bereits eine neue Bleibe: zwei Zimmer in einer Mietwohnung in der Dlugastraße 76. Wir benutzten noch immer die gefälschten Papiere, die Kuba für uns besorgt hatte, Dokumente, die, wie er sagte, »besser als echte« waren. Mein Ausweis war auf den Namen Roman Wrzesniowski ausgestellt. Der echte Roman Wrzesniowski war mit seinen Eltern etwa ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Schindler hatte behauptet, ein bestochener Beamter hätte die Todesurkunde aus den Zensusbüchern herausgenommen, sodass sogar die Nazi-Polizei, sollte sie Einzelheiten unserer Herkunft untersuchen, sie für koscher und katholisch halten würde.
Einen Tag nach unserer Rückkehr nach Krakau meldete ich mich im Büro der Firma Kunietzki, Bialski und Co. und bat darum, meine Arbeit als Botenjunge wiederaufnehmen zu dürfen. Graf Kunietzki war im Urlaub auf dem Gut seines Onkels Antoni, und Herr Bialski zögerte:
»Es ist schwer, ohne ihn zu entscheiden.«
»Wir können sonst unseren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Mein Vater war sicher, dass ich ihn nicht enttäuschen würde«, log ich.
»Ja, dann«, stimmte er ohne Begeisterung zu, »wann willst du anfangen?«
»Jetzt.«
Ich wusste nicht, dass mein Vater, während wir in Garlica Duchowna waren, auch für seine Schwester Sidonia ein Versteck besorgt hatte. Sidonia und ihre Tochter waren in einem anderen Haus am Rande des Dorfes untergekrochen. Vergebens habe ich versucht herauszufinden, woher mein Großvater die Einfälle für die Namen seiner fünf Kinder nahm. Meinen Vater nannte er Wilhelm – vielleicht aus Ehrfurcht vor der Herrlichkeit Kaiser Wilhelms, der die Franzosen besiegte und Deutschland unter preußischer Herrschaft vereinigte? Und warum nannte er den Bruder meines Vaters Marian? Die Verbindung mit der Heiligen Maria kam mir sehr eigentümlich vor. Die Namen seiner Töchter – Hermine, Sofia, Mathilda und Sidonia – klangen in meinen Ohren wie die Namen von Heldinnen romantischer Geschichten aus dem letzten Jahrhundert.
Sidonia war die Älteste von allen. Vor dem Krieg hatte ich sie gern in Krakau besucht, angelockt nicht von dem Ruf des Blutes, sondern von dem Duft der saftigen Birnen, die im Hof ihres Hauses an einem verzweigten, alten Baum wuchsen. Viele zerrissene Hosen zeugten von meinen Kletterversuchen.
Sidonias Mann war bei Ausbruch des Krieges in die polnische Armee eingezogen worden, hatte den langen Rückzug nach Osten mitgemacht und war am Ende von den Russen gefangengenommen worden, als jene in Polen einmarschierten, um den westlichen Teil der Ukraine und Weißrusslands von den Imperialisten zu »befreien«. Onkel Leon war Rechtsanwalt wie mein Vater, allerdings nicht so erfolgreich, weil er an nichts anderem als an seiner Briefmarkensammlung interessiert war. Tante Sidonia beschwerte sich oft bei meinem Vater, dass ihr Mann wegen seiner verrückten Sammelsucht Arbeit und Familie vernachlässige. Er starb in Omsk, an der Grenze zwischen Sibirien und Kasachstan. Wenn ich mich an ihn erinnere, dann denke ich nicht an sein rundes Gesicht mit der dicken Brille eines Kurzsichtigen, sondern an das Vergrößerungsglas, mit dem wir uns zusammen seine Alben ansahen, in denen jede Seite einer anderen Serie eines anderen Landes gewidmet war. Ich glaube, von Onkel Leon lernte ich mehr über die Welt als von meinem Geographielehrer in der Volksschule.
Was wirklich mit Tante Sidonia geschah, haben wir nie erfahren. Ich habe keine Ahnung, wie und wann sie ins Dorf gekommen war. Sie und ihre siebzehnjährige Tochter Heidi wohnten bei Freunden Kruczeks, anständigen Leuten, die das Geheimnis ihrer Identität nicht kannten. Man hatte ihnen erzählt, dass Mutter und Tochter Polinnen seien, die man aus ihrem Haus vertrieben habe, nachdem das Familienhaupt, ein Offizier, Leutnant, in deutsche Gefangenschaft geraten sei. Solche Fälle gab es häufig und die Geschichte klang glaubhaft. Die Bauern, die ihnen Unterkunft gewährt hatten, waren nicht geldgierig. Die Summe, die meine Tante für Kost und Logis bezahlte, war klein im Vergleich zum Wert des Verstecks. Wäre das Pferd nicht gestohlen worden, hätten beide sicher bis zum Ende des Krieges dort bleiben können. Aber das drohende Auftauchen der Polizei machte ihr sofortiges Verschwinden erforderlich, weil ihre Entdeckung für die bescheidenen Bauern, die sie verborgen hatten, Unglück bedeutet hätte. Doch in dem Moment ging es schief, denn Tante Sidonia wurde so krank, dass sie nicht einmal von uns hätte getragen werden können. Kruczek und mein Vater improvisierten eine Bahre aus den biegsamen Zweigen der Weide, die im Volksmund »Trauerweide« genannt wird, und brachten sie in eine verlassene Scheune – eben jene, die Bronka und mir als Platz unserer verbotenen Spiele gedient hatte –, in der Hoffnung, dass sie, selbst wenn sie gefunden würde, von der Polizei nicht mit einem Haus im Dorf in Verbindung gebracht werden konnte. Sidonia hatte hohes Fieber, und die Worte, die sie hervorstieß, ergaben keinen Sinn. Die Tochter hätte für sie sorgen sollen, doch als die Polizisten sich der Scheune näherten, verlor sie die Nerven. Sie floh durch eine kleine Öffnung bei der Hintertür. Nachdem sie einige Tage in den Wäldern herumgeirrt war, schloss sie sich Partisanen an, die in der Gegend aktiv waren. Sie wurde gerettet und lebt heute in Australien. Wir hörten nichts mehr von Tante Sidonia. Das Einzige, was wir erfuhren, war, dass die Polizisten sie zum Verhör mitgenommen hatten. Ich bekam von der ganzen Angelegenheit erst etwas mit, als wir wieder in Krakau waren und ich hörte, wie meine Eltern meine Cousine verurteilten. »Wie kann man nur eine kranke Mutter verlassen!«, tobte mein Vater. Ich dachte nicht daran, ihm zu widersprechen, obwohl ich anderer Meinung war. Was nützen Heldenmut oder endlose Opferbereitschaft, wenn sie zu nichts führen? Wäre Heidi in der Scheune geblieben, so wären zweifellos beide von den Nazis getötet worden. Bruno Kalter, mein Bibellehrer in Bielitz, würzte seine Stunden gern mit Beispielen aus dem Talmud. Ich erinnere mich gut an eine Geschichte von zwei Juden, die sich in der Wüste verliefen und nur eine Flasche Wasser besaßen. Wenn sie es gerecht geteilt hätten, wären beide verdurstet. Im Namen der Heiligkeit des Lebens war es sinnvoller, dass einer das gesamte Wasser trank und am Leben blieb.
