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Das Lager neben dem Stahlwerk »Eintrachthütte« gehörte zu den Dutzenden von Lagern, die man in Schlesien errichtet hatte und die, da sie dem Hauptlager unterstellt waren, offiziell Auschwitz III genannt wurden. Es war direkt neben das Werk gebaut worden; man musste lediglich die Straße überqueren. Das Werk befand sich im Herzen eines riesigen Industriegebiets um das oberschlesische Schwientochlowitz. Eng aneinandergedrängt hatten sich hier mehrere Städte entwickelt, die ständig von einem grauen Himmel, schwer von Rauch und Ruß, überzogen war. Schon seit Generationen waren die Einwohner der Gegend im Kohlebergbau, in Eisenerzschmelzereien, Stahlgießereien und im Maschinen- und Schiffsmotorenbau beschäftigt. Die Leute hatten sich daran gewöhnt, an einem Ort zu leben, der von Umweltverschmutzung gezeichnet war. Kleine Gärten, in denen sie Gemüse und Blumen zogen, dienten den meisten als eine Art Zuflucht vor ihrer Umgebung, in der die Sonne ein seltener Gast war. Wie meine Geburtsstadt Bielitz war auch dieser Bezirk zum Zankapfel zwischen Polen und Deutschen geworden. Im Laufe der Jahrhunderte hatte der Landstrich mehrmals den Besitzer gewechselt, und infolgedessen hatten die Oberschlesier eine eigene nationale Identität und einen eigenartigen Dialekt entwickelt, den Fremde nur schwer verstehen konnten. Viele nannten sich weder Polen noch Deutsche, sondern Schlesier. Einer von ihnen war Kurt Kolonko, der Mann, der mir zu einer Zeit half, als jeder andere mir den Rücken kehrte.

In gewissem Sinne symbolisierte die »Eintrachthütte« die Umwälzungen, die so charakteristisch für ganz Schlesien waren. Von den Deutschen im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts gegründet, fiel sie nach der Niederlage des Deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg den Polen in die Hände und wurde wieder deutsch, als Polen im September 1939 erobert wurde. Als die Rüstungsanstrengungen ihren Höhepunkt erreichten, stellte das Werk seine Produktion von Diesel-Schiffsmotoren auf Flugzeugabwehrgeschütze Flak-8,8 um. Die Industriestädte im Reich waren zur Zielscheibe schwerer alliierter Bombenangriffe als Vergeltung für die Bombardierung Londons geworden, und das deutsche Oberkommando unternahm alles, um die Flugabwehr im Hinterland wieder zu stärken. Unser Lager war nur eins von sechs, die die Nazis betrieben, um Arbeitskräfte für die »Eintrachthütte« zu beschaffen. Einige waren Kriegsgefangenenlager und einige Zwangsarbeitslager; nur unseres wurde als Konzentrationslager bezeichnet.

