Zwei Tage bevor er starb, bedeutete mein Vater mir, mich auf die Kante seiner Pritsche zu setzen. Ich merkte, dass er mit seiner körperlichen Kraft am Ende war, doch seine geistige Kraft war zurückgekehrt, und er war klar. Ich wusste, dass die Besserung nur vorübergehend war. Viele Typhuspatienten erholten sich kurz, um dann wieder in die Leere zu versinken, in der der Verstand nicht mehr funktioniert. Mit ruhiger Stimme, wie ein Mann, der an dem Punkt angelangt ist, von dem es kein Vor und kein Zurück mehr gibt, beschrieb er mir die Welt nach dem Ende des Krieges.
»Nach diesem Krieg wird es keine Welt mehr geben«, sagte ich. Die Worte platzten mit einer Aggressivität aus mir heraus, die ich gar nicht beabsichtigt hatte und bevor mir klar wurde, was sie ihm antun würden. Ich wusste nicht, woher diese plötzliche Heftigkeit kam. Die Nazis hatten uns nicht nur mit einem Stacheldrahtzaun umgeben, sondern auch mit einer Mauer aus Verboten, aus Vorschriften und Befehlen, die von uns absoluten Gehorsam verlangten. Es ist möglich, dass ich mich nur hier frei von diesen Mauern fühlte, dass es mir erlaubt schien, den Dampf abzulassen, der sich wie in einem Kessel in mir aufgestaut hatte. Ich war unfähig zu der Erkenntnis, dass das nahende Ende bei einem Menschen den Drang auslöst, sich die Zukunft auszumalen, wie wir sie gerne hätten, dass es leichter ist, in Hoffnung als in Angst zu sterben. Ich war müde nach dem langen Arbeitstag und konnte oder mochte mich vielleicht auch nicht mit Spitzfindigkeiten abgeben. Mein leerer Magen war wie eine Pumpe, die versuchte, mich in sich hineinzusaugen.
»Solange es noch einen Gott gibt …«, antwortete er.
Es war eigenartig, diese Worte von einem Mann zu hören, dessen Hände nie ein Gebetbuch gehalten hatten. Ich wollte etwas Sarkastisches über die Hoffnung derer sagen, die an Gott glauben, während Er, der allmächtige Bastard, sie in dem Moment verlässt, wo sie ihn am nötigsten brauchen, aber ich hielt mich zurück.
Mein Vater gab mir zu verstehen, dass ich näher kommen solle, um ihn besser hören zu können. Seine Krankheit hatte ihn so geschwächt, dass er nach zwei bis drei Sätzen keine Kraft mehr hatte und sich ausruhen musste. Seine Wangen wurden grau und sein Atem schwach. Das Ende klopfte bereits an seine Herzkammern. Ich beugte mich über ihn, um seine Worte zu verstehen: »Wenn all dies vorbei ist, fahre nach Garlica Duchowna, zu Kruczek. Du erinnerst dich doch an ihn? Er ist der Mann, in dessen Haus wir uns im Sommer ’42 versteckten. Er wird dir einen kleinen Koffer geben. In dem Koffer wirst du Aktien der polnischen Nationalbank im Wert von zwanzigtausend Dollar finden. Es ist eine sichere Anlage. Immer solide, wie ein Fels. Du wirst sie mühelos zu Geld machen können. Menschen sterben, Häuser werden zerstört, ganze Städte verschwinden von der Landkarte, aber die Banken sind ewig, wie die Luft, das Wasser und das Land. Jawohl, auch das Land ist nicht von den Launen der Natur oder denen der Menschen abhängig. Ich habe auch darin investiert. Neben den Aktien wirst du einen blauen Aktendeckel finden, der eine Zusammenfassung der Verzeichnisse des Immobilienbuches enthält. Uns gehört ein Streifen Land in Bielitz und etwas Grund in Krakau. Das ist genug, um ein neues Leben anzufangen. Verschwende das Geld nicht. Ich will, dass du dein Studium abschließt. Reise nach England, suche dir das beste College im Land und komme nicht ohne Diplom nach Hause.«
»Von welchem Zuhause sprichst du denn?«, herrschte ich ihn an. »Glaubst du wirklich, dass Paula noch in der Tür steht und auf uns wartet?«
»Für deine Heimkehr, für deine Heimkehr«, flüsterte er.
