7

Der Wind brachte das Kreuzkraut mit sich, das den nahenden Sommer ankündigte. Es wuchs wild an der ungepflasterten Straße, die die Grenze des Gutes markierte, und trennte sie von den gelben Rapsfeldern, die die ukrainischen Bauern anbauten. Jeden Nachmittag um fünf kam ein offener Wagen mit SS-Kennzeichen diese Straße entlang und brachte meine Mutter nach Hause. Ich ging ihr gern entgegen. Bis sie kam, vergnügte ich mich damit, auf die Blütenköpfe des Kreuzkrauts zu pusten und zu beobachten, wie die Samen durch die Luft flogen. Der deutsche Fahrer kannte mich schon. In dem Moment, wo er mich sah, verlangsamte er sofort seine Fahrt, damit ich auf das Trittbrett springen und mit ihm weiterfahren konnte, bis wir im Hof vor dem Eingang des Gutshauses anhielten.

Für mich war es ein sonniger, sorgloser Sommer. Ich glaubte nicht, dass er je enden würde. Im Wohnzimmer unseres Hauses hatte ich eine Schallplattensammlung gefunden, und manchmal legte ich eine Platte mit alten deutschen Schlagern auf und hörte eine unbekannte Sängerin »Nach einem Dezember kommt wieder ein Mai« singen.

Seit dem letzten Winter wohnten wir auf diesem Gut, das zwanzig Minuten Fahrt von Lemberg entfernt war. Das Haus hatte zwei Etagen, war geräumig und weiß gestrichen. Es stand auf einem Hügel, und vom Balkon aus konnte ich den Blick über die Felder genießen, die sich den Hügel hinunter erstreckten und an jene bunten Streifen erinnerten, aus denen sich die einheimischen Frauen ihre Röcke nähten. Unten stießen die Felder auf die Eisenbahnlinie. Der würzige Duft nach Feldblumen lag in der Luft. Die Kinder aus dem nahe gelegenen Dorf Suchowola zogen es vor, mir nicht zu nahe zu kommen, und auch ich suchte ihre Gesellschaft nicht. Ich ging nicht in die Schule; meine Zeit gehörte mir. Ich spazierte viel in der Gegend herum. Vorübergehende grüßten mich, indem sie den Hut zogen, so wie es sich zwischen Herr und Diener gehört. Für sie verkörperte ich die Macht und Autorität der Eroberer. Im Dorf nannten sie meinen Vater »den deutschen Herrn« und meine Mutter »die Dame von der Polizei«. Unser eigenartiger Status beschäftigte mich nicht; ich unternahm nicht einmal den Versuch, ihn zu verstehen. Der Krieg, mit all seinen Schrecken, war irgendwo hinter den Eisenbahnschienen geblieben, hinter dem Horizont, jenseits der Regionen, denen ich meine Beachtung schenkte.

War ich wirklich so kindlich und ahnungslos, dass ich die Realität hinter dem Landidyll nicht erkennen konnte? Scheinbar ja. Ich kapselte mich vollkommen von der Außenwelt ab und sah nur das, was ich sehen wollte. Manchmal waren SS-Offiziere auf dem Gut zu Gast, um ein ruhiges Wochenende in guter Luft zu verbringen. Tagsüber gingen sie spazieren, abends spielten sie mit meinen Eltern Bridge. Für meine Eltern müssen diese Begegnungen wahre Zerreißproben gewesen sein. Sie wollten jeden Kontakt zwischen den Gästen und mir verhindern. Während ihres Aufenthaltes musste ich mich in meinem Zimmer im zweiten Stock einschließen, aber selbst dann fühlte ich mich frei. Die Situation schien so selbstverständlich, dass ich die Gefahr, die mit der Arbeit meiner Mutter im Bezirkshauptquartier der SS verbunden war, gar nicht wahrnahm.