Im Frühjahr 1992 besuchten wir, Schulamit und ich, den Ort als Gäste der Fabrikleitung. Die Einladung erfolgte auf eine Fernsehsendung hin, in der ich die Geschichte meiner Bekanntschaft mit Kurt Kolonko erzählt hatte. Meine Gastgeber überraschten mich mit der Ehrenmedaille der Stadt. Die Publizität, so hofften sie, würde nicht nur die Historiker gnädiger stimmen, sondern vielleicht auch dazu beitragen, ihre gegenwärtige und zukünftige Lage zu verbessern. Ich verstand sie nicht ganz, bis sie uns durch die Hallen führten, in denen ich für die Nazi-Kerkermeister geschuftet hatte. Die Drehbänke, die modernen Walzen und die Schleifmaschinen waren 1945 demontiert und in die Sowjetunion gebracht worden. Stattdessen hatte man erneut den Betrieb auf die Produktion von Dieselmotoren umgestellt. Aber die meisten Arbeitsplätze waren leer. Blöcke riesiger Schiffsmotoren, drei Stockwerke hoch, standen in den Hallen wie Steine, die niemand umdreht. Zur Zeit der kommunistischen Regierung hatte die »Eintrachthütte« sowjetische Werften beliefert. Abgerechnet wurde über die Verrechnungsstelle des osteuropäischen Gemeinschaftsmarktes, dessen Regeln in Moskau festgelegt wurden. In einer derart zentralisierten Wirtschaft war es nicht die Aufgabe des Fabrikdirektors, sich um die Gewinne, den Verkauf oder die Beschaffung von Rohmaterial zu kümmern. Alles wurde von oben entschieden. Der politische Umsturz kehrte alles um. Die »Eintrachthütte« blieb zwar ein staatliches Unternehmen, doch gab es niemanden mehr, der sich für sie um Kunden bemühte. Der osteuropäische Markt brach zusammen, die alten Verträge wurden aufgehoben, und die Polen beschlossen, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren und von den Russen harte Devisen zu verlangen. Aber für die Dollars konnten die Russen im Westen und im Fernen Osten bessere Motoren kaufen. Andere Kunden gab es nicht. Zwei Drittel der Belegschaft der »Eintrachthütte« wurden entlassen, und jetzt drohte auch dem letzten Drittel der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Nur massive Investitionen in die Modernisierung der Maschinen und die Erschließung neuer Märkte konnten das Werk retten. Deutsche Firmen waren bereit, einen Teil der Aktien des staatlichen Werkes zu erwerben, um ihm aus seiner schweren Lage zu helfen, aber deutsches Geld war in Schlesien verpönt. Die Regierung fürchtete, dass dem Geld andere Forderungen auf dem Fuße folgen würden. In Schlesien lebt noch immer eine deutsche Minderheit, die nationale Rechte verlangt. Der deutsche Vorschlag wurde abgewiesen. »Die politischen Überlegungen hatten Vorrang vor der wirtschaftlichen Logik«, beschwerte sich der Direktor bei mir.

Ich nutzte diesen kurzen Besuch in Schwientochlowitz, jetzt polnisch Świętochłowice, um in den Archiven Dokumente einzusehen, die die Kriegsjahre betrafen. Ich erfuhr, dass sich am 4. Mai 1943 die damalige Direktion an die SS-Kommandantur mit der Bitte gewandt hatte, ihnen gelernte Arbeiter zur Verfügung zu stellen. Nach kurzen Verhandlungen kamen sie zu folgender Vereinbarung: Die SS würde der »Eintrachthütte« rund tausend Häftlinge aus den Konzentrationslagern zukommen lassen. Das Werk verpflichtete sich, für jeden arbeitenden Häftling zwei Mark pro Tag zu bezahlen. Diejenigen Häftlinge, die den Ansprüchen des Werkes nicht gerecht wurden, konnten ohne Aufpreis ausgetauscht werden, und die SS-Kommandantur übernahm es, an dem Ort ein Außenlager von Auschwitz-Birkenau zu errichten. Die Baukosten wurden aus der Kasse des Rüstungsministeriums gedeckt. Der Vertrag machte zur Bedingung, dass die Leitung des Lagers in den Händen der SS blieb, sodass niemand das Recht hatte, sich in die inneren Angelegenheiten einzumischen. Die Wachmannschaften sollten, abgesehen von den hohen Offizieren, von der Luftwaffe gestellt werden, für die das Werk produzierte. Das Abkommen war vom Reichssicherheitshauptamt genehmigt worden, und so kam es, dass ich eines Tages, mitten im Sommer 1944, von dem kleinen Lastwagen kletterte und mit der originellen Begrüßung des Hauptkapos in Empfang genommen wurde:

»Ihr seid zur richtigen Zeit gekommen, denn wir haben gerade die Leichen von drei Dummköpfen wie euch nach Auschwitz zurückgeschickt.«

Alles war vertraut. Die gleichen Pritschen in den gleichen Baracken, der gleiche elektrische Zaun, und auch die Wachtürme waren die gleichen wie in Auschwitz. Das gleiche Regime der Unterdrückung und der Erniedrigung, die gleiche dünne Suppe, die gleichen Morgen- und Abendappelle und die gleiche Bedrohung durch den Gaskammertod. Nur war diese Drohung nicht so konkret wie vorher. Der graue Himmel war nicht bleiern vom Rauch der Krematorien, sondern vom Qualm der Schwerindustrie. Der kleine Unterschied reichte, um der Illusion zum Opfer zu fallen, dass das Leben eines Menschen noch einen Wert besaß, solange die Nazis von ihm profitieren konnten.