Ich habe Heidi nur einmal wiedergesehen, als sie mit ihrem Mann Israel besuchte. Über die Sache wurde nicht gesprochen. Beide zogen wir es vor, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
An Grete, die Frau des Versorgungsoffiziers der SS, hatte ich noch lebhafte Erinnerungen, und auch sie hatte mich nicht vergessen. Als ich mit zwei frischen Karpfen vor ihrer Haustür stand, begrüßte sie mich wie einen alten Bekannten, der aus einem langen Urlaub zurückgekommen war.
»Wohin bist du denn verschwunden? Eigentlich ist es nicht wichtig; ich bin froh, dass du wieder da bist. Du siehst ausgeruht und … wie soll ich sagen … älter aus.«
»Es ist lange her«, sagte ich und zog die zwei Karpfen aus der Tasche. Trotz des Hammerschlags, den sie auf den Kopf bekommen hatten, weigerten sie sich zu sterben und zappelten noch immer in dem Zeitungspapier, das an ihren feuchten Schuppen klebte.
»Hast du angefangen, dich zu rasieren?«, fragte sie.
Ich wurde rot und fuhr mit meinem Handrücken über meine Wangen. Sie waren so weich wie ein Babypopo.
»Nein«, antwortete ich und verbesserte mich sofort: »Noch nicht.«
»Willst du einen Likör mit mir trinken? Wie damals? Ich habe immer eine Flasche Drambuie im Haus.«
Ich nickte. Grete ging zum Buffet, um die Flasche zu holen. Mein Blick folgte ihrem schönen Profil und glitt dann durch das Zimmer. Das Wohnzimmer war neu möbliert, nur die Ledersessel standen noch auf ihrem Platz. Antike und moderne Möbelstücke standen beziehungslos nebeneinander, geschmacklos, dachte ich. An den Wänden hingen Ölgemälde; ich erkannte Kossaks Pferde, die Namen der anderen Maler wusste ich nicht.
Grete bemerkte mein Interesse, stellte ein volles Glas vor mich hin und erklärte:
»Noch ein Teil des Ghettos ist liquidiert worden. Kurt hat einige Sachen geborgen. Für so etwas ist mein fauler Mann gut. Trinken wir auf die neuen Errungenschaften?«
Ich goss den Likör in einem einzigen Zug herunter.
»So trinkt man nicht Drambuie«, tadelte sie. »Likör trinkt man langsam, in kleinen Schlucken, jeden Tropfen genießend. Schau dir an, wie ich es mache.«
Und sie zeigte es mir. Als die Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrann, legte sie den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Hast du gesehen?«
»Ja.«
»Wenn du das nächste Mal kommst, können wir es zusammen üben.«
Es gab kein nächstes Mal.
Die Firma Kunietzki, Bialski und Co. hatte sich vergrößert, mehr Fischteiche gekauft, Filialen eröffnet und den Kreis ihrer Kunden erweitert. Parallel dazu hatten auch die Lieferungen in die Häuser der deutschen Offiziere zugenommen. Meine Arbeit bestand jetzt hauptsächlich darin, »Räder zu schmieren«, wie es Herr Bialski sarkastisch ausdrückte. Fast jeder, der in der Verwaltung etwas zu sagen hatte, stand auf der Liste der Geschenkempfänger. Die Pakete wurden unter den wachsamen Augen des Chefs gepackt, immer dem Dienstgrad und der Bedeutung des Empfängers angemessen. Schnell lernte ich die Namen und Adressen der SS- und Gestapo-Leute auswendig, Namen, die jedem einfachen Menschen eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Später sollten viele von ihnen auf der Liste der Kriegsverbrecher erscheinen. Damals aber waren sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht und empfingen mich immer freundlich. Bialski war sehr zufrieden mit meiner Arbeit und ihren Resultaten. Als Gegenleistung für die erhaltenen Präsente sorgten die Beschenkten dafür, der Firma bürokratische Hindernisse aus dem Weg zu räumen, drückten beide Augen zu, wenn die Fischkompanie ihre Ware auf dem Schwarzmarkt verkaufte und übersahen die Tatsache, dass die an die deutsche Armee verschickten Konserven zweite Wahl waren. Das ganz große Geschäft begann, als man die Familiengüter der Kunietzkis von der Pflicht befreite, die Armee mit Proviant zu versorgen, eine Verpflichtung, die man allen Bauern des besetzten Europas auferlegt hatte. Graf Kunietzki tat so, als wisse er nichts von den Machenschaften seines schlauen Partners. Er war nicht oft in Krakau, da er regelmäßig seine Güter besuchte, die in ganz Polen verstreut lagen. Die Kunietzki-Dynastie gehörte zu den adligen Familien, die schon seit Jahrhunderten mit der Geschichte des Königreiches verknüpft waren. Ihre Taten füllten ganze Seiten in Nachschlagewerken und Geschichtsbüchern. Vielleicht gerade deswegen verachtete ich sein Benehmen. Erst nach dem Krieg erfuhr ich, dass die Kunietzkis auf ihren Gütern die Familie eines jüdischen Rechtsanwaltes, Bronisław Szaten, und eine junge Frau namens Liebeskind versteckt hatten.
