Meine Frau Schulamit teilte mein Warschauer Erlebnis mit mir. Jeden Monat kam sie für zwei Wochen nach Polen und verwandelte die Suite Nummer 700 im »Victoria Intercontinental« in unser zweites Heim. Obwohl ich sie nicht immer in alles einweihte, zweifle ich, dass ich es ohne ihre Gegenwart geschafft hätte. Sie verfügte über den seltenen Charakterzug, an meiner Seite zu stehen, wenn ich sie brauchte. Vertieft in meine Arbeit und in das Schreiben dieses Buches, entfernte ich mich von ihr und nahm die ersten Anzeichen der Krise nicht wahr. Wir lebten seit einem Vierteljahrhundert zusammen, und es war nur natürlich, dass wir gute und schlechtere Zeiten kannten. Mit einem Mann wie mir verheiratet zu sein, ist nicht leicht. Wer weiß, was die Zukunft bringen wird. Das Schicksal dieser Verbindung jedenfalls, die längste und beste meines Lebens, war, auch wenn es schon in den Sternen stand, kein Fels, der gegen Risse gefeit gewesen wäre.
Wir waren uns an einem kalten und regnerischen Tag an einer Tankstelle begegnet. Es war Herbst, einige Monate vor meiner Reise zu Wilhelm Kundes Prozess. Das Wetter war trübe, und meine Laune war es auch. Schulas Zustand verschlimmerte sich stetig. Nun war sie für zwei Wochen in einem Sanatorium außerhalb der Stadt. An dem Abend war ich auf dem Weg zu Rachel, einer jungen, verheirateten Frau, die wie ich Ablenkung von ihren seelischen Nöten suchte. Rachel sollte in einem Café in der Nähe ihres Hauses auf mich warten. Ich tat, was ich tat, ohne Gewissensbisse, weil ich mein Handeln nicht als Untreue betrachtete. Ich war ohnehin zur körperlichen Trennung von einer Frau verdammt, die eine lange Affäre mit dem Tod hatte.
Schulamit fuhr einen roten Sportwagen. Sie trug ein leichtes Kostüm, ihre Haare waren kurz geschnitten, und sie sah hilflos aus. Eine lose Schraube in ihrem Scheibenwischer hinderte sie an der Weiterfahrt. Sie fragte mich, ob ich ihr einen Schraubenzieher leihen könne. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Die Zeit wurde knapp. Rachel war eine der wenigen Frauen, die auf Pünktlichkeit Wert legte. Trotzdem hörte ich mich sagen:
»Ja, ich habe einen Schraubenzieher.«
»Bitte warten Sie. Es wird keine fünf Minuten dauern«, versprach sie.
»Tut mir leid, aber ich muss gehen.«
Der Tank war schon voll. Ich ließ den Motor an.
»Einen Moment noch«, rief sie. »Wie gebe ich Ihnen den Schraubenzieher zurück?«
»Ich hole ihn mir ab.«
»Wann?«
»Heute Abend.«
»Dann schreiben Sie sich meine Adresse auf.«
Sie gab mir den Straßennamen und die Hausnummer. Ich sagte danke und trat auf das Gaspedal. Der Motor schnurrte wie eine zufriedene Katze. Ich hatte eine Vorliebe für schnelle Autos, und zwar für solche, die ihre technischen Raffinessen hinter unauffälligen Karosserien verbargen. Ich fuhr aus der Tankstelle und bog in eine Allee ein, die zum Stadtzentrum führte. Im Radio spielten sie leichte Musik aus den fünfziger Jahren. Die Straßenlampen spiegelten sich in dem nassen Asphalt. Ich fuhr langsam. Plötzlich sah ich keinen Sinn mehr darin, mich zu beeilen. Aus einem Grund, den ich mir nicht erklären konnte, hatte ich meine Meinung geändert. Ich hatte keine Lust, Rachel zu sehen. Es gab an ihr nichts, was ich nicht kannte; oder, genauer, es war nichts an ihr übriggeblieben, was sich herauszufinden lohnte. In jedem Alter hat der Mensch ein Spielzeug, das anfängt, ihn zu langweilen. Ich hielt an einer Telefonzelle, an dessen Tür eine unbekannte Hand »Leckt mich am Arsch« geschmiert hatte. Ich grinste. In vier Worten hatte jemand die ganze Welt herausgefordert. Ich suchte im Telefonbuch und rief das Café an. Ich entschuldigte mich. »Es tut mir leid«, sagte ich, »aber ich kann unser Treffen nicht einhalten.«
»Der Verlust ist auf deiner Seite«, antwortete Rachel. Der Klang ihrer Stimme sagte mir, dass ich für sie nicht unentbehrlich war. Es ist gut möglich, dass auch sie unsere Bekanntschaft satt hatte und sich ebenfalls ein neues Spielzeug suchen wollte. Die Qualität solcher Abenteuer hängt von unserer Fähigkeit ab, sie zur rechten Zeit zu beenden.
Ich ging nach Hause und sah nach, ob Nachrichten von Schula da waren. Ich trank ein Gläschen, steckte mir eine Zigarre an und überlegte, wie ich den Abend totschlagen könnte. Um neun Uhr fuhr ich zu der Adresse, die die Frau an der Tankstelle mir gegeben hatte. Schulamit empfing mich herzlich. Sie gefiel mir. Ich hatte vor, bis zum Morgengrauen bei ihr zu bleiben; ich blieb fünfundzwanzig Jahre. Nach Schulas Tod heiratete ich sie, aber den Schraubenzieher hat sie mir nie zurückgegeben. Sie bewahrt ihn in ihrer Handtasche auf, als Erinnerung an unsere Begegnung. Trotz ihrer Weltklugheit neigt Schulamit zum Aberglauben.