Und was war meine Arbeit wert? Überhaupt nichts, wie es beim Prediger Kohelet heißt: »Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne …« Dr. Klater, mein Bibellehrer in Bielitz, hatte mir diesen Spruch eingepaukt. Aber es war eine Philosophie, mit der ich mich nicht abfinden konnte. Denn wenn dem so war, hätten alle Anstrengungen, die ich unternahm, um zu überleben, keinen Sinn gehabt. Wenn die Schicksale der Menschen schon vorab im Himmel bestimmt werden, wenn wirklich alles vorher aufgeschrieben ist und nur das Gebet an den Thron der Barmherzigkeit etwas ändern kann, was ist dann der Sinn des Kampfes? Doch das Flehen der Gläubigen wurde von Gott nicht erhört, gottesfürchtige Juden wurden durch die Schornsteine der Krematorien zum Jüngsten Gericht geschickt, Säuglinge, die noch nie gesündigt hatten, grausam ermordet; aber ich, der ich nicht an Gott glaubte, blieb am Leben. Nein. Ich konnte mich auf keinen Fall auf die göttliche Gerechtigkeit verlassen. Wenn ich nicht für mich selbst eintrete, wer wird es dann tun? Ich dachte die ganze Nacht darüber nach: Was würde mein Leben am nächsten Morgen wert sein, wenn ich meine Tüchtigkeit als Dreher zu beweisen hatte? Ich atmete, sah und hörte noch, alle meine Sinne waren funktionstüchtig, doch ein vernünftiger Mensch hätte wohl kaum einen Pfifferling für mein Leben gegeben. Hätte Fredek Minz mich sehen können, wie ich nicht vor Hitze, sondern vor seelischer Anspannung schwitzte, hätte er bestimmt gespöttelt: »Was jammerst du? Du hast dir die Suppe selber eingebrockt.«

Als ich auf der Pritsche lag, wollte ich nichts mehr, als die entscheidende Stunde hinauszuschieben. Ich wollte, dass die Zeiger der Uhr stehenblieben, dass es nie dämmern und der nächste Tag nie kommen würde. Aber ich wusste, dass dies nicht einmal der goldene Zauberfisch aus dem Märchen verwirklichen konnte. Als die ersten Lichtstrahlen in die Baracke drangen, noch blass und zögernd, versuchte ich mir den Moment vorzustellen, an dem ich dem Schicksal gegenüberstehen würde, ein Schicksal, das tausendundeine Form annahm und mir diesmal in Gestalt einer Maschine erschien. Aber es gelang mir nicht. Meine Phantasie ließ mich im Stich: Alles, was ich sah, war eine formlose schwarze Fläche, so schwarz wie meine Aussichten.

Die deutsche Ordnung überraschte mich jedes Mal von neuem. Beim Morgenappell rief der Kapo meine Kennnummer auf und teilte mir mit, dass ich zur ersten Schicht eingeteilt sei. Ich verstand nicht, warum er mir in den Hintern trat und dabei sagte: »Du hast Glück.« Ich schloss mich denen, die zur Arbeit gingen, an. Die beiden Häftlinge, die mit mir hergekommen waren, entdeckte ich nicht darunter. Doch wahrscheinlich hätte ich sie nicht einmal erkannt, wenn sie neben mir gestanden hätten. Versteckte Filter sonderten während dieser Zeit die Gesichter all jener aus, die ich nicht zu meinen Gunsten nutzen konnte. Wer mir nicht behilflich sein konnte, verblasste, bevor meine Erinnerungszellen ihn oder sie erfasst hatten. Ich sah nur den Wald, nicht die Bäume. Ich nahm eine Menschenmenge wahr, nicht Menschen, vielleicht mit Ausnahme einiger Passanten, Arbeiter in Arbeitsanzügen, eine Frau mit einem Einkaufskorb in der Hand, einen alten Mann, der auf einem Stock lehnte. Sie blickten uns desinteressiert an, als wir vom Lagertor zum Werktor marschierten, und warteten geduldig, dass wir uns entfernten, damit sie über die Straße gehen konnten. Sträflingskleidung war ein gewohnter Anblick, der keine Neugierde weckte.