Das Krakauer Ghetto wurde langsam verkleinert. Die Nazis gliederten immer mehr Häuserblöcke aus dem Viertel aus, bis nur noch ein kleiner Rest übrigblieb, der in Sektion A und Sektion B aufgeteilt wurde. Die Bewohner der Häuser verschwanden im nationalsozialistischen Brachland des Todes, als ob es sie nie gegeben hätte. Von der endgültigen Auflösung des Ghettos erfuhr ich durch Bialski. »Sei vorsichtig, in der Stadt wimmelt es von Jägern auf Juden, denen es im letzten Moment gelungen ist, von dort zu entkommen«, sagte er leichthin, während er mir ein Paket frischer Karpfen aushändigte, die wöchentliche Lieferung an den SS-Offizier Wilhelm Kunde. Kunde war als einer der grausamsten Offiziere des Sicherheitsdienstes bekannt. Damals ahnte ich noch nicht, dass sich unsere Wege bald unter anderen Umständen kreuzen sollten.
Gretchen hatte mir nicht erzählt, dass die Würfel gefallen waren und alle Ghettobewohner in ein stacheldrahtumzäuntes Lager gebracht werden sollten, das man einige Monate zuvor auf dem Boden zweier jüdischer Friedhöfe in dem Vorort Podgórze errichtet hatte. Vielleicht hatte sie überhaupt nichts davon gehört. Wie mein Vater davon erfuhr, ist mir noch heute ein Rätsel. Zwar las er alle Zeitungen in polnischer und deutscher Sprache, die mit Genehmigung der Besatzungsmacht herauskamen, aber die offizielle Presse erwähnte diese Angelegenheit mit keinem Wort.
Wie Herr Bialski, so wies auch er mich auf die vielen Gefahren hin, die auf Menschen wie uns lauerten. Er erzählte von herzzerreißenden Situationen, in denen die Nazis und ihre Helfer von der jüdischen Ghettopolizei Eltern von ihren Kindern, alte Menschen von jungen und Männer von Frauen trennten. Mütter, die versuchten, ihre Säuglinge herauszuschmuggeln, wurden geschlagen und erschossen, die Schädel der Kinder auf dem Kopfsteinpflaster zerschmettert. Hunderte der im Ghetto Gefangenen versuchten, durch die Kanalisation, die zur Weichselbrücke führte, zu entkommen. Ganze Familien traten mit all ihrem Hab und Gut durch sie den Gang in das Ungewisse an, ihre Füße im Schlamm versunken, nur um feststellen zu müssen, dass am Ausgang zur Freiheit Erpresser warteten, die ein hohes Lösegeld verlangten. Wer sich die Gnade der Erpresser nicht erkaufen konnte, wurde nicht herausgelassen und kam in dem stinkenden Labyrinth um. Und die meisten von denen, die den Blutzoll bezahlt hatten, wurden von den SS-Leuten geschnappt und vor ein Exekutionskommando gestellt. Nur etwa fünfzig Familien blieben im Ghetto, Schützlinge der Nazis: Mitglieder des Judenrats und der jüdischen Ghettopolizei und Gestapo-Denunzianten, die bald in die Straßen der Stadt ausschwärmen würden, um Seelen zu jagen.
Die zur Deportation in die Vernichtungslager Bestimmten marschierten in zwei langen Kolonnen zum Bahnhof. Wussten sie, was ihnen bevorstand? Viele Jahre nach dem Krieg, als ich schon sechzig Jahre alt war, las ich zum ersten Mal das erstaunliche Buch des polnischen Apothekers Tadeusz Pankiewicz. Seine Apotheke grenzte an die Ghettomauer, und der Mann wurde gezwungenermaßen Augenzeuge von dem, was da vor sich ging. Und so schreibt er in seinen Erinnerungen: »… Die Zeit der Abreise naht. Wir merken es an der Beschlagnahmung des Eigentums. Alle müssen sie ihr Hab und Gut zurücklassen. Diesmal lassen die Deutschen den Leuten nicht einmal die kleinste Illusion. Es gibt keine Lügen mehr. List ist überflüssig. Wir sind Zeugen der Auflösung des Ghettos. Die SS-Männer beschlagnahmen gewaltsam sogar Brieftaschen und Taschen und werfen sie auf einen immer größer werdenden Haufen. Hier und da hört man einen Ruf, dass Dokumente in der Brieftasche geblieben sind. Für eine weitere Sekunde machen die Menschen sich vor, dass sie diese Dokumente noch brauchen. Ihre Reaktionen ähneln denen eines Gehenkten, dessen Glieder sich noch nach seinem Tode bewegen …«
Krakau wurde zu einem riesigen Jagdgebiet. Die »Saison« war eröffnet; jene, die aus dem Ghetto entkommen waren, waren zum Abschuss freigegeben. Aber dieses Blut hatte einen so hohen Preis, dass es zu schade war, es für nichts zu vergießen. Aus dem Abschaum der Menschheit tauchten Leute in den Straßen der Stadt auf, die entschlossen waren, sich an der Angst, der Qual und vor allem am Überlebenstrieb derer zu bereichern, die außerhalb des vernichteten jüdischen Viertels Zuflucht gefunden hatten.
