13

Als ich in Agathes weißes Gesicht blickte, fasste ich den Entschluss, nicht weiter nach Gestalten aus der Vergangenheit zu suchen, da jede erfolgreiche Suche nur Seltsamkeiten und Enttäuschungen mit sich brachte. Der Weg zu Orten, an denen ich Aufregendes erlebt hatte, führte mich nicht in meine Jugend zurück; ein Museum aber wollte ich auf gar keinen Fall besuchen. Die Hauptpersonen im Drama des Lebens hatten ihre Form und ihren Inhalt verändert. Ich hatte nicht die Absicht, den Vorhang zu heben, denn das Schauspiel war vorbei, und alles, was auf der Bühne zurückgeblieben war, waren Teile der Kulissen. Die Farben waren verblasst, die Stimmen rau geworden, die Blumen verwelkt. Nur die Erinnerungen, die nicht mit der Gegenwart konfrontiert werden mussten, blieben vom Schimmel verschont. Wenn es aber eine Frau gibt, deren Gestalt ich für immer unverzerrt aufbewahren will, so ist es Monika. Obwohl ich sie leicht hätte finden können, unterließ ich es. Es ist anzunehmen, dass auch sie so dachte, denn während der ganzen Zeit, die ich in Polen verbrachte, gab sie kein Lebenszeichen von sich. Beide hüteten wir unsere Liebe im Innern unserer Seele und stellten sie bewusst nicht wieder auf die Probe.

Falls ich geglaubt hatte, dass der Holocaust meine Fähigkeit, mich zu begeistern und zu lieben, ausgelöscht hätte, so belehrte mich Monika eines Besseren. Sie war die erste Frau in meinem Leben, die mich weder unter dem ersten Eindruck noch aus Berechnung handeln ließ. In ihrer Gegenwart fühlte ich, dass das Herz nicht nur eine Pumpe ist, die das Blut durch die Adern treibt. Ich lernte, dass es ein Feuer gibt, das den Körper nicht versengt, und dass ich, ein verschlossener Mensch, mich öffnen konnte. Bis zu unserer ersten Begegnung hatte ich zwar die Fähigkeit entwickelt, gut mit meiner Umgebung auszukommen, aber nur wenn es meine Arbeit als Journalist verlangte. Ich ähnelte einem stotternden Schauspieler, der fließend spricht, wenn er seine Rolle auf der Bühne spielt, aber sofort wieder zu stottern beginnt, sobald er von der Bühne in sein persönliches Leben zurücktritt. Dieses Phänomen ist bekannt und in der psychologischen Literatur beschrieben, und es begleitet mich zu einem gewissen Grad bis zum heutigen Tag. In den Augen meiner Interviewpartner und in Gesprächen mit Leuten, die mir bei der Arbeit behilflich sein können, bin ich ein netter Mensch und ein herzlicher Konversationspartner; es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass diese Offenheit nicht echt sein könnte, dass sie vielleicht nur zu meiner pragmatischen Einstellung zum Leben gehört, die ich mir angewöhnt habe. Allein mit Frauen, die meine Leidenschaft entfesseln wie den Geist aus der Flasche, allein mit Frauen, die meine geheimsten Sehnsüchte, von denen ich mitunter selbst nicht wusste, dass es sie gab, wecken, ist es mir möglich, einen offenen Dialog zu führen, ernsthaft und ohne Täuschungsmanöver. Es ist, als erlernte ich eine neue Sprache, die es mir erlaubt, einen unmittelbaren, direkten Kontakt zu einem anderen Menschen herzustellen.

Monika war ein Jahr älter als ich. Sie war in einem Kloster des Ursulinen-Ordens erzogen worden, aber selbst die strenge, katholische Erziehung hatte dem Feuer in ihrem Charakter nichts anhaben können. Damals, kurz nach meiner Trennung von Gitta, wohnte ich noch in der Gegend von Hirschberg. Monika studierte Rechtswissenschaft an der Breslauer Universität. Jeden Tag fuhr ich mit dem Motorrad etwa hundert Kilometer, damit ich den Abend mit ihr verbringen konnte. Ich lernte ganze Kapitel der sokratischen Philosophie auswendig, um mich mit ihr messen zu können, um ein Gesprächsthema zu haben. Ich begehrte sie, wagte es jedoch nicht, sie zu berühren. So ging es monatelang, und als wir endlich vom Baum der Erkenntnis kosteten, bedauerten wir die Zeit, die wir vergeudet hatten.