Punkt sechs Uhr stand ich vor der Drehbank, die ihre Zahnräder zeigte, als ob sie ihre Beute beißen wollte. Ich betrachtete sie wie einen Golem, von dem man nicht weiß, wie man ihn handhaben soll. Der Vorarbeiter hielt mir eine technische Zeichnung hin.

»Du kannst Deutsch lesen?«, fragte er.

»Jawohl, mein Herr.«

Deutsch? Nannte er das Deutsch? Das technische Kauderwelsch kam mir vor wie Altchinesisch. Ich verstand überhaupt nichts. Ich versuchte erst gar nicht, die vertikalen und diagonalen Linien zu entziffern, auch der Sinn der Zahlen, die wie eine Algebra-Übung aussahen, blieb mir verschlossen. Ich schaute mich um. Die Werkhalle war riesig, Dutzende Maschinen standen darin auf einer geraden Linie wie mit dem Lineal gezogen. An jeder Drehbank, Fräsmaschine oder Schleifmaschine stand ein Häftling. In der Mitte der Halle erhob sich ein Turm, der in einem achteckigen Büro gipfelte. Eine eiserne Wendeltreppe wand sich zu dem verglasten Beobachtungsposten hinauf. Aus drei Metern Höhe konnten die dort Sitzenden uns beobachten. An jenem Morgen schob ein bebrillter Produktionsingenieur mit einem rundlichen Gesicht Wache, das Wohlwollen vermuten ließ. Ich beobachtete ihn, wie er von seinem Tisch aufstand und ans Fenster trat. Er ähnelte einer eigenartigen Kreatur, die es vorgezogen hatte, sich in einem Aquarium einzuschließen. Doch bald musste ich feststellen, dass sein freundliches Aussehen eine Täuschung war. Sein liebstes Vergnügen war es, ein Kabel an die Wendeltreppe zu binden, einen Gefangenen zu rufen und das Kabel in dem Moment, wo der Mann in die Falle tappte, in die Steckdose zu stecken. Der Stromstoß war nicht stark genug, um zu töten, aber die Spannung schleuderte den Mann herum, bis er zuckend, wie von einem epileptischen Anfall geschüttelt, herunterfiel. Und wenn er sich auf dem Boden wiederfand, noch zappelnd wie ein Fisch an Land, forderte der »gutherzige« Ingenieur ihn auf, aufzustehen und erneut zu ihm hochzusteigen. Der unglückliche Häftling wusste nie, wann der Ingenieur mit dem Spiel aufhören und ihn zur Arbeit zurückschicken würde.

Doch all dies lernte ich erst später, lange nachdem ich meinen Taubstummendialog mit der Drehbank abgehalten hatte. Ich nahm die Zeichnung zur Hand und brachte meinen ganzen Charme auf, um mich mit ihr anzufreunden, aber vergeblich. Sie blieb so feindselig wie eine Anklageschrift. Während ich noch ihr Geheimnis zu entziffern suchte, stand wieder der Vorarbeiter hinter mir. Seine Stimme erschreckte mich.

»Hast du Probleme, die Zeichnung zu lesen?«

»Ich? Natürlich nicht«, antwortete ich mit einer Selbstsicherheit, die meine Verwirrung vertuschen sollte.

»Brauchst du Hilfe?«

»Ich werde schon damit fertig, mein Herr.«

Der Vorarbeiter hatte meine Täuschung noch nicht erkannt. Noch nicht. Ich legte die Zeichnung auf ihren Platz. Er erklärte:

»Wir verlangen Präzisionsarbeit. Dein Tagesquantum beträgt vierundachtzig Teile. Pro zehn Teile, die du über das Quantum hinaus produzierst, bekommst du hundert Gramm Brot. Pro zehn Teile unter dem Quantum erhältst du zehn Peitschenhiebe. Jeder, der dreimal geschlagen worden ist, wird nach Auschwitz zurückgeschickt. Ist alles klar?«