Vielleicht hätte ich ihm widersprechen sollen, aber ich blieb still. Er hörte auf zu sprechen und rang nach Luft, wie ein Läufer, dessen Kräfte nachlassen, der aber nicht aufgibt und sich auf den Endspurt vorbereitet. Seine Finger zitterten nervös. Der Sanitäter, der bei der Tür gedöst hatte, ging langsam die Pritschen entlang, um nachzusehen, ob es Tote gäbe, die man vor der Sperrstunde hinaustragen müsse.
»Hörst du mir zu?«, fragte mein Vater, als ob er von einem ermüdenden, weiten Ausflug zu mir zurückgekehrt wäre.
»Natürlich höre ich zu.«
»Gut. Vielleicht solltest du nicht nach England fahren. Vielleicht ist alles nur ein Traum. Vielleicht willst du nicht studieren. Vielleicht ist all dies Zeitverschwendung. Ich verlange nur eins: dass du ein Mensch wirst. Ein guter Mensch. Dass du die Sitten der Lager nicht mit in dein neues Leben nimmst. Dass du das Gesetz des Dschungels nicht akzeptierst. Dass du alles vergisst, was du hier gelernt hast. Lüge und Betrug schaden deinen Mitmenschen. Die Verachtung des Gesetzes und der Ehrlichkeit. Und versprich mir, dass du nie – hörst du? –, nie stehlen wirst.«
Ich war verblüfft: Hatte er meine geheimen Gedanken erraten, die Gedanken, die sich nur auf das Brot konzentrierten, das er unter der Matratze versteckt hielt?
»Bitte, ruhe dich aus, du übernimmst dich.«
»Versprich es«, beharrte er.
»Ich verspreche.« Meine Worte überzeugten ihn nicht, denn er befahl mir, es zu wiederholen. »Ich verspreche«, sagte ich deutlicher, obwohl ich noch immer nicht verstand, was ihn bewegte. »Plagt dich etwas, Vater?«
»Ich will, dass du ein ehrlicher Mann wirst.«
Hätte ich ihm antworten sollen, dass hier im Lager Ehrlichkeit nur zur Vernichtung führte? Hätte ich mit einem Mann diskutieren sollen, der auf dem Sterbebett lag? Ich nickte nur, um ihn wissen zu lassen, dass ich gehört hatte.
Und plötzlich ergriff er meine Hand. »Erinnerst du dich an das Geld, das du in Teschen gestohlen hast? Wie viel war es? Fünf Kronen?«
»Du hast das gesehen?«
»Ich habe es gesehen.«
»Es waren nur zwei Kronen«, stammelte ich, als ob das einen Unterschied machte.
Mein Vater richtete sich ein wenig auf und rief unter Aufbietung seiner letzten Kräfte: »Das ist völlig egal! Das ist völlig egal!«
Ein Häftling, der auf der benachbarten Pritsche im Sterben lag, schaute uns verwundert an. Der Kopf meines Vaters fiel auf die schmutzige Matratze zurück. Vorsichtig entwand ich meine Hand seinem Griff. Ich spürte Feuchtigkeit. Seine Hand war mit kaltem Schweiß bedeckt.