Monikas Mutter redigierte die Provinzausgaben der Słowo Polskie, und ich machte meine ersten Gehversuche als Journalist. Als ich noch bei Gitta war, hatte ich Essays und Kurzgeschichten verfasst und in der Schublade versenkt. Ich glaubte nicht, dass sie es wert waren, gedruckt zu werden. Józef Muszkat, der Hirschberger Redakteur der Słowo Polskie, dachte anders. Das behauptete er wenigstens, als ich zu einem Leseabend in sein Haus kam. Ich war von der Größe seiner Wohnung beeindruckt, bewunderte den Fernschreiber, der in seinem Arbeitszimmer stand, und war dankbar, dass er mich nicht von oben herab wie einen Schüler behandelte. Bevor wir uns in zwei gegenüberstehenden Sesseln niederließen, servierte er mir ein Gläschen Orangenlikör, süß und klebrig. Muszkat setzte seine Brille auf und vertiefte sich in die Lektüre. Gespannt beobachtete ich seinen Gesichtsausdruck, als er die Seiten, eine nach der anderen, auf den Fußboden legte. Von Zeit zu Zeit füllte er mein Glas nach. Ich war an scharfe Getränke nicht gewöhnt. Ich fühlte, wie mir die Beine schwer wurden. Mir drehte sich der Kopf.

»Danke, ich trinke nicht mehr«, sagte ich.

Muszkat erwiderte spöttisch:

»Du wirst nie ein Schriftsteller werden. Alle großen Werke wurden in betrunkenem Zustand geschrieben.«

Wieder war mein Glas voll. Ich trank es aus, und sofort schoss der Inhalt meines Magens in meine Kehle. Ich bat um Erlaubnis, die Toilette benutzen zu dürfen. Ich beugte mich über die Schüssel, erbrach mich, spülte nach und schämte mich, dass Muszkat alles hören konnte. Als ich zurückkam, nahm er einen Moment seine Brille ab, musterte mich wie ein guter Vater und lächelte:

»Es ist nicht der Rede wert. Du wirst älter werden und dich daran gewöhnen.«

»Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen.«

»Bist du nicht an meiner Meinung interessiert?«

»Doch, sehr, aber ich fühle mich nicht wohl.«

»Ruh dich aus, bis ich alles gelesen habe.«

»Ich kann …«

»Nein, du kannst nicht. Ich erlaube dir nicht, mit dem Motorrad zu fahren. Du bist mein Gast, und ich bin für dein Wohlbefinden verantwortlich.«

»Wenn Sie es sagen.«

»Ja, das sage ich. Geh ins Bett und vergiss die Welt. Morgen wirst du so gut wie neu sein.«

Muszkat stand auf, nahm meine Hand und führte mich ins Schlafzimmer. Ich setzte mich auf die Bettkante. »Lass mich das machen«, sagte er, als ich Probleme hatte, meine Schnürsenkel zu lösen. Als er neben mir kniete, sah ich die kahle Stelle in der Mitte seines Schädels. Ich zog mich aus. Der Kopf tat mir weh. Erleichtert schlüpfte ich unter die Decke. Mein Mund füllte sich mit einem sauren Geschmack. Ich hatte Angst, dass ich mich wieder übergeben müsste, wollte mich entschuldigen, aber plötzlich schlief ich ein und verlor den Kontakt zur Wirklichkeit. Im Traum spürte ich Muszkats feuchtwarmen Körper an meinem Rücken. Das Bewusstsein kam langsam, wie aus weiter Ferne, zu mir zurück. Nein, es war kein Traum. Ich hörte sein hastiges Atmen. Seine Hand streichelte mein Gesäß. Ich versuchte, an die Bettkante zu entkommen. Muszkat hielt meine Hüften umklammert.

»Bewege dich nicht!«, befahl er mit der Strenge eines Erwachsenen, der mit einem Teenager spricht.

»Fass mich nicht an!«, schrie ich.

Muszkat ließ mich los. »Hab keine Angst«, flüsterte er mir ins Ohr. »Ich tu dir nicht weh.«

Der Alkoholnebel verflog sofort. Ich war vollkommen nüchtern. Ich sprang aus dem Bett. Muszkat lag nackt da. Erst jetzt bemerkte ich, wie mager er war. Seine Rippen stachen aus der Haut hervor. Sein Körper war weißlich, abstoßend.

»Du ekelst dich vor mir?«, fragte er traurig, als könne er meine Gedanken lesen.

»Warum hast du mir das angetan? Warum hast du mir das angetan?«, platzte ich heraus. »Ja, du ekelst mich an. Ich hasse dich!«

Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Muszkat deckte sich mit einem Laken zu. »Du bist schon kein Kind mehr, du kannst verstehen …«, fing er an und sprach nicht zu Ende.