»Sonnenklar, mein Herr.«

Der Vorarbeiter ging weg. Ich nahm einen Metallstock und befestigte ihn an dem Drehkopf. Ich musste schnellstens die Drehbank in Betrieb setzen, um den Deutschen nicht misstrauisch werden zu lassen, aber ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wie man das macht. Ich drückte auf den schwarzen Knopf; nichts. Ich drückte auf den roten Knopf; keine Reaktion. Hilflos schaute ich mich um. Einige Dreher blickten zurück. Sie hatten schon Leute wie mich gesehen und wussten, was passieren würde. In ihren Augen las ich mein Urteil. Plötzlich trafen sich meine Blicke mit denen des Häftlings, der links von mir arbeitete. Er trug blaugrau gestreifte Kleidung wie ich. Er war klein, hatte einen kräftigen Körper, rosige Wangen und lächelnde blaue Augen. Seine Nationalität konnte ich leicht anhand des roten Dreiecks mit dem Buchstaben P darauf erkennen. Er goss eine Kühlflüssigkeit über das Messer seiner Drehbank und sprach mich auf Polnisch an:

»Hallo, Jud, wie nennt man euer Totengebet?«

»Kaddisch.«

»Ich habe es noch nie gehört. Hast du schon gebetet?«

Ich hielt es nicht für nötig, ihm Unterricht in jüdischer Religion zu erteilen. Ich zuckte mit den Schultern.

»Was wird aus dir werden«, sagte er. Es war keine Frage.

»Gott ist mächtig.«

»Nicht mächtig genug, um für dich die Drehbank anzuwerfen.«

»Ich glaube, du hast recht«, antwortete ich.

»Nicht so laut«, warnte er mich. »Wir dürfen nicht reden.«

»Wenn es so ist, warum redest du dann?«

»Sei kein Schlauberger, Jud.«

»In Ordnung, ich halte meinen Mund.«

»Weißt du, wer ich bin?«

»Du bist jemand, der eine Drehbank bedienen kann.« Der polnische Häftling kicherte: »Jeder hier kennt mich.«

»Nicht jeder. Ich kenne dich nicht.«

»Wirklich?« Sein Erstaunen war echt.

»Wirklich.«

»Meine Name ist Kurt. Kurt Kolonko.«

»Und mein Name ist Roman.«

»Hast du keinen Nachnamen?«

»Ich hatte. Jetzt ist mein Nachname gefälscht.«

»Wirst du wieder frech?«

»Hab ich nur so gesagt.«

»Hast du dich mal für Boxen interessiert?«

»Nein.«

»Vor dem Krieg war ich Meister im Federgewicht.«

»In der Nationalmannschaft?«

»In der Mannschaft Oberschlesiens, mein Lieber«, berichtigte er mich mit verhaltenem Stolz. »Ich bin in Schlesien geboren und habe Schlesien vertreten. Du wirst es nicht glauben, aber wir blicken auf fünf Generationen zurück, immer in der gleichen Stadt. Es gab keine Seele, die mich nicht kannte. Sogar die Jidden, wenn sie überhaupt eine Seele haben. Frag mich nicht, was sie an Stelle einer Seele haben, ich bin kein Arzt und auch kein Priester. Frag mich, ob sie Angst vor mir hatten, und ich werde es dir sagen: Sie hatten eine Höllenangst. Wenn sie nicht schnell genug auf die andere Straßenseite gingen, bekamen sie von mir einen Kinnhaken verpasst. Und was für einen. Ich habe sie so verprügelt, dass sie es ihr Leben lang nicht vergessen werden. Jesus, wie gut hat das getan, ihnen eine reinzuhauen. Ihretwegen waren wir arm. Sie hatten blühende Geschäfte und gute Anstellungen und aufgeputzte Frauen, und wir hatten nichts, nur harte Arbeit. Ihr seid eine Rasse, die sich zu helfen weiß.«

»Ich wünschte, du hättest recht«, meinte ich verbittert.