In den Straßen der Stadt lauerten Polen, die sich ihren Lebensunterhalt mit Erpressung verdienten. Der Ruf »Geld oder Leben« wurde nicht von einem gezogenen Revolver begleitet. Es genügte schon die Drohung, das Opfer der Gestapo auszuliefern. Mischka erzählte mir, wie sich das ereignete. Er wusste, wie man an mit der Hand vervielfältigte Flugblätter herankam, die der Untergrund regelmäßig in Umlauf brachte. Er gab sie mir immer weiter, und ich las sie auf der Toilette hinter verschlossenen Türen. Wenn ich sie gelesen hatte, zerriss ich sie und spülte sie hinunter. Die Fetzen flossen in die städtische Kanalisation, aber ihr Inhalt blieb in meiner Erinnerung. Eine Geschichte, die sich auf das bezog, was in diesem Frühling, dessen Symbol der ausgestreckte Finger des Denunzianten war, vor sich ging, ist es wert, erwähnt zu werden:
Ein Gramm Mut
»Ich wurde gerettet. Eine knappe Stunde zuvor war ich aus dem abgeriegelten jüdischen Viertel geflüchtet. In meiner Jackentasche war ein gefälschter Pass, der mein Bild zeigte, mit einem winzigen, gefälschten Lächeln auf den Lippen. Gleich neben dem Pass lag meine Courage, die ich für einen Spottpreis einem Mann abgekauft hatte, dessen Namen ich nicht kannte. Er trug dicke Brillengläser, hatte die hohe Stirn eines wahren Intellektuellen, und die Leute hatten ihm den Beinamen ›Apotheker‹ gegeben. Nachmittags, zwischen zwei und vier, saß er im Allgemeinen im Café ›Ziemiańska‹, und zwischen einem Schluck Tee und dem nächsten handelte er im kleinen und en gros mit Mut und Tod. Zu jener Zeit war der Preis des Lebens gleich null, der Preis des Todes aber schwankte abhängig von Angebot und Nachfrage zwischen hundertfünfzig und zweihundert Dollar das Gramm. Ich war kein großer Held. Ich fürchtete nicht den Tod, aber ich hatte Angst, in Qualen zu sterben. Ich hatte Angst vor den Vernehmungszimmern der Gestapo, vor den Wänden, die mit Botschaften von Leuten übersät waren, die schon lange in ihren Gräbern lagen. Ich hatte Angst vor dem Sirren der Peitsche, die meinen Rücken aufreißen würde, vor der Kugel, die nicht direkt ins Herz trifft, vor dem Korridor zur Folterkammer. Der ›Apotheker‹ hatte sich mit Psychologie befasst, und er hatte die Gabe, den Menschen in die Seele zu sehen. Er schätzte meine Angst auf 175 Dollar. Ich zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken. Dafür wurde ich Besitzer einer Kapsel, die mit einer weißen, nach bitteren Mandeln riechenden Substanz gefüllt war. Der Markenname: Zyankali. Ein Gramm billig erworbenen Heldentums diente mir als Police der besten Versicherungsgesellschaft der Welt. Die Kapsel stand zwischen mir und der Gefahr des Leidens und der Folter, und es schützte auch jene, die mich mit meinem neuen Namen ausgestattet hatten, ein Name, dessen Wurzeln bis in die dritte Generation genauestens erforscht worden waren. Ich ging aufrecht durch die Straßen der Stadt. Plakate, die eine Belohnung für jeden Kopf eines Juden versprachen, der es gewagt hatte, aus dem Ghetto zu flüchten, schrien mich von den Häuserwänden an. Ihre Drohung berührte mich nicht mehr. Wenn sie sich von der Wand abschälten, waren sie wie Blätter, die vom Baum der Erkenntnis fielen, oder Seiten aus der Enzyklopädie einer Kultur, in der sogar das Gesetz nicht mehr gesetzlich war. Ich ging hocherhobenen Hauptes, Schweißtropfen rannen von meiner Stirn, denn die Sonne stand im Zenit, und ich trug einen schäbigen Wintermantel über meinen alten Kleidern mit dem wie ein Kainsmal aufgenähten gelben Stern. Plötzlich rief jemand meinen Namen: Avrum! Avrum – wie Abraham. Abraham – wie Jude. Und Jude – wie … Instinktiv steckte ich meine Hand in die Manteltasche. Keine Angst, Avrum, sie war da, die kleine Kapsel, der endgültige Fluchtweg in den sicheren Hafen. Die Berührung mit dem Papier, in das die Kapsel eingewickelt war, gab mir Selbstsicherheit. Ich blieb stehen. Langsam, um meine Panik nicht zu zeigen, schaute ich mich um. Auf dem Bürgersteig stand breitbeinig Piotr und rief mich zu sich. Piotr hatte während der gesamten Oberschulzeit die Bank mit mir geteilt. Er hatte fleißig die Algebra-Aufgaben von mir abgeschrieben, und ich hatte ihm bereitwillig geholfen, die mündlichen Examen bei unserem Lehrer für polnische Literatur zu bestehen, den wir beide hassten. Wir sahen uns täglich, bis die Ghettomauer unsere Verbindung abrupt durchtrennte.
›Hallo, Piotr‹, sagte ich mit einer Spur Freude in der Stimme.
›Hallo, Avrum‹, antwortete er.
›Sch, nenne mich nicht so; es ist gefährlich.‹
Piotr sah mich mit einem prüfenden Blick an; eine Mischung von Kälte und feuchter Schwüle ging von ihm aus. Ich versuchte, die Situation zu erklären. Er unterbrach mich mit einer direkten Frage: ›Bist du aus dem Ghetto entkommen?‹
›Ja. Alle wurden getötet. Ich bin der Einzige, der gerettet wurde.‹
›Gerettet?‹, wiederholte er und lächelte: ›Du weißt nie. Die Zeiten sind voller Überraschungen.‹
Ich nickte. Er brachte sein Gesicht nahe an das meine heran; der Atem eines Betrunkenen schlug mir entgegen.
›Weißt du, unsere Gefühle sind mit unserer Unabhängigkeit verlorengegangen. Uns stehen harte Jahre bevor, und jeder muss auf sich selbst achten. Ich auch. Hast du das verstanden?‹
Der Verdacht, der meine Seele einen Moment vorher nur leicht gestreift hatte, wurde jetzt Gewissheit. Ich wollte einen Schritt zurücktreten, aber Piotr packte meinen Mantelaufschlag.