»Das Gespräch erschöpft dich. Warum bringst du die vergessene Vergangenheit zurück, warum gerade jetzt?«
»Weil es keine andere Gelegenheit geben wird.«
»Warum hast du bis jetzt geschwiegen?«
Er schloss seine Augen nicht, sondern starrte an die Decke und sprach wie ins Leere: »Was du damals getan hast, hat mich jahrelang geärgert. Ich wusste selbst nicht, warum. Ich wusste nicht, warum ich so lange schwieg. Heute sehe ich die Dinge klarer. Du verstehst sicher, warum. Du bist kein Kind mehr. Als du damals die Münze aufgehoben und in deine Tasche gesteckt hast, empfand ich ein starkes Gefühl des Versagens. Ich fragte mich, was ich falsch gemacht hatte und wie es passieren konnte, dass ich dich nicht richtig erzogen hatte. Immer wieder dachte ich darüber nach, ohne eine Antwort zu finden. Aber jetzt … jetzt darf man schon ein menschliches Versagen zugeben. Niemand auf der Welt wird meine Unterlassungssünde verurteilen.«
Ich schwieg.
»Bist du da?«, fragte er, ohne mich anzusehen.
»Ich bin da.«
»Die Welt wird anders sein. Ich meine die Welt, die aus dem Chaos geboren wird. Alles wird neu beginnen. Die Menschen werden aus dem Unglück lernen, das sie über sich gebracht haben. Sie werden klüger und besser sein. In der neuen Zeit wird Ehrlichkeit hochgeschätzt sein. Es ist schade, dass ich nicht an den ganzen Blödsinn eines Lebens nach dem Tode glaube. Ich werde es nicht von oben sehen.«
»Vater!«
»Sch, sch, unterbrich mich nicht. Gute Menschen …«
»Es wird keine guten Menschen geben, Vater. Gute Menschen sind dem Untergang geweiht.«
»Wer hat dich das gelehrt? Du bist doch noch ein Junge. Warum redest du wie ein enttäuschter alter Mann? Warum? Du bist doch erst zwölf Jahre alt.«
»Fünfzehn, Vater.«
»Nein. Diese Jahre, die Kriegsjahre zählen nicht. Sie müssen aus deiner Biographie gelöscht werden. Es gibt keinen Grund, sich an sie zu erinnern. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht sollte man sich an das Schöne erinnern. An die Menschen, die sich nicht an die Welt des Bösen anpassten. Leute wie Kruczek oder Król. Witold Król und seine Frau … Geh jetzt und ruh dich aus. Komm morgen wieder. Erinnerst du dich an Król?«
»Ich erinnere mich«, sagte ich, um ihn aufzuheitern.
»Und vergiss nicht, dass du mir zwei Kronen schuldest«, fügte er hinzu, vielleicht um zu zeigen, dass er noch etwas Humor besaß, vielleicht auch, um dem Gesagten die Bitterkeit zu nehmen.
Ich zerdrückte noch einige Läuse, die auf der Wolldecke herumkrochen, deckte seine nackten Schultern zu und ging hinaus. Die Scheinwerfer auf den Wachtürmen flammten auf. Ihr strahlendes Licht wetteiferte mit der Glut der untergehenden Sonne. Die Wachen kamen aus den SS-Gebäuden, ihre Schäferhunde an der Leine. Abgerichtet, ihre Beute zu zerfleischen, auch wenn sie satt waren, bellten sie. Stakkatobellen, das einen erschaudern ließ. Sie blieben hinter mir, als ich schräg über den Appellplatz ging, um den Weg zu meiner Baracke abzukürzen.
Fredek Minz wartete dort auf mich. Wir waren im gleichen Alter, waren im gleichen Waggon, im gleichen Zug nach Starachowice gekommen und Freunde geworden. Unsere Wege trennten sich erst, als wir ein Jahr später nach Auschwitz gebracht wurden. Von dem Bund, der stark genug schien, alle Hürden der Zeit zu überwinden, blieb nur ein kleiner Lichtpunkt in der Erinnerung. Vielleicht weil unsere Freundschaft aus zufälliger Notwendigkeit geboren war und mit dem Grund auch der Zweck des Bundes verschwand.