Nein, ich war kein Kind mehr, und ich konnte weder verstehen noch verzeihen. Bis vor einer Stunde war er für mich eine edle Gestalt gewesen, ein bekannter Journalist und ein Vorbild. Ich wünschte mir nichts mehr, als ihm gleich zu sein. Nun, mit einem Schlag, hatte er alles zertrümmert. Ich war wütend, dass er mir meinen Ehrgeiz genommen hatte, in seine Fußstapfen zu treten. Eilig zog ich meine Hosen an. Ich wollte wegrennen, So weit wie möglich von dem Schandfleck entfernt sein, verschwinden. Muszkat machte die Lampe an. Ich sah ihn wütend an: Warum, zum Teufel, hast du alles zerstört? Und laut fragte ich:

»Wo sind meine Texte? Ich gehe nach Hause.«

»Geh nicht«, bat er, plötzlich sanft. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe mich hinreißen lassen. Es wird nicht wieder passieren, das verspreche ich dir.« Er stand vor mir, in das Laken gehüllt, nahm seine Brille auf und setzte sich hin. »Du bist so ein hübscher Junge, ich konnte der Versuchung nicht widerstehen.«

»Das ist eine Lüge! Du hast das geplant. Du hast alles genau geplant.«

»Du bist hübsch und auch intelligent. Sagen wir, ich habe all dies geplant, was ist so schlimm daran? Ich wollte dich nicht verletzen. Die Liebe eines Mannes zu einem Mann kann so schön sein wie die Liebe eines Mannes zu einer Frau. Du hast noch nie Erfahrungen mit einem Mann gemacht?«

»Doch.«

»Warum bin ich schlimmer als dieser Mann?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Erzähle sie.«

»Nein.«

»Warum nicht? Die Nacht ist lang, und wir werden nicht mehr schlafen können. Erzähle sie.«

»Ich kann sie nicht erzählen. Auf jeden Fall nicht jetzt.«

»Dann schreibe sie auf.«

»Vielleicht später einmal.«

»Warum später? Schreibe jetzt, solange du noch aufgebracht bist, solange das Erlebnis noch so stark ist, solange du noch Feuer und Schwefel spuckst. Ich habe deine Geschichten gelesen. Sie sind gut. Sie sind sehr gut, aber sie haben keine Seele, nichts Loderndes. Geh in mein Arbeitszimmer und schreibe. Schreibe!«

»Du meinst das nicht ernst.«

»Es war mir nie ernster.«

»Es ist Wahnsinn.«

»Aber es hat Methode«, lächelte er.

Es war zwei Uhr nachts. Ich zögerte. Muszkat ging ins Bett zurück und löschte das Licht. »Wenn du fertig bist, weck mich«, sagte er. Ich wusste, dass ich die Sache zu Papier bringen musste, wenn ich es jetzt nicht tat, dann würde ich es nie tun. Ich schloss die Tür zum Schlafzimmer hinter mir. Ich ging in Muszkats Arbeitszimmer. Auf seinem Schreibtisch brannte die Tischlampe. Die Likörflasche stand auf einem Aktenstapel. Ich warf sie in den Papierkorb. Meine Finger waren klebrig. Ich nahm einen Füllfederhalter und schrieb:

Alle nannten ihn Árpád Bácsi. Er hatte in seinem Leben mehr Gefängnisse als Schulen kennengelernt. Er begann seine Karriere schon als Kind, als Taschendieb im Bahnhof von Budapest. Als er erwachsen war, wurde er Einbrecher, ein sehr seltener Beruf unter den Juden Ungarns. Dank seiner langen Erfahrung war er der König des Gefängnisses. Für die Deutschen, die sein Land besetzten, war er nur ein kleiner Verbrecher. Ein jüdischer Verbrecher. Lange bevor die Opfer Eichmanns dorthin kamen, wurde er nach Auschwitz gebracht. Von dort aus kam er in das Lager »Eintrachthütte«. Dort traf ich ihn im Herbst 1944. Árpád Bácsi genoss den Status eines privilegierten Sträflings. Er hatte die besondere Begabung, kleine Skulpturen und kunstvolle Schachfiguren formen zu können. Sein Rohmaterial war eine kostbare Rarität: Brot. Die Aufseher, die seine Kreationen haben wollten, versorgten ihn reichlich damit. Árpád Bácsi liebte junge Männer. Die jungen Gefangenen liebten Brot – so schloss sich der Kreis.