›Gut‹, sagte er, ›lass uns nicht Verstecken spielen. Die Eroberer haben die Oberhand, und ich bin ihr Diener. Die Macht ist auf ihrer Seite, und die Geschichte verurteilt nie den Sieger. Trotzdem, irgendwo in der Tiefe meines Gewissens hat sich ein kleiner Rest der alten Freundschaft erhalten. Gib mir tausend Dollar, und wir werden uns mit einem Händedruck verabschieden. Nur tausend.‹
›Hör mal zu‹, antwortete ich ihm, ›wenn ich tausend Dollar hätte, wäre ich längst über die Grenze.‹
In der Nähe stand ein Taxi. Piotr winkte es heran. Das Taxi fuhr langsam auf uns zu und hielt. Piotr stieß mich hinein, setzte sich neben mich auf den Rücksitz und schlug die Tür zu. Was für ein schrecklicher Knall! ›Wohin?‹, fragte der Fahrer. Piotr gab ihm die Adresse. Die Adresse war so bekannt, dass es mir schon bei dem Namen kalt über den Rücken lief.
›Du hast drei Minuten, um dich zu entscheiden‹, flüsterte er.
›Glaube mir, ich besitze keinen Pfennig.‹
›Juden behaupten immer, kein Geld zu haben, und immer finden sie doch noch welches, wenn es keinen Ausweg gibt.‹
›Piotr, was ist mit dir geschehen?‹, fragte ich, obwohl ich es genau wusste. Er war der Held und ich das Opfer des ausgestreckten Fingers. Sekunden vergingen; ich zählte sie nach meinem Pulsschlag. Das Taxi fuhr in Richtung Gestapogebäude. Durch das Fenster sah ich Menschen: eine junge Frau, die ihr Kind, einen niedlichen, blonden Jungen, spazieren führte, einen Kutscher, der auf der Bank seiner Karre döste, und einige eilige Fußgänger, ich hatte keine Ahnung, wohin und warum. Piotr erinnerte mich:
›Noch zwei Minuten.‹
Zwei Minuten bis zum Tod sind eine lange Strecke im Leben eines Menschen. In zwei Minuten konnte der Krieg zu Ende sein, ein Erdbeben ausbrechen oder sogar die Welt untergehen. In zwei Minuten konnte Piotr eine Herzattacke oder einen Schlaganfall bekommen, der Fahrer einen Unfall verursachen, Bomber konnten die Stadt zerstören oder die Partisanen das Gestapogebäude in die Luft sprengen.
›Noch eine Minute‹, bellte er wieder trocken, so wie es einem schlauen Geschäftsmann gebührt.
Wie absurd ist doch die Hoffnung eines Einfaltspinsels, der auf der Plattform eines Galgens steht und glaubt, dass der Strick des Henkers gerade im kritischen Augenblick reißen wird. Ich sah Piotr schief an. Sein Gesicht war ausdruckslos. Ich erkannte in ihm mein Schicksal. Die Magensäure würde die Kapsel binnen dreißig Sekunden auflösen, so hatte der ›Apotheker‹ versprochen. Ich steckte meine Hand in die Tasche, schluckte schnell das Gift, und das Einzige, was ich empfand, war das Warten auf den unangenehmen, bitteren Geschmack. Selbstverständlich spürte ich nichts. Der Fahrer hielt an einer Kreuzung an. Wenn ich die Tür jetzt aufmachen und herausspringen würde … Aber nein. Ich hatte es nicht mehr nötig, auf Gelegenheiten zu warten. Ich war außerhalb von Piotrs Machtbereich, außerhalb der Folterkammern der Gestapo. In gewisser Hinsicht war ich ein Mensch der kommenden Welt. Ich hatte nichts mehr zu verlieren.
›Du Biest!‹, schrie ich plötzlich. In diese zwei Worte packte ich meinen ganzen Hass gegen ihn, den Freund, der mich verraten hatte und der mir nicht nur das Recht zu leben nehmen wollte, sondern auch den Rest meines Glaubens an die Menschheit. Als ob ein Damm gebrochen wäre, überschüttete ich ihn mit Verachtung und Vorwürfen.
Und dann geschah das Wunder. Offenbar hatte ich ihn im Innersten seiner Seele getroffen – wenn er überhaupt eine besaß. Er befahl dem Fahrer anzuhalten und sagte mit einer wirklich freundlichen Stimme:
›Schrei nicht so, Dummkopf. Ich habe doch nur Spaß gemacht.‹ Und bevor ich antworten konnte, war er aus dem Taxi gestiegen und im Strom der Fußgänger verschwunden. Fünfhundert Meter trennten uns vom Gestapogebäude. Erst jetzt merkte ich, dass die dreißig Sekunden längst vorüber waren und das Gift nicht gewirkt hatte. Man musste kein diplomierter Chemiker sein, um zu begreifen, dass der ›Apotheker‹ mich grausam betrogen hatte. Statt Tod hatte er mir Leben verkauft. Verzweifelt versuchte ich, meine Erregung zu verbergen, und gab dem Fahrer eine neue Adresse: das Café ›Ziemiańska‹. Es war Viertel vor vier, und der ›Apotheker‹ saß noch immer auf seinem Stammplatz. Ruhig, um an den angrenzenden Tischen keine Aufmerksamkeit zu erregen, ging ich auf ihn zu. Seine psychologische Erfahrung ließ ihn auch dieses Mal nicht im Stich. Mein Gesichtsausdruck verriet ihm, was passiert war, er nahm 175 Dollar aus seiner Brieftasche, gab mir die Scheine und murmelte: ›Keine Ware, kein Geld.‹«
Ich fragte mich, was am Ende aus dem Helden der Geschichte geworden war. Neugierig suchte ich unter den regelmäßigen Gästen des Cafés »Ziemiańska« die Gestalt des »Apothekers«, aber ohne Erfolg. Wie hätte ich wohl reagiert, wenn ich mit Piotr im Taxi gesessen hätte? Hätte ich den Mut aufgebracht, die Kapsel zu schlucken? Tief in meinem Herzen musste ich mir eingestehen, dass ich nie, in keiner noch so hoffnungslosen Lage, fähig gewesen wäre, mir selbst das Leben zu nehmen. Das Leben schien mir zu kostbar, um es freiwillig aufzugeben. Trotz der Geschichte und obwohl ich meine Rüstung – die HJ-Uniform, die ich von Grete bekommen hatte – vernichtet hatte, verbrannt in einem Nachbarshof, bevor wir auf Kruczeks Heuwagen kletterten, fühlte ich mich nicht bedroht. Ich glaubte einfach nicht, dass ein Erpresser seine Energie an einen Jungen wie mich verschwenden würde. Ich geriet noch nicht einmal in Panik, wenn ich an den Patrouillen der Gendarmerie vorbeiging, die ebenfalls die Stadt mit wachsender Intensität durchsuchten. Ich betrachtete sie vielmehr mit leichter Überheblichkeit, wenn ich sie auf dem Bürgersteig marschieren sah, ihre Körper steif, als hätten sie einen Besenstiel verschluckt, ihre Schädel in komisch geformten, braunen Helmen. Auf ihrer Brust prangte der Adler mit den ausgebreiteten Schwingen, das Symbol ihrer Macht und Geltung. Wenn sich solche Patrouillen näherten, wechselten die Fußgänger meist die Straßenseite. Ich nicht.
