Das Werbeplakat für die Juno-Zigaretten schmückte noch immer den Bahnhof Mauthausen. Der Wartesaal war nicht geheizt. Mehrere Leute saßen in ihre Wintermäntel gekauert auf den Holzbänken.
»Wann kommt er?«, fragte unser Fahrer. Eine alte Frau meinte:
»Er hat Verspätung.«
»Das hätte vor dem Krieg nicht passieren können«, sagte der SS-Soldat, der uns am Bahnhof erwartet hatte. »Vor dem Krieg konnte man seine Uhr nach den Zügen stellen.«
»Du redest zu viel«, entgegnete der Fahrer und steckte sich einen Zigarettenstummel an.
»Damals rauchten wir Juno«, der Soldat zeigte auf das Plakat. »Heute rauchst du Strohstummel.«
Der Fahrer nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und warf die Kippe auf den Bahnsteig.
»Mit einem so großen Maul wie deinem wirst du dort enden, wo die herkommen«, erwiderte er und kehrte uns den Rücken zu.
Wir waren eine kleine Gruppe von fünf Gefangenen, deren Namen ich nicht kannte und an deren Gesichter ich mich nicht erinnere. Den SS-Soldaten habe ich nicht vergessen. Er war ein älterer Mann, streng aussehend, aber lässig, wie sich herausstellte, nachdem der Fahrer abgefahren war, und es fehlte ihm die Überheblichkeit, die die jungen Lageraufseher auszeichnete. Vielleicht waren es diese Eigenschaften, die so auffallend von der Norm abwichen, die mir seine Figur im Gedächtnis haftenbleiben ließen. Eine nette Erinnerung, aber so tot wie ein Schmetterling, der auf einer Nadel in der Schublade eines Sammlers aufgespießt ist. Ich begriff schnell, dass er an der Macht kein Vergnügen fand, dass er sich nach dem Ende des Krieges sehnte, hoffte, die alliierten Bomber würden an seinem Haus in Bad Wiessee vorüberfliegen, und dass seine Frau Elisabeth sich ordentlich um seine Enkelkinder kümmern würde. Seine beiden Söhne waren an der Ostfront gefallen. All dies erzählte er uns, nachdem wir in die Lokalbahn eingestiegen waren, in einen gewöhnlichen Eisenbahnwagen dritter Klasse; wir, die fünf Gefangenen, saßen auf einer Bank und er, der Bewacher, uns gegenüber. Die Abteile nebenan waren leer. Wir hätten ihn ohne große Schwierigkeiten entwaffnen und fliehen können, doch er wirkte weder gespannt noch besorgt, und uns kam der Gedanke nicht in den Sinn. Nicht ohne Grund erzählte er uns von dem Massenausbruch der russischen Gefangenen, die während eines Stromausfalles durch die Zäune gebrochen waren, den Wachen die Waffen entrissen, ein Militärfahrzeug überwältigt hatten und damit auf die tschechische Grenze zugerast waren. Hunderte von SS-Soldaten und Tausende von österreichischen Zivilisten hatten sich an der Jagd auf die Geflüchteten beteiligt. Sie wurden bis auf den letzten Mann gefasst – und erschossen. Der Soldat schilderte die dramatischen Ereignisse in einem ruhigen Ton, unbeteiligt wie einer, der lediglich objektive Fakten wiedergibt. »Die Moral der Geschichte ist«, sagte er, »es gibt jemanden, der die Geschehnisse der Welt bestimmt, und jemanden, der diese Bestimmungen ausführt, und es hat keinen Zweck, sich dagegen aufzulehnen.«
Als er so sprach, mit einem starken bayerischen Akzent, bemerkte ich den Geruch von billigem Bier in seinem Atem. Vielleicht war es gerade dieser Geruch, der ihm etwas Menschliches gab, etwas, was ihn von der Allgemeinheit unterschied, denn im SS-Pantheon der Macht war der Menschlichkeit kein Ehrenplatz reserviert.