Das Gut in Suchowola gehörte zu einem Gerbereikombinat, das gleich nach der Eroberung Lembergs von den Nazis konfisziert und der Leitung der Wirtschaftsabteilung der SS übertragen worden war. Die »Schutzstaffel« baute ein verzweigtes Netz von Wirtschaftsbetrieben auf, das ihren Kassen, neben dem Staatsbudget, ein großes Vermögen einbrachte. Das Landgut Suchowola – nur ein Glied in einem gigantischen Industriekombinat – widmete sich dem Anbau von Bergenia, einer Pflanze, die von der Gerberei in Lemberg als Rohmaterial benutzt wurde. Es war Paul Jotsch, ein protestantischer Geistlicher, der die Verbindung zwischen meiner Mutter und Kurt Brückner, einem hohen SS-Offizier und Generaldirektor des Komplexes, hergestellt hatte. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen war Brückner ein frommer Mann, der die Meinung des Pfarrers respektierte. Meine Eltern hatten Paul Jotsch, kurz bevor die Russen aus Lemberg verschwanden, kennengelernt. Er wusste, dass wir Juden waren. »Na und? Auch Jesus war Jude«, sagte er immer. Ich mochte den Mann, denn er war nicht hochtrabend und hatte keine Vorurteile. Lüge und Falschheit waren ihm fremd. Er sagte jedem seine Meinung ungeschminkt ins Gesicht. Als er meine Mutter mit Brückner bekannt machte, zögerte er nicht zu erwähnen, dass kein Zweifel an ihrer arischen Abstammung bestünde. Brückner suchte eine deutschsprachige Sekretärin. Pfarrer Jotsch versicherte ihm, dass er keine bessere Angestellte finden würde. Für diese Bemühung verlangte er eine Geste, die ihm ein fairer Preis für seine gute Tat schien: Er wollte mich christlich taufen. Nur mich, betonte er, denn für die Rettung der Seelen meiner Eltern war es bereits zu spät. Selbst wenn sie sich unter Druck zu demselben Schritt entschlossen hätten, hätten sie sich selbst betrogen, und er wollte nicht, dass sie sündigten. Doch dem Kind, so dachte er, wäre es vielleicht noch möglich, das Licht in sich aufzunehmen und sein Herz der lauteren Wahrheit Martin Luthers zu öffnen.

Meine Mutter wurde als Stenotypistin beschäftigt. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Direktoriumssitzungen zu protokollieren. Brückner war zufrieden mit ihrer Arbeit, und nach zwei Monaten fand sie sich als Leiterin seines Büros wieder. Es gab nichts, was nicht durch ihre Hände ging. In ihrem Safe bewahrte sie geheime Dokumente auf, und wenn der Generaldirektor abwesend war, wandten sich die kleineren Angestellten an sie. Brückner fuhr viel nach Krakau und Berlin, und von jeder Reise brachte er ihr ein Geschenk mit. Als sie ihn bat, ihrem Mann die Leitung des Gutes in Suchowola zu übertragen, stimmte er auf der Stelle zu. »Danken Sie mir nicht«, sagte er, als sie betonte, wie dankbar sie sei, dass er ihren Wunsch erfüllt hatte. »Ich muss Ihnen danken. Es gibt so wenig Menschen heutzutage, denen man noch vertrauen kann.« Als wir aufs Land zogen, stellte er uns seinen Dienstwagen zur Verfügung. Und als das Direktorium des Werkes einen festlichen Ball zu Ehren von Hitlers dreiundfünfzigstem Geburtstag gab, war meine Mutter unter den Geladenen. Mit einer Flasche Sekt und einem ledergebundenen Exemplar von Mein Kampf kam sie zurück. Das Buch wurde an auffälliger Stelle auf dem Schreibtisch meines Vaters platziert; denen, die sein Büro besuchten, diente es als weiteres Zeichen seiner Stellung.