Ich bin einer der Glücklichen, die in ihren Alpträumen nicht ständig vom Holocaust verfolgt werden. Aber ausgerechnet damals schien mein Selbstvertrauen angekratzt zu sein, und Zweifel schlichen sich in mein Unterbewusstsein, auch wenn ich sie nicht benennen konnte. Morgens erwachte ich wie gerädert. Ich träumte immer denselben Traum: Ich befand mich auf einem schmalen Pfad. Auf einer Seite ragten hohe Berge auf, auf der anderen Seite fiel ein Abgrund steil hinab, und eine unbekannte Gefahr zwang mich zu rennen, bis mir die Luft ausging. Ich fühlte einen Druck auf meinen Lungen, der mir das Gefühl gab zu ersticken, als ob ein schwerer Stein auf meine Brust gelegt worden wäre. Eines Nachts rüttelte mein Vater mich wach und fragte, ob ich krank sei.
»Ich bin in Ordnung«, antwortete ich ärgerlich, mit einer Spur von Selbstverteidigung. Ich mochte es nicht, wenn man mich in einem Moment der Schwäche ertappte.
»Du bist in Schweiß gebadet«, sagte er und zog mir die Decke über die Schultern. So hatte mich mein Kindermädchen, Hilde Baron, immer zugedeckt, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Mein unruhiger Schlaf schien ihn erschreckt zu haben. Dabei verbrachte er selbst ganze Nächte, in denen er kein Auge zutat. Machte er sich Gedanken? Hatte er Angst? Malte er sich die Zukunft aus? Welche Zukunft? Rettung oder Untergang? Niemals verlor er ein Wort darüber; und ich fragte nie. Je mehr die Wände des Hauses uns einschlossen, je länger wir in ihnen eingepfercht waren, desto mehr verkrochen wir uns in uns selbst.
Ohne dass ich es mir bewusst vorgenommen hatte, hörte ich auf, unnötig durch die Straßen Krakaus zu wandern. Ich schränkte meine Besuche bei Gretchen ein, nachdem sie einmal zwischen zwei Gläsern Likör bemerkt hatte, dass ihr mein brauner Teint gefalle. »Ich bin nicht verrückt nach der hellen Haut meines Volkes«, sagte sie. Am gleichen Abend stand ich lange vor dem Spiegel, betrachtete meine abstehenden Ohren, meine dunklen Augen und mein lockiges Haar. Ohne Zweifel trug mein Gesicht semitische Züge. Was Gretchen nicht erkannt hatte, konnte einem anderen durchaus auffallen. Meine Eltern hatten keine Ahnung, was mein Benehmen verändert hatte. Ich schrieb mich in der Leihbibliothek ein und lief nach der Arbeit schnell nach Hause, um die Bücher zu lesen, die ich mir ausgeliehen hatte. Die Bibliothekarin war sehr nett zu mir. Ich war einer der wenigen Kunden, die ihr noch geblieben waren – denn wer hatte noch einen klaren Kopf zum Lesen? Vor Ausbruch des Krieges hatte sie polnische Literatur an der Universität gelehrt, deshalb schätzte sie meine Fähigkeit, mich auszudrücken, und vielleicht auch meine ungewöhnliche Auswahl. Gern nahm ich ihre Vorschläge an. Sie führte mich von den französischen Klassikern zur polnischen Gegenwartsliteratur, erklärte mir die tiefe Bedeutung der Sprache Rabelais’ in Gargantua und Pantagruel und analysierte mit mir zusammen den Einfluss der Romantiker auf die nationale Bewegung am Ende des letzten Jahrhunderts. Manchmal, wenn sie in der richtigen Stimmung war, holte sie unter dem Tisch eine Ausgabe der Gedichte von Julian Tuwim hervor, dessen Werke, seiner jüdischen Abstammung wegen, nicht mehr herausgegeben werden durften, und sprach ausführlich über den Beitrag der Juden zur reichhaltigen polnischen Kultur. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wer ich war. Es wäre ihre nie eingefallen, dass ich Jude sein könnte.
Ich verschlang Unmengen von Büchern. Ich las bis spät in die Nacht, bis meine Mutter oder mein Vater sich einmischten und verlangten, dass ich das Licht löschte. Aber im Gegensatz zu unserem Aufenthalt in Kruczeks Kate identifizierte ich mich nicht mit den Gestalten, die die Autoren geschaffen hatten. Ihr Schicksal berührte mich nicht. Ich las ohne emotionale Beteiligung; ich betrachtete es als eine reine Anhäufung von Wissen. Mein Gehirn registrierte die dargestellten Helden, als wären sie Gegenstände, die es bei der Inventur eines Warenhauses zu erfassen gilt.