Auch das strikte Befolgen von Befehlen gehörte nicht zu seinen Stärken. Arglos verriet er uns, dass wir uns auf dem Weg in ein Außenlager von Mauthausen befänden, ein Lager in der Nähe der Saurer-Werke, einer Fabrik zur Herstellung von Panzermotoren. Er hatte schon vorher Gefangene dorthin gebracht, aber noch nie Juden und noch nie in einem Personenzug. »Diesmal haben wir wirklich Glück«, sagte er und verzog sein Gesicht zu einer Art Lächeln. Er sagte »wir«, als wären wir eine zusammengehörige Gruppe. Und auch das war eine Seltenheit. Für ein paar Stunden war die Scheidewand zwischen mir und meinem Gefängniswärter aufgehoben. Er war ein Schwätzer, der sich gern reden hörte und ein Publikum brauchte. So wurde diese Reise zu einer kurzen Pause in dem anhaltenden Vernichtungskrieg.
Die Wagenräder holperten über die Gleise. Der monotone Laut untermalte den unaufhörlichen Redefluss des Soldaten. Ich betrachtete die Landschaft, die am Fenster vorüberflog. Im Fluss trieben große Eisschollen; auf der anderen Seite, am Nordufer, stachen braune Rebstöcke aus der weißen Schneedecke. Malerische Städtchen schmiegten sich an die Abhänge der Hügel. Die stilisierten Häuser wirkten so ruhig wie in Friedenszeiten. Die Gelassenheit der Landschaft schläferte meine Sinne ein. Aus den Heizkörpern strömte eine Wärme, die meine Nase austrocknete, unter meine Haut drang und sich herrlich angenehm über meinen ganzen Körper ausbreitete. Das Gesicht des Soldaten wurde undeutlich und verschwand, seine Worte summten weiter, bis auch sie jeden Sinn verloren hatten. Ohne zu wissen, wann, fiel ich in eine Stille, die die Wachsamkeit auflöst. Das erste Mal seit meiner Ankunft in Mauthausen genoss ich echte Ruhe, Schlaf, der mich wie eine unsichtbare Daunendecke umhüllte.
Als ich erwachte, stand der Zug auf dem kleinen Bahnhof Wien-Simmering-Ost.
Die Baracken rochen nach Sägespänen und frischer Farbe. Sie waren zirka vier Monate zuvor gebaut worden, um die Arbeitskräfte zu beherbergen, die die Saurer-Werke vor dem Stillstand bewahren sollten. Das Lager befand sich im Süden Wiens, nahe den Arbeitervierteln und eine halbe Stunde Fußweg von unserem Arbeitsplatz entfernt. Von überall her, wo noch Fachkräfte zu finden waren, wurden Häftlinge herbeigeschafft. Etwa 1100 Menschen stellten sich zum Morgenappell ein. Die Funktionshäftlinge und die SS-Wachen zeigten uns gegenüber weniger Härte, da die Vorschriften aus Berlin unserem Dasein einen wirtschaftlichen Wert attestiert hatten. Das Lager verfügte weder über Gaskammern noch über Öfen. Die Essensrationen waren mager, die Wohnbedingungen indes besser als in Mauthausen. Jeder von uns hatte seine eigene Pritsche, seinen eigenen Strohsack und seine eigene Decke. Wir schliefen tagsüber und arbeiteten nachts. Um sechs Uhr abends, wenn es schon dunkel war, gingen wir zur Arbeit. Im Dunkeln kamen wir auch nach sechs Uhr morgens zurück. Die Produktionshallen waren unter einem unschuldig aussehenden Gelände versteckt, um die alliierte Luftwaffe irrezuführen. Von draußen hätte niemand die Existenz eines unterirdischen Werkes vermutet. Nur dem, der hineinkam, offenbarte sich das Geheimnis. Vom Treppenhaus aus fuhren wir mit einem Aufzug wie in einem Bergwerk hinab. Dort, einige Stockwerke tief, waren die Werkshallen, die Lagerräume und die Büros eingerichtet worden. Der Aufzug war die einzige Möglichkeit, nach draußen zu gelangen. Für den Fall einer Störung oder