Der Wettlauf um Reichtümer erzeugte Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Zweigen der nazistischen Bürokratie. Der eine arbeitete manchmal gegen die Interessen eines anderen. Auf den Direktoriumssitzungen intrigierten die Wirtschaftsoffiziere der SS oft gegen die Versorgungsabteilung der Armee und anderer Sicherheitskräfte. Züge wurden umgeleitet, um einem Transport von Leder den Vorrang vor kriegswichtigen Transporten zu gewährleisten. Gefangene wurden ohne Wissen Berlins in Lager überführt, um billige Arbeitskräfte für das Kombinat zu bekommen. Falsche Berichte wurden vorbereitet, um den Betrug notfalls vertuschen zu können. Meine Mutter notierte wortgetreu den Inhalt der Gespräche, und zwar in einer Kurzschrift, die für andere nicht zu entziffern war. In ihr Zimmer eingeschlossen, tippte sie dann die Berichte und gab sie persönlich an Brückner weiter. Sogar seine Stellvertreter durften diese Papiere nicht in ihren Safes aufbewahren. Wären sie in die Hände der Gestapo, der Rivalin der SS, gefallen, hätte dies für Brückner das Ende seiner Karriere bedeutet. Das Wissen um die Intrige erzeugte Vertraulichkeit, das Gehalt meiner Mutter wurde verdoppelt, und an einem Abend, als sie noch an der Formulierung der Protokolle arbeitete, erzählte er ihr von einer Idee, die er sich ausgedacht hatte: »Ich werde dafür sorgen, dass Sie als Tochter des deutschen Volkes anerkannt werden.«

Die Naziherrschaft gewährte denjenigen die Reichsbürgerschaft, die von ihnen als Volksdeutsche anerkannt wurden: Sie mussten ihre rassische Reinheit beweisen können, in den Teilen Europas geboren sein, die die Nazis als Reichsgebiete ansahen, und fließend Deutsch sprechen. Die Volksdeutschen genossen bestimmte Privilegien, unter anderem bekamen sie spezielle Lebensmittelkarten; außerdem war es ihnen erlaubt, sich um Posten im Staatsdienst zu bewerben. Für uns waren die Volksdeutschenpässe eine Art Lebensversicherung.

»Es gibt nichts, was ich lieber hätte, aber …«

»Es gibt kein Aber, Frau Frister«, unterbrach er sie. »Ich habe an jede Kleinigkeit gedacht. Ich habe Ihnen die verlangten Formulare mitgebracht. Füllen Sie sie genau aus, denn Sie wissen doch, Ordnung muss sein.«

»Glauben Sie, dass ich die Prüfung bestehen werde?«

»Das wird meine persönliche Empfehlung bewirken«, sagte er und schrieb auf das Formular: »Frau Franciszka Frister ist mir als Anhängerin der nationalsozialistischen Weltanschauung bekannt, als eine Frau, die von der deutschen Kultur durchdrungen und den Interessen des Reiches ohne Einschränkung treu ergeben ist.« Er ließ sie das Geschriebene lesen.

»Nun, was sagen Sie?«

»Ich sage, Sie sind mir von Gott geschickt worden.«

Trotz Brückners dringendem Brief ließ die Antwort aus Berlin auf sich warten. Und als sie endlich kam, besagte sie nichts Gutes. Das Rasse- und Sicherheitshauptamt begnügte sich nicht mit der Ablehnung der Bitte. Die offizielle Mitteilung sprach Zweifel an der arischen Abstammung meiner Mutter aus. Eine Abschrift war an die Gestapo in Lemberg geschickt worden.