»Das sollte dich interessieren«, sagte die Bibliothekarin und gab mir ein dickes Buch, die Geschichte des Oberst Redl, eines russischen Spions im Hauptquartier der österreichisch-ungarischen Armee während des Ersten Weltkriegs. Ich nahm das Buch unter den Arm und ging hinaus. Es war fünf Uhr nachmittags. Auf der Straße waren wenige Leute. Es war eine enge Straße im alten Viertel von Krakau, auf beiden Seiten von Häusern aus dem vorigen Jahrhundert umsäumt. Der Putz bröckelte von den Häuserwänden, die mit feuchtem Moos bedeckt waren. An der Ecke lag das Geschäft von Herrn Kulka, einem Optiker, der mich grüßte, wenn ich manchmal vor seinem Schaufenster anhielt, um die bunten Lichter der Reklame für Zeiss-Linsen zu betrachten. Auch dieses Mal blieb ich vor dem Fenster stehen, und in einem ausgelassenen Augenblick zwinkerte ich dem bemalten Auge zu, dessen Pupille mich anblinkte. Wahrscheinlich fiel mir deswegen die Patrouille nicht auf; ich bemerkte sie erst, als die Männer hinter mir standen und einer von ihnen mit Stentorstimme befahl: »Kennkarte!«
Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Gendarm, der mich um zwei Köpfe überragte. Ohne zu zögern, gab ich ihm meinen Personalausweis. Der Deutsche hatte Schwierigkeiten, den gefälschten polnischen Namen auszusprechen, zeigte den Ausweis seinem Kollegen, der zuckte mit den Achseln, um anzudeuten, dass auch er diese verfluchte Sprache nicht lesen könne. Alles verlief routinemäßig. Unaufgefordert zeigte ich ihnen auch die Erlaubnis des Arbeitsamtes. Auf dem offiziellen Briefpapier, geschmückt mit dem Emblem des Reiches, stand ausdrücklich, dass ich in einer Firma arbeitete, der die Nazis hohe Priorität einräumten.
Am Ende der Straße tauchten einige Leute auf, ihrer Kleidung nach zu schließen, Arbeiter auf dem Weg nach Hause. Als sie merkten, was sich ereignete, verschwanden sie schnell um die Ecke. Nur ein Mann, der mir vorher nicht aufgefallen war, blieb, stand regungslos etwa zwanzig Meter von Kulkas Optikerladen entfernt mitten auf dem Bürgersteig, auffällig untätig, in einer Art Erwartung dessen, was kommen würde. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, klein und mager, trug einen grauen Anzug, der schon längst aus der Mode war, und einen schwarzen Hut. Solche Gestalten sah man nicht jeden Tag in den Straßen Krakaus. Ich fragte mich, warum er nicht auch wie die anderen das Weite suchte, schließlich wusste man nie, was den Nazis einfallen würde; ganz plötzlich konnten sie auch ihn zur Kontrolle heranwinken. Vor allem da man nicht die Wachsamkeit eines Gendarmen haben musste, um auf ihn aufmerksam zu werden; sein schäbiges Aussehen und sein leichtes Schwanken waren auffällig genug. Plötzlich erinnerte ich mich an Bialskis Warnung, vor entflohenen Juden auf der Hut zu sein. Ein Jude?, schoss es mir durch den Kopf. Sofort schob ich den Gedanken wieder beiseite. Unmöglich. Der Fremde machte nicht den Eindruck eines verängstigten Menschen. Auch ich hatte keine Angst. Es war mir schon passiert, dass ich mich ausweisen musste, dass meine Papiere kontrolliert wurden und man mich weitergehen ließ. Auf jeden Fall stellte ich keinerlei Verbindung zwischen dieser eigenartigen Person und den Gendarmen her, bis sich einer der Uniformierten, der noch immer meinen Ausweis in der Hand hielt, nach ihm umdrehte und ihn ansah. Der Mann mit dem Hut nickte. Es war eine langsame, fast zufällige Bewegung, ein Art Signal, das nur Eingeweihte verstehen konnten. Ich begriff noch immer nicht.
»Jude?«, fragte der Polizist. »Wieso Jude?«, antwortete ich in gebrochenem Deutsch, wie es die meisten Polen sprachen.
Nun fragte er nicht mehr. Er stellte fest: »Jude.«
»Aber das ist verrückt«, antwortete ich, noch selbstsicher. »Ich arbeite für Hauptsturmführer Kunde, für die Sturmbannführer Haase, Heuer und Frumer, die Herren der Gestapo.« Wie ein Zauberer zog ich meine Trumpfkarte aus meinem Ärmel, die lange Liste der Bestechungsempfänger. Gretes Namen nannte ich nicht.
Die Gendarmen machten erstaunte Gesichter. Die Hand des Großen blieb mit meinem Ausweis in der Luft hängen. In der nächsten Sekunde, davon war ich überzeugt, würde er ihn mir zurückgeben, und die ganze Sache wäre vorbei, als ob sie nie passiert wäre. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht hatte oder was in dem Kopf des anderen Gendarmen vorging, der plötzlich sagte: »Einen Moment noch. Wir müssen uns beraten.«
»Was gibt es da zu beraten?«, entgegnete ich frech.
»Halt’s Maul!«, schrie der Große und steckte meine Papiere ein. Sein Partner trat einige Schritte zurück und flüsterte mit dem Mann mit dem Hut. Gespannt verfolgte ich das Geschehen. Ich wurde unruhig. Wenn ich auch die Bedeutung der Falle noch nicht erfasst hatte, so ahnte ich doch, dass ich mich in Schwierigkeiten befand. Ich hatte recht. Der Gendarm beendete seine Unterredung, kam zurück, stieß mir seine Faust in den Rücken und schob mich zum nächsten Haus.