»Was soll jetzt aus dir werden? Riechst du schon das Gas?«

»Sie sagen, Zyklon B sei geruchlos.«

»Und du stirbst vor Neugierde, es auszuprobieren … Ha, da ist mir aber ein nettes Wortspiel gelungen. Ich bin kein lausiger Intellektueller wie du, aber ich bin auch kein Dummkopf. Ich habe auf der Berufsschule gelernt. Du hast sicher Literatur studiert, was? Dein Vater ist sicher Bankier oder Rechtsanwalt, stimmt’s?«

»Er ist tot.«

»Und deine Mutter ist sicher eine Lady, die Seidenhandschuhe trägt, stimmt’s?«

»Sie ist auch tot.«

»Ja, sterben ist leicht heute. Je früher man stirbt, desto weniger leidet man. Du wirst auch sterben. Du bist nicht der Erste und wirst nicht der Letzte sein, der vom Regen in die Traufe gekommen ist. Morgen wirst du da hingeschickt, wo sie aus Juden Seife machen. Wusstest du nicht, dass man aus ihnen Seife macht?«

»Wenigstens wird jemand davon sauber werden.«

Meine Antwort gefiel ihm. Er legte mir die Hand auf die Schulter, schob mich zur Seite und näherte sich der Drehbank.

»Was machst du?«, fragte ich verwundert.

Der ehemalige Boxer beugte sich über die Maschine, studierte die Zeichnung und sagte: »Misch dich nicht ein. Pass auf, dass mich der Vorarbeiter nicht erwischt.«

Mit flinken Händen spannte Kurt Kolonko die Schneidewerkzeuge ein. Während der Arbeit sprach er ohne Unterlass:

»Hab keine Angst, alles ist automatisch und sehr einfach. Beobachte, was ich mache, und lerne. Dies sind Wolframmesser. Ein sehr hartes Metall, das Stahl wie Butter schneidet. So setzt du die Messer in den Drehkopf ein. Du musst vorsichtig sein, Wolfram ist sehr teuer, und die Schwaben bekommen einen Herzinfarkt, wenn man ihnen eines kaputtmacht. Siehst du diesen Schlitz? So muss man das Messer schleifen, damit die Kühlflüssigkeit darüber läuft, wie es in den Büchern beschrieben ist. Wolfram verlangt Sorgfalt wie eine bockige Frau. Hast du schon mal eine Frau gefickt?«

»Nein.«

»Nach Boxen ist das mein liebster Sport. Wenn du alles genauso machst, wie ich es dir sage, wirst du vielleicht von diesem Nektar kosten.«

»Warum tust du das?«

»Warum? Ich bin ein Mann. Und Mann braucht Frau.«

»Ich meine dies hier«, sagte ich und zeigte auf die Drehbank.

»Ach das. Weil sie sonst Seife aus dir machen und du nie wissen wirst, was eine Frau ist.«

»Wenigstens einer wird davon sauber werden.«

Diesmal verstand Kolonko mich nicht. »Von dieser Seife«, grinste ich. Er ignorierte meine Bemerkung. »Du passt für mich auf?«, fragte er.

»Mach dir keine Sorgen. Der Vorarbeiter ist auf der anderen Seite der Halle.«

»Und der Ingenieur?«

»Sitzt mit dem Rücken zu uns.«

»Sehr gut. Ich bin gerade fertig. Die Messer sind ausgerichtet, der Drehkopf wird sie von allein drehen. Alles, was du tun musst, ist, das fertige Teil herausziehen und ein neues hineinstecken … Jeder Schwachkopf kann das … Guck mich nicht mit Kalbsaugen an, ich habe dir doch gesagt, du sollst für mich aufpassen … Du willst wissen, warum ich dir helfe? Erstens kann ich es nicht vertragen, wenn einer nicht weiß, wie man mit einer Drehbank umgeht. Das ist die Hauptsache. Und ich will dir noch etwas sagen: Ich liebe die Juden nicht, aber ich hasse die Nazis. Hast du verstanden? Sicher nicht. Du bist ein dummes Waisenkind. Ich hoffe nur, dass du kein dummer Dreher wirst. Es ist eine große Ehre für dich, dass man dich an so einem Spielzeug arbeiten lässt. In unserer Werkstatt hätte ich nicht einmal von so einer zu träumen gewagt.«

»Vielleicht wirst du einmal eine haben.«

»Vielleicht«, seufzte er, und das Lächeln verschwand von seinen Lippen.