Brückner gab ihr den Brief und sagte:

»Regen Sie sich wegen des Inhalts nicht auf. Ich weiß, dass alles Unsinn ist. Ich habe doch selbst für Sie gebürgt.«

Meine Mutter schaute sich das Dokument an und wurde blass. Schroff sagte sie, um den Schock zu vertuschen:

»Das ist nicht nur Unsinn. Mich zu verdächtigen, Jüdin zu sein! Das ist eine Beleidigung.«

»Seien Sie nicht böse. Sie kennen diese Leute. Sie können nachts nicht schlafen, wenn sie nicht jemanden finden, dem sie zusetzen können.«

»Was schlagen Sie mir vor, was soll ich tun? Vielleicht wollen Sie mich verhaften?« Meine Mutter streckte ihm ihre Hände hin, als ob sie ihn bitten wollte, ihr Handschellen anzulegen. Brückner küsste ihre Hand.

»Sie wissen doch, dass das Blödsinn ist.«

»Die Abschrift wurde an die Gestapo weitergeleitet. Ihre Leute werden es dabei nicht belassen. Sie werden mich bestimmt verhören wollen. Und Sie, Herr Direktor, brauchen keine Angst zu haben, dass ich etwas über die Direktoriumssitzungen sagen werde. Ich kann meinen Mund halten.«

»Ich habe keine Angst. Ich habe eine gute Menschenkenntnis. Außerdem lasse ich nicht zu, dass man meine Angestellten demütigt. Sie müssen nicht zu ihnen gehen.«

»Was dann?«

»Ich habe mit dem Vernehmungsoffizier ausgemacht, dass er um vier Uhr heute Nachmittag herkommen wird. Sie haben noch mehr als drei Stunden Zeit, sich auf das Gespräch vorzubereiten. Wer auch immer da kommt, er wird sicherlich darauf geschult sein, wie ein Jagdhund herumzuschnüffeln. Erschrecken Sie nicht darüber, hart zu sein, ist ihr übliches Spiel. Am Ende wird die Wahrheit siegen. Vergessen Sie nicht, ich bin auf Ihrer Seite.« Brückner warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss gehen. Ich sehe Sie um vier. Ich halte Ihnen die Daumen, Frau Frister. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Herr Standartenführer.«

Bevor meine Mutter das Büro verließ, nahm sie ein Bündel unterschriebener Reisebefehle an sich. Diese Befehle ermöglichten es den SS-Offizieren und ihren Familien, Züge zu benutzen, die nur für Deutsche reserviert waren. Dann packte sie ihre wenigen Habseligkeiten, ging die Diensttreppe hinunter, wartete im Hof, bis sich das Tor öffnete, um einen mit Fellen beladenen Lastwagen hineinzulassen, und betrat die Straße, ohne von dem Posten bemerkt zu werden. Zum Bahnhof fuhr sie mit der Straßenbahn. Ein Taxifahrer hätte sich an ihr Gesicht und ihr Ziel erinnern können. Sie bestieg den Ein-Uhr-Zug und kam noch vor zwei Uhr auf dem Gut in Suchowola an. Der Fluchtplan, den sie sich ausgedacht hatte, hatte nur dann eine Aussicht auf Erfolg, wenn wir den Ort verließen, bevor der Gestapo-Offizier an die Tür von Brückners Büro klopfte.

Meine Eltern weihten mich nicht in das Geheimnis ein. Die Einzelheiten erfuhr ich erst später, aber als man mir sagte, dass wir sofort weggehen müssten, verstand ich, dass wir vor einer großen Gefahr flüchteten. Das ukrainische Dienstmädchen wurde angewiesen, drei kleine Koffer zu packen. Sie zwinkerte mir zu: »Ihr wollt euch amüsieren, eh?« Einer der Arbeiter wurde nach dem Wirtschafter des Gutes geschickt. Als er ins Büro kam, teilte mein Vater ihm mit, dass er in die Kanzlei des Gouverneurs Frank in Krakau gerufen worden sei. Die Tarnung musste perfekt sein. Jeder falsche Schritt konnte uns das Leben kosten.