»Hier hinein, durch das Tor.«
Ich kniff die Augen zusammen; der Hausflur war stockdunkel. Am Ende sah ich eine Treppe. Es war ein dreistöckiges, altes Haus, eines von jenen historischen Gebäuden, auf die die Krakauer stolz waren. Die Lampe im Deckengewölbe brannte nicht. Der Gendarm wollte das Licht einschalten, aber der Schalter war kaputt – oder die Bewohner hatten die Leitung abgestellt, um Strom zu sparen. Jedenfalls hatte er kein Glück. Er fluchte. Das Grinsen des zweiten Gendarms konnte ich nicht sehen, aber ich hörte, wie er sagte:
»Spar dir die Flüche für deine Frau auf. Lass uns diesen Judenbastard fertigmachen, dann ist alles in Ordnung.«
Werden sie mich hier erschießen und weggehen? In meiner Vorstellung sah ich meine Leiche auf dem Steinfußboden liegen. Nun wusste ich, dass ich in großer Gefahr war, dass nur ein Wunder mich noch retten konnte. Doch ich glaubte nicht an Wunder, und sie hatten nicht vor, mich zu töten.
»Zieh deine Hose herunter«, befahl mir der Kleinere.
»Ich verstehe nicht«, antwortete ich. Was für ein lächerlicher Versuch, Zeit zu gewinnen und das Unvermeidliche hinauszuzögern!
»Schneller, schneller«, trieb der Gendarm mich an und zeigte mir mit der Hand, was ich machen sollte. Es hatte keinen Sinn mehr, mich dumm zu stellen. Der Spion Redl klemmte noch unter meinem Arm. Ich legte das Buch auf den Boden. Der Gendarm hob es auf, blätterte darin und warf es achtlos weg.
Plötzlich flammte die Lampe an der Decke auf. Am Ende des Flurs, direkt neben der Treppe, öffnete sich knarrend die Tür der Parterrewohnung. Nur einen kleinen Spalt breit, doch weit genug, dass ich das Gesicht einer Frau erkennen konnte. Sie trug einen geblümten Hausmantel, und aus ihrem runden Gesicht mit der Adlernase schauten mich zwei hervorquellende Augen neugierig an. Die hallenden Stimmen der Gendarmen hatten sie angelockt. Unsere Blicke kreuzten sich eine Sekunde lang. Begriff sie, was hier geschah? Ich öffnete meinen Gürtel. Sie kam auf uns zu, lächelte die Deutschen an. Die Gendarmen ignorierten sie. Meine Hose fiel auf meine Fußknöchel.
»Auch die Unterhosen.«
Ich tat, wie befohlen. Ich wusste nicht, was mir unangenehmer war: die Angst vor der sicheren Entdeckung oder die Scham, nackt vor einer fremden Frau zu stehen. Es war eine erniedrigende Pose, meine Füße durch meine Unterhose gleichsam gefesselt, sodass ich mich nicht bewegen konnte. Instinktiv verdeckte ich meine Genitalien mit den Händen.
Der kleinere der Gendarmen zog seine Pistole aus dem Halfter und stieß meine Hand mit dem kalten Ende des Laufs weg. Dann nahm er seinen Helm ab, bat seinen Kameraden, ihn zu halten, und beugte sich über mein Glied, das zusammengeschrumpft und weich wie ein Gummischlauch herunterhing. Er betrachtete es prüfend wie ein Sammler, der ein neues, unbekanntes Stück untersucht. Dann richtete er sich wieder auf und platzte wütend heraus: »Weiß der Teufel.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Sie wussten zwischen einem Beschnittenen und einem Unbeschnittenen nicht zu unterscheiden. Doch zum Aufatmen war es zu früh.
»Ruf unseren Juden; er versteht etwas davon«, verlangte er von seinem Kollegen. Der Mann mit dem Hut eilte herbei. Er zögerte einen Augenblick am Tor, und sein langer Schatten fiel auf mich.
»Auf was wartest du?«, schimpfte der Große.
»Ich komme schon, ich komme schon«, entschuldigte sich der Mann. Lautlos kam er näher. Seine Schuhe hatten Gummisohlen.
»Dummkopf«, murmelte er auf Jiddisch. Er brauchte keine genaue Untersuchung. Er bückte sich zu mir hinunter und erhob sich gleich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Sein Gesichtsausdruck war beredt genug. Nun wussten sie, dass sie ihre Beute gefasst hatten.
Der Große zog meinen Ausweis aus der Tasche und las mit lauter Stimme die angegebene Wohnadresse vor.
»Da wohnst du?«
»Ja.«
»Wer wohnt mit dir?«
»Niemand. Ich lebe allein.«
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen.«
»Meine Großmutter ist tot.«
»Das werden wir bald herausfinden. Lass uns gehen.«
Aus meinen Augenwinkeln sah ich die Frau mit dem geblümten Hausmantel in ihrer Wohnung verschwinden. Die Tür am Ende des Flurs schloss sich, diesmal ohne das Knarren der Scharniere. Der Denunziant mit dem Hut war ebenfalls verschwunden. Niemand löschte das Licht. Wir traten auf die Straße. Das Buch, das ich auf dem Boden des Hausflurs liegengelassen hatte, fiel mir ein.
Die Bibliothekarin wird böse auf mich sein, schoss es mir durch den Kopf.
Die Gendarmen befahlen mir, zwei Schritte vor ihnen zu gehen. Ich lief voraus in dem Wissen, dass mein Vater zu Hause sein und die Tür öffnen würde, um mich eintreten zu lassen – und herein käme der Tod. Ich hoffte inständig, dass meine Mutter noch nicht von der Arbeit zurück war und wenigstens sie gerettet würde. Und ich hoffte von ganzem Herzen, dass sie nie, niemals die Wahrheit erfuhr.
Der Ort, an dem sie mich festgenommen hatten, lag etwa fünfzehn Minuten von unserer Wohnung entfernt. Keiner der Leute, die an mir vorbeigingen, brachte mich mit den uniformierten Männern in Verbindung. Sie hatten mir befohlen, mich so zu verhalten, als wären wir uns fremd, aber ich wusste, dass ihre Waffen entsichert waren und jeder Fluchtversuch mit Schüssen enden würde. Meine Leichtfüßigkeit und meine Kenntnis der Gegend waren vergessen. Ich war ohne Handschellen gefesselt. Ich fühlte mich wie einer, den der Henker zum Galgen führt. Im Westen ging die Sonne unter und tauchte die Stadt in ein leuchtendes Rot. Mich überfiel ein schreckliches Schuldgefühl.