Fredek Minz war das Kind eines Armenviertels, Sohn eines jüdischen Anstreichers, der mit Gelegenheitsarbeiten seine kinderreiche Familie ernährte und die Gesetze des Schicksals widerstandslos hinnahm. Wie sein Vater hatte auch Fredek einen freundlichen Charakter und eine bewundernswerte Fähigkeit zur Anpassung. Ich war geschmeichelt, dass er meine Autorität widerspruchslos akzeptierte, und insgeheim beneidete ich ihn um sein Talent, vor sich hin zu träumen. Irgendwie gelang es ihm immer, aussichtslose Situationen mit seinen Träumen zu verhüllen, und wenn er mutlos war, fand er Zuflucht in seiner imaginären Welt. Ich dagegen hatte gelernt, mich in den Schlupfwinkel der Rationalisierung zurückzuziehen. Ich analysierte Situationen und Erscheinungen mit der Logik eines frühreifen Kindes, mitunter wie ein Buchhalter, der beweisen kann, dass zwei und zwei fünf ergibt. Er ging den entgegengesetzten Weg. Fredek war fähig, Schlammwasser in Rinderbrühe, eine verfaulte Kartoffel in eine Delikatesse und unsere Pritsche in ein königliches Bett mit Baldachin zu verwandeln. Manchmal versuchte er, mich in sein Phantasiezelt zu locken, jedoch ohne Erfolg. Meine Einbildungskraft gehorchte meinem Willen nicht mehr.
Fredek Minz konnte träumen, ohne ein Träumer zu sein. Wenn er keinen Stoff mehr fand, mit dem er die Realität bemänteln konnte, akzeptierte er sie ohne Gegenwehr. Im April wurde sein Vater gefasst, als er einen kleinen Sack Roggenmehl ins Lager zu schmuggeln versuchte. Der lettische Wächter erschoss ihn noch am Eingangstor. Ich wusste, dass Mitglieder seiner Familie, seine Mutter und zwei Schwestern, im Krakauer Ghetto ermordet worden waren. Seit der Zeit hatte er all seine Gefühle auf seinen Vater gerichtet. Ich sagte nichts zu ihm, weil ich nicht wusste, wie man einen Sohn tröstet, der seinen Vater verloren hat. Aber er suchte gar kein Mitleid, sondern umarmte mich nur, sagte kurz: »Das ist es dann«, und sprach nie mehr darüber – bis mein Vater in die Sterbebaracke eingeliefert wurde.
Als ich kurz vor acht von dort zurückkam, begrüßte er mich mit dem Vorschlag: »Jetzt, da beide nicht mehr da sind, sollten wir eigentlich unter einer Decke schlafen. Wir können die andere gegen Brot tauschen.«
»Was redest du da? Mein Vater ist nicht tot.«
»Er atmet noch, ist aber genauso tot wie mein Vater.«
»Das stimmt nicht, ich habe gerade mit ihm gesprochen.«
»Mach dir nichts vor! Es wird dir nicht gelingen. Die Wahrheit steht dir ins Gesicht geschrieben. Du hast ihn an dem Tag begraben, an dem er in diese Baracke gebracht wurde. Sei nicht dumm, Roman. Du weißt genau, dass er nie wieder eine Wolldecke brauchen wird. Also wozu das ganze Theater?«
Er hatte ins Schwarze getroffen. Es gab immer noch Gedanken, die ich nicht laut auszusprechen wagte. Ich belog mich lieber selbst.
»Nun?«
»Was eilt so?«, fragte ich, doch in meinem Herzen wusste ich bereits, dass er recht hatte. Für die Wolldecke bekamen wir zwei Laibe Roggenbrot und ein Pfund Marmelade aus Runkelrüben, mit künstlichem Süßstoff gesüßt. Ich sagte meinem Vater nichts. Nur einmal, als sich unsere Blicke kreuzten, stieg der schreckliche Gedanke in mir auf, dass ich an seiner Rückkehr nicht mehr interessiert war und dass ich sein Leben für einen Topf Linsen verkauft hatte. Aber Gewissensbisse hatte ich noch immer nicht. Die wunderbare Welt, von der er gesprochen hatte, war noch nicht geboren.