Im Hof bereitete der Kutscher die Kutsche vom Gut vor. Diesmal wagte ich nicht zu fragen, ob ich die Zügel halten dürfe. Ich setzte mich auf eine Wolldecke, die auf dem Rücksitz ausgebreitet war, meine Eltern nahmen rechts und links neben mir Platz. »Zum Bahnhof«, befahl mein Vater, und der Kutscher trieb die Pferde an. Mit einem traurigen Blick verabschiedete ich mich von der Landschaft, die ich so liebte.

Der Stationsvorsteher saß dösend und gelangweilt in der kleinen Bude, die ihm als Büro diente. Die kleinen Fenster waren mit dünnen Leinenvorhängen geschmückt, die einmal weiß gewesen waren. In einer Ecke stand ein einbeiniger Tisch mit einem überquellenden Aschenbecher, an der anderen Wand lehnte ein zerschrammter Schreibtisch. Das Porträt Adolf Hitlers blickte von der Wand. Auf dem Glas hatten Fliegen ihre Spuren hinterlassen. Der Stationsvorsteher stand von seinem Stuhl auf, zog seine Uniform zurecht, schaute uns verwundert an und salutierte vor meinem Vater. Unser Kommen hatte ihn aus der Routine gerissen, an die er sich in den letzten Monaten gewöhnt hatte: Nur wenige Züge hielten in Suchowola und störten ihn in seiner Ruhe. Auf ihr Kommen machte ihn ein Telegraph aus Holz und Kupfer aufmerksam, der vielleicht noch die Tage des Zaren gesehen hatte. Wenn der Vorsteher das Klicken hörte, ging er hinaus, stand am Ende des Bahnsteiges stramm und machte seine Existenz deutlich, indem er eine kleine weiße Fahne schwenkte. So stand er da, steif wie ein Soldat auf einer Parade, bis der Express außer Sichtweite war. Erst dann erlaubte er es sich, tief aufzuatmen wie ein Mensch, an dem ein großes Unglück vorbeigegangen ist. Er wusste genau, dass eine Beschwerde, ob berechtigt oder unberechtigt, ihn seine Arbeit kosten konnte. Fast sein ganzes Leben hatte er auf diesem gottverlassenen Bahnhof verbracht, und sein ganzer Traum war es, ohne Schwierigkeiten seinen Ruhestand zu erreichen. Manchmal, wenn ich nichts Besseres zu tun hatte, war ich zum Bahnhof gegangen und hatte mich mit ihm unterhalten. Wenn er etwas fürchtete, so hatte er mir anvertraut, dann war es nicht Hitler und auch nicht den einheimischen Polizeichef, sondern ein langes, rentenloses Alter.

»Helfen Sie uns, die Koffer auszuladen«, befahl mein Vater ihm mit einer Autorität, die keinen Widerspruch duldete. Dann rief er den Kutscher zu sich.

»Komme übermorgen und hole uns ab.«

»Jawohl, mein Herr.«

»Und verspäte dich nicht.«

»Ich werde mich nicht verspäten, mein Herr.«

»Frage in der Station nach, wann der Zug ankommt.«

»Ich werde in der Station nachfragen«, sprach er meinem Vater nach, tippte mit der Fingerspitze an den Rand seiner Kappe und zog am Zaum seines Pferdes als Zeichen, dass er gehen wollte.

Die Kutsche entfernte sich, und mein Vater wandte sich an den Stationsvorsteher:

»Legen Sie das Gepäck auf die Bank.«

Die drei Lederkoffer, in Lemberg produziert, wurden auf die einzige vorhandene Bank gelegt.

»Was soll mit ihnen geschehen?«, fragte der Stationsvorsteher.

»Nun, nun, guter Mann, wissen Sie nicht, warum man Koffer auf einen Bahnhof bringt?«

»Sicher weiß ich das.«

»Gut, dann stellen Sie keine dummen Fragen. Wann trifft der Eilzug von Lemberg nach Krakau ein?«

»Um 3 Uhr und 17 Minuten.«

»Gut. Dann haben wir noch fast eine Viertelstunde Zeit. Wir fahren nach Krakau.«

Der Stationsvorsteher stand mit offenem Munde da.