Er hatte ein scharfes Auge, wenn es darum ging, unter den neu eintreffenden Häftlingen seine Jungen auszuwählen. Einen Tag nach meiner Ankunft im Lager nahm er mich in seine Mannschaft der Brotkauer auf. An den Abenden, nach der Arbeit, setzte er fünf bis sechs Jungen auf den Fußboden der Baracke und gab uns ein Stück von einem Laib Brot. Unsere Aufgabe war es, das Brot langsam zu kauen, es zwischen Zunge und Gaumen zu drehen, bis es die Spucke aufgesogen hatte und weich wurde, leicht zu bearbeiten. Nur Brot wie dieses, so erklärte er, würde den Figuren, die er formte, ein ewiges Leben schenken. Zeit, Feuchtigkeit und Insekten würden ihnen nichts anhaben können.

Der Geschmack des Brotes war himmlisch, aber wehe dem, der probierte, auch nur einen einzigen Krümel herunterzuschlucken. Árpád Bácsi kannte keine Gnade. Er saß uns gegenüber, sein aufmerksamer Blick auf den Adamsapfel eines jeden von uns geheftet, bereit, jeden Jungen zu erwürgen, der der Versuchung nicht widerstehen konnte. Er wusste, wie hungrig wir waren, und kannte alle Tricks, mit denen wir ihn zu überlisten suchten.

Das durchgekaute Material spuckten wir auf ein weißes Leintuch. Árpád Bácsi untersuchte seine Qualität mit Inbrunst, als wäre es ein kostbares Schmuckstück. Er berührte es leicht mit der Fingerspitze, um die Klebrigkeit zu überprüfen, und wenn er nicht zufrieden war, kratzte er den Teig von dem Leintuch und gab ihn uns zur Weiterverarbeitung zurück. Meine Kinnbacken waren schon müde, wenn ich die Belohnung für meine Arbeit bekam – die Kruste.

Jeden Abend um zehn Uhr wurde das Licht ausgeschaltet. Zu diesem Zeitpunkt mussten wir auf unseren Pritschen liegen, unsere Uniformen mussten zusammengefaltet sein und unsere geschorenen Köpfe unbedeckt und frei zur Inspektion. Nur dem Barackenältesten und Árpád Bácsi war es erlaubt, sich nachts in der Baracke zu bewegen. Der Barackenälteste zog es vor, sich in die Kammer zurückzuziehen, die ihm zur Verfügung stand; Árpád Bácsi hatte andere Gewohnheiten. Ich hatte zwei Monate für ihn Brot gekaut, bevor er kam, um sich den wahren Preis für die trockene Brotkruste zu holen. Mein Pritschenpartner hielt seinen Mund, als Árpád Bácsi ihn von seinem Platz verjagte und sich hinter mich legte. Noch bevor er mich anfasste, wusste ich, was kommen würde. Seine Hand strich über meinen Körper, mit einem zitternden Finger suchte er meinen Eingang. Der Finger, mit Schmalz bestrichen, fand leicht meinen Anus und bohrte sich mit einer drehenden Bewegung in mich hinein. Meine Gesäßmuskeln spannten sich, um es zu verhindern, aber der geile Alte wusste genau, wie man solche Verteidigungsversuche vereitelt. Der Finger kam heraus, und sein Penis drang mit einem schnellen Stoß in mich ein. Die Schmerzen waren fürchterlich. Ich wollte schreien. In dieser Sekunde, als ob er meine Reaktion erwartet hätte, hielt er mir mit der anderen Hand den Mund zu. In der Handfläche hatte er eine Scheibe Brot. Ich unterdrückte meinen Schrei. Ich aß aus seiner Hand. Kaum hatte ich die erste Scheibe gegessen, füllte er meinen Mund mit der zweiten. Ich aß schnell, um die dritte zu bekommen, bevor er seinen Höhepunkt erreichte. Árpád Bácsi, ein Profi auch auf dem Gebiet der Vergewaltigung, bohrte in mir mit kurzen, rhythmischen Stößen. Jede Bewegung zerriss meinen Körper. Aus der anfänglichen Pein wurde ein langer brennender und quälender Schmerz. Ich blutete. Aber erst als er von mir abließ und ich den letzten Brotkrümel heruntergeschluckt hatte, überfiel mich ein Gefühl der Demütigung, weil er mich so grob überfallen hatte, und eine Welle der Scham, dass der Hunger meine Ehre ausgelöscht hatte. Das war keine Vergewaltigung. Ich hatte mich nicht