Nachts deckten Fredek und ich uns mit einer Decke zu. Als der Herbst kam und die Kälte uns immer mehr quälte, schliefen wir aneinandergepresst wie zwei Teelöffel. Manchmal atmete ich auf seinen Hals, und wenn wir uns umdrehten, spürte ich seinen Atem auf meinem. Es war, als ob die körperliche Nähe, die nichts anderes war als das Verlangen nach doppelter Wärme, uns noch fester verband. Ich war zwar gewillt, eine Wolldecke, nicht aber meine Gedanken mit ihm zu teilen. Fredek besaß eine Art Druckmesser, der es ihm ermöglichte, den Grad seiner emotionalen Verwicklung in verschiedene Ereignisse zu messen. Er verfügte gleichfalls über den Takt, keine überflüssigen Fragen zu stellen. Der Kapo schloss die Tür, das Zeichen, dass es von nun an bis zum morgendlichen Appell verboten war, sich außerhalb der Baracken zu bewegen. Es waren noch drei Minuten bis zum Löschen der Lichter. Als sie ausgingen, blieb ich im Dunkeln, unter der Decke mit Fredek Minz, Witold Król und meinen allmählich verschwimmenden Gedanken. Ich wusste nicht, ob ich schlief oder wachte. Mein Körper war losgelöst von der Schwerkraft der Erde, und ich hatte das Gefühl zu schweben. Nein, nicht zu schweben, sondern langsam in eine unendliche Leere zu fallen, und vielleicht war es auch kein Fall in die Leere, sondern eine Fahrt im Fahrstuhl der Erinnerungen, einen tiefen Schacht hinunter, bis zum tiefsten Punkt der Vergangenheit.
Ich erzählte Fredek auch nichts von der Familie Król, und das aus gutem Grund. Ich erinnerte mich noch gut an sie: Witold, seine Frau Helena und ihre Tochter Jadwiga. Sie wohnten in Lemberg in der Wohnung neben uns, kurz vor der Besetzung der Stadt durch die Deutschen. Witold Król war ein ruhiger, bescheidener Mann. Sein ganzes Leben hatte er in der Eisenbahnverwaltung als kleiner Beamter, aber mit »vollem Pensionsanspruch«, wie er oft betonte, gearbeitet. Seine Frau half ihm, die Familie zu unterhalten, manchmal als Haushälterin, zuweilen als Wäscherin. Sie kannte kaum eine ruhige Minute. Jadwiga war sechs Jahre älter als ich und interessierte mich deswegen nicht. »Ich will Schauspielerin werden«, erklärte sie jedem, der es hören wollte. Ihre Mutter tat das Gerede mit einer Handbewegung ab, ihr Vater hörte jedoch geduldig zu. Jadwiga ging aufs Gymnasium und absolvierte dort Kurse in Büroarbeit, damit sie eines Tages die Verbindungen ihres Vaters würde nutzen können, um eine bescheidene Stelle in der Eisenbahngesellschaft zu ergattern.
Meiner Ansicht nach war unsere Bekanntschaft über höfliche Begrüßungen nicht hinausgegangen. Nur zwei oder drei Monate nach unserer Deportation nach Starachowice verriet mein Vater mir jedoch, dass er ihnen einen Teil unserer Habe zur Aufbewahrung gegeben hatte. Er habe nie an der Aufrichtigkeit unserer Nachbarn gezweifelt, sagte er, und nun sei der Zeitpunkt gekommen, dies zu überprüfen. Im Stahlwerk trafen wir täglich mit einheimischen Arbeitern zusammen. Die meisten waren schon vor der Besetzung eingestellt worden, und in Anbetracht ihrer beruflichen Qualifikation wurden sie von den deutschen Verwaltern menschlicher behandelt. Jeder Verkehr mit ihnen war strengstens verboten und zog Bestrafungen nach sich – wir wurden geschlagen, und ihnen wurde etwas von ihrem Gehalt abgezogen. Beide Seiten achteten mit äußerster Vorsicht darauf, nicht bei einem Gespräch ertappt zu werden. Trotzdem war es meinem Vater gelungen, zu einem der polnischen Handlanger, der sich frei auf dem ganzen Stahlwerksgelände bewegen konnte, Kontakt aufzunehmen. Es war ein weitläufiges Gelände, das sich von dem namenlosen Fluss bis zur Eisenbahnlinie erstreckte, rundum mit Stacheldraht umzäunt. Der Handlanger kannte jeden Winkel in den alten Gebäuden, zwischen denen sich dicke Rohre wie Schlangen wanden. Es fiel ihm leicht, ein Versteck zu finden, wo die beiden reden konnten, ohne von den Aufsehern gesehen zu werden. Sie vereinbarten, dass mein Vater Herrn Król in Lemberg schreiben und der Handlanger den Brief dann frankieren und adressieren würde. Sobald das Geld ankam, sollte er Brot und Milch für uns kaufen. Die rote Nase des Handlangers verriet eine gewisse Schwäche für alkoholische Getränke. Ein Mann, der trinkt, kann immer etwas Geld gebrauchen. Für seine Hilfe sollte er die Hälfte der erwarteten Summe bekommen.
Ich glaubte nicht, dass der Mann sich an das Abkommen halten würde. Warum sollte er auch? Selbst wenn er alles einstrich, waren uns die Hände gebunden. Bei wem hätten wir uns denn beschweren sollen? Vielleicht bei dem Allmächtigen, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er Engel hat, die Schulden eintreiben. Der Handlanger konnte immer behaupten, keine Antwort aus Lemberg erhalten zu haben oder dass er die Vereinbarung aufkündigen musste, da er befürchtete, verraten zu werden. In den Stahlwerken fehlte es nicht an Denunzianten, die die Aufseher gern informierten, wenn wir etwas Unerlaubtes taten. Und die Kneipen der Stadt waren sicher eine enorme Versuchung für einen Mann wie ihn. Doch schnell stellte es sich heraus, dass ich mich geirrt hatte. Zwei Wochen später meldete er uns, dass die Antwort der Familie Król eingetroffen sei. »Du siehst«, freute sich mein Vater, »es gibt noch Gerechte in Sodom.«
Von jenem Tag an versteckte der Mann eine Flasche Milch und einen halben Laib Brot in einem Schrotthaufen am Ende des Hofes, wo die Kohlenwagen wegen einer Kurve langsamer fahren mussten. Mein Vater konnte vortäuschen, sich bücken zu müssen, um nachzusehen, ob der Wagen aus den Schienen geraten war. Tatsächlich nahm er in diesem Moment das Päckchen an sich. Vater trank jeweils nur einen kleinen Schluck und aß ein kleines Stück Brot. »Ich bin nicht hungrig«, erklärte er dann und drängte mich, den Rest so schnell wie möglich aufzuessen, da niemand wusste, was passieren konnte. Hätten die Deutschen uns erwischt, wären wir wahrscheinlich gefoltert worden, damit wir die Identität unseres Wohltäters preisgäben. Und hätten unsere Mitgefangenen unser Geheimnis entdeckt, hätten wir unser Essen mit ihnen teilen müssen. Also benahm ich mich wie ein artiger Sohn. Das klebrige Brot füllte meinen Mund: ein himmlischer Geschmack. Nur ein Dummkopf hätte geglaubt, dass mein Vater wirklich keinen Hunger hatte.
Im Gegensatz zu ihm war Fredeks Vater ein gläubiger Mann. Er sprach viel über das Leben nach dem Tod, über Himmel und Hölle. Was das anging, hatte er festgefügte Ansichten. Es fiel mir schwer zu verstehen, wie ein einfacher Anstreicher von sich aus mit so theoretischen Gedanken daherkommen konnte; und es gelang mir nie zu ergründen, was er damit meinte, wenn er behauptete, dass die Hölle kein bestimmter Ort sei, sondern lediglich ein Symbol für die Abwesenheit geistigen Daseins, ein Vakuum ohne einen menschlichen Gedanken. Das Paradies hingegen sei ein Platz, an dem es kein Leid und keine Schmerzen gebe, da nichts und niemand aus Fleisch und Blut in ihm sei.
Mit der Frechheit eines Jugendlichen, der alles weiß, forderte ich ihn heraus. »Wie kann jemand an Ihrem Himmel Gefallen finden? Die meisten Genüsse hängen mit dem Körper zusammen: das Vergnügen des Essens, die Freuden der Liebe und sogar die Genugtuung, sich nach einem ermüdenden Arbeitstag auszuruhen. Wie kann all dies von einer Seele empfunden werden, die keine fleischliche Hülle mehr hat? Und wie kann ich die Abwesenheit von Schmerz und Trauer genießen, wenn ich nicht weiß, was Schmerz und Trauer sind? Woran soll ich den Unterschied erkennen?«
»Du bist frühzeitig reif geworden und verstehst immer noch nichts«, nickte der alte Minz. »Sie haben das Kind in dir getötet, und du hast keinen Schmerz und keine Trauer empfunden. Du hast nicht einmal gemerkt, wann es geschah.«
»Mein Vater sagt, dass es Zeiten und Erlebnisse gibt, an die man sich besser nicht erinnert.«
»Es nützt nichts, sich etwas vorzumachen. Auch wenn du die gesamte Genesis aus der Bibel herausreißt und dich stattdessen an Darwin hältst, die Wege der Schöpfung kannst du nicht ändern.«
»Erzählen Sie mir nicht, dass es Ihnen egal ist, ob Sie leben oder sterben.«
»Es ist mir nicht egal. Ich halte an meiner Existenz fest, weil ich das Leben liebe, nicht, weil ich vor dem Tod Angst habe. Das ist der große Unterschied, lieber Junge, auch wenn du das Wesentliche daran nicht begreifst.«
»Ich werde es erst gar nicht versuchen, Herr Minz.« Diesmal antwortete er mir nicht. Ich war für ihn kein ernstzunehmender Gesprächspartner. Weder hatte ich wie er täglich eine Seite der Gemara (aus dem Talmud) studiert, noch hatte ich auf jede Frage eine Antwort, die den Weisen Israels entsprach. Aber in den Momenten, da ich in das Brot biss und die Milch schlürfte, die unser trinkender Helfer uns gebracht hatte, wusste ich genau, dass ich in einer Sache recht hatte: Nur Hunger erzeugt die richtige Würdigung des Sattseins.
Es ist fraglich, ob ich ohne diese zusätzliche Ration die schwere Arbeit in der Gießerei überstanden hätte. Vielleicht wäre auch mein Vater nicht erkrankt, wenn er nicht den Großteil seiner Portion an mich abgegeben hätte. Ich hoffe, dass es wirklich stimmt, was ich in meinen »theologischen« Debatten mit Vater Minz behauptete: dass es nach dem Tod nichts als die Aufhebung der menschlichen Existenz gibt, sodass ich nie über meine Taten Rechenschaft ablegen muss. Bis zur Niederschrift dieser Zeilen habe ich niemandem davon erzählt, nicht einmal Fredek Minz. Unsere Partnerschaft beinhaltete eine Wolldecke, nicht mehr. Ich machte mir auch keine Gedanken über die Motive des Handlangers. Hätten die Nazis sein Tun entdeckt, wäre er, ohne Gnade für sich oder seine Familie, erschossen worden. Alles drehte sich um meine Probleme und meine Überlebenschancen. Auch nach dem Tod meines Vaters legte der Mann Lebensmittelpakete in das Versteck, so lange, bis ich von Starachowice nach Auschwitz geschickt wurde, nachdem mein Fluchtversuch fehlgeschlagen war. Während der ganzen Zeit sah ich den Mann nie wieder. Die Regeln der Vorsicht schrieben vor, dass wir uns nie treffen durften.