»Von hier aus?«

»Offensichtlich von hier aus. Was dachten Sie denn?«

»Aber er hält nicht in Suchowola.«

»Wenn dem so ist, werden Sie ihn anhalten müssen.«

»Den deutschen Eilzug?«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, schaltete sich meine Mutter ein. »Mein Mann ist auf einer Dienstreise.«

»Ich kann den Zug nicht anhalten«, sagte er. Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn.

»Natürlich können Sie das.«

Der Stationsvorsteher verhehlte seine Angst nicht. »Es ist mir verboten, den Zug anzuhalten.«

»Es ist Ihnen auch verboten, sich den Befehlen meines Mannes zu widersetzen«, schalt ihn meine Mutter. »Wollen Sie den Befehl sehen?« Sie wedelte mit einem Zettel vor seinem Gesicht herum.

»Ich lese kein Deutsch.«

»Höchste Zeit, dass Sie es lernen.«

»Nein«, beharrte der Mann. »Ich kann den Zug nicht anhalten. So etwas ist hier noch nie passiert.«

»Es gibt immer ein erstes Mal«, lächelte meine Mutter.

Mein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will Ihnen nicht schaden, guter Mann. Tun Sie lieber, was man Ihnen sagt.«

»Ich werde bestraft.«

»Auf meine Verantwortung. Sie können nur bestraft werden, wenn Sie sich weiter weigern.«

Nun fand der Stationsvorsteher die erlösende Formulierung.

»Ich werde meinen Vorgesetzten in Lemberg fragen.«

»Sehr gut, fragen Sie ihn«, stimmte meine Mutter zu.

Ich saß auf der Bank, an die Koffer gelehnt. Ich fragte mich, warum meine Mutter dem Telefongespräch mit dem Bahnhof Lemberg zugestimmt hatte, es war ein gefährliches Spiel. Der Stationsvorsteher verschwand in seiner Bude. Eine Minute später schob er den schmutzigen Vorhang zur Seite. Ich sah, wie er die Telefonkurbel drehte.

»Und was passiert, wenn er durchkommt?«, fragte mein Vater auf Deutsch.

»Du weißt, dass das Telefon nur einmal im Jahr arbeitet, und auch das nur mit gutem Zureden.«

»Und wenn es heute sein Tag ist?«

»Wirklich, Wilek. Du wusstest immer in schweren Stunden zu lächeln.«

Die Leitung war tot. Der Stationsvorsteher war verzweifelt. Mit ausgebreiteten Armen kam er auf den Bahnsteig zurück.

»Keine Verbindung«, stellte er fest. »Es gibt niemanden, den man fragen kann.«

»Fragen Sie den lieben Gott«, riet ihm mein Vater und lächelte.

Der Stationsvorsteher ging zu den Hebeln des Signalmastes. Der rote Arm änderte langsam seine Position von senkrecht auf waagerecht. Der Stationsvorsteher sah erschöpft aus.

»Ich habe es getan«, murmelte er und wischte sich die Stirn.

Der Zug hielt an. Die Reisenden schauten aus den Fenstern. Die meisten trugen Uniform. Der Schaffner öffnete die Wagentür der ersten Klasse. Wir stiegen ein. »Schnell, die Koffer!«, rief meine Mutter. Der Bahnhofsvorsteher schob sie hinter uns hinein. Der Kommandeur des Zuges stieg aus und ging zum Stationsvorsteher; sicher wollte er wissen, warum der Zug unplanmäßig stehen geblieben war. Ich konnte seine Worte nicht hören. Der Stationsvorsteher zeigte auf unseren Wagen. Der Offizier packte ihn an den Aufschlägen seines Kragens und schüttelte ihn kräftig. Die Lokomotive gab einen nervösen Pfiff von sich. Der Bahnhofsvorsteher rannte zu dem Signalmast. Der rote Arm ging hoch, der Zug setzte sich in Bewegung, gewann allmählich an Geschwindigkeit und fuhr weiter.