eines Stromausfalls war mit einer handbetriebenen Anlage vorgesorgt. Ein gutes Entlüftungssystem gewährleistete die Zufuhr frischer Luft. Es fiel mir nicht schwer, mich an den neuen Arbeitsplatz zu gewöhnen. Die strenge Ausbildung durch Kurt Kolonko trug ihre Früchte. Mit der Drehbank konnte ich mittlerweile ohne fremde Hilfe ein intimes Gespräch führen. Die Messer schliff ich nicht nur für mich selbst, sondern auch für die anderen Häftlinge. Von Zeit zu Zeit bekam ich sogar ein Lob von dem Vorarbeiter der Schicht. Er war der einzige Zivilist, der in der Nachtschicht mit uns zusammenarbeitete. Die anderen österreichischen Arbeiter waren nur am Tage eingeteilt. Ich kam nie mit ihnen in Kontakt, wusste aber von ihrer Existenz, weil die Werkzeuge in dem Eisenschrank neben der Drehbank mitunter anders angeordnet waren, als ich sie am Morgen zuvor hingelegt hatte. Ich war jede Nacht zwölf Stunden auf den Beinen, beklagte mich jedoch nicht. Es schien, als würden die Tage des letzten Kriegswinters allmählich kürzer und heller.
Sträflinge im Gefängnis kratzen Striche in die Zellenwand, um die vergangenen Tage zu markieren. Das Zeitgefühl, auf das wir im normalen Leben wenig achten, ist offensichtlich ein gemeinsames Problem aller Gefangenen. In meinem von dem Rest der Welt abgeschnittenen Dasein gab es keine Möglichkeit, die Stunde oder das Datum herauszufinden. Jemand hat einmal die Konzentrationslager einen »anderen Planeten« genannt. Eine passende Definition, und sei es nur aus dem Grund, dass dort die Zeit anders gemessen wurde als sonst auf der Erde üblich. Es war daher ein außerordentliches Ereignis, als ich im Werkzeugschrank eine zusammengefaltete Zeitung fand und feststellte, dass die Menschen dieser anderen Zivilisation das Datum 28. Februar 1945 schrieben. Doch aufregender noch als das Datum waren die zwei mit gelbem Käse belegten Scheiben Brot, die unter der Zeitung versteckt waren. Nur der Arbeiter, der in der Morgenschicht die Maschine bediente, konnte sie dort liegengelassen haben, denn niemand sonst hatte zu dem Arbeitsplatz Zugang. Die Verführung war zu groß, ich konnte ihr nicht widerstehen. Ich nahm das in die Zeitung eingewickelte Brot, schob das Paket unter mein Hemd und bat um Erlaubnis, auf die Toilette gehen zu dürfen. Auf der Toilettenschüssel sitzend, verschlang ich meine Beute und durchflog schnell die Seiten der Zeitung. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass die Kämpfe schon auf deutschem Boden stattfanden. Ganz Polen war von der Roten Armee befreit worden. Einen Augenblick lang dachte ich an Grete, die Frau des SS-Offiziers in Krakau. Was war mit ihr geschehen? War sie mit all den Schätzen, die ihr Bruder ihr geschickt hatte, geflohen, oder lag sie unter den Trümmern des Hauses, in dem sie gewohnt hatte? Zum Teufel mit Grete! Was war aus Fredek Minz geworden? War er aus dem Lager Auschwitz befreit worden? Oder vielleicht … Die Zeit drängte, ich durfte sie nicht länger auf der Toilette vergeuden. Ich spülte das Wasser herunter, um die Wache zu täuschen, und hastete an meinen Arbeitsplatz zurück. Jetzt erst machte ich mir über die Motive meines unbekannten Stellvertreters Gedanken. Hatte er das Brot vergessen und würde am nächsten Tag den Diebstahl anzeigen, oder hatte er es für einen Häftling hingelegt, den er nie kennenlernen würde? Ich wurde in dieser Sache nie verhört. Ich fand auch kein Essen mehr im Werkzeugschrank.