Im Abteil saß nur ein einziger Reisender, ein Oberst der Infanterie, dessen rechter Arm in einer Schlinge hing. Seine Uniform war gebügelt, und am Hals trug er das Eiserne Kreuz. Als wir hereinkamen, stand er auf und salutierte mit der linken Hand. Ich fragte mich, warum er uns nicht mit erhobener Hand begrüßte. »Ich bin froh, dass ich endlich in der Gesellschaft einer Dame reisen kann«, sagte er und stellte sich vor. Er war auf dem Weg in den Heimaturlaub.

»Ich fahre leider dienstlich«, erklärte mein Vater.

»Mit Frau und Kind?«

»Dienst, kombiniert mit etwas Familienvergnügen«, erklärte meine Mutter und ließ sich auf den Sitz ihm gegenüber fallen. Die Tür des Abteils wurde zur Seite geschoben. Der Kommandeur des Zuges war gekommen, um unsere Papiere zu kontrollieren. Mein Vater zeigte ihm die Reisebefehle. Er sah sie sich lange Zeit an, gab sie uns zurück und sagte:

»Alles in Ordnung. Es tut mir leid, aber der Dummkopf auf dem Bahnhof hat mich in Rage gebracht. Er plapperte etwas in seiner blöden Sprache und glaubte, dass jeder sie verstehen muss. Der verdammte Ukrainer. Wenn Sie Hilfe brauchen, zögern Sie nicht, mich zu rufen. Wir werden in Krakau dreißig Minuten nach Mitternacht eintreffen. Gute Reise.«

Wir trafen nicht zur angegebenen Zeit in Krakau ein. Der verwundete Oberst war eingeschlafen. Meine Eltern flüsterten miteinander. Ich schlief ebenfalls ein. Eine sanfte Berührung am Gesicht weckte mich auf. »Wir steigen aus«, sagte Vater. Der Zug stand in einer hell erleuchteten Station. »Przemyśl« las ich auf dem Schild. Wir hatten den halben Weg von Lemberg nach Krakau hinter uns gebracht. Keiner kümmerte sich um uns, als wir uns vom Bahnsteig einen Weg zum Bahnhofsgebäude bahnten. Der Bahnhof war mit Reisenden überfüllt. Es war schon dunkel, Sperrstunde. Wer noch hier war, musste bis zum Morgen bleiben.

»Warum sind wir ausgestiegen?«, fragte ich.

»Um auf die Ehrenwache zu verzichten, die uns bestimmt in Krakau erwartet«, antwortete meine Mutter. »Brückner tobt sicher vor Wut.«

»Wo werden wir schlafen?«

»Bei all den anderen«, sagte Vater und stieß mich leicht in den Rücken.

Die Nacht verbrachten wir eingezwängt im Wartesaal der dritten Klasse. Bei Morgengrauen bestiegen wir einen Personenzug, der an jeder Station haltmachte. Von Zeit zu Zeit kamen Bahnpolizisten auf der Suche nach Lebensmittelschmugglern vorbei. Das ehrbare Aussehen meiner Eltern ließ sie uns ignorieren. Nachmittags kamen wir in Krakau an. Ein Gepäckträger brachte unser Gepäck zu einer Kutsche; Pferdekutschen und Fahrradrikschas waren die allgemeinen öffentlichen Transportmittel. Eine Viertelstunde später erreichten wir das Haus meiner Großeltern in der Szlakstraße 20. Die altgediente Haushälterin Zofia Siwek öffnete uns die Tür.

»Willkommen«, freute sie sich. »Ich habe in der Nähe ein Quartier für euch gefunden. Zwei Zimmer und eine Küche. Gott sei Dank, das Schlimmste liegt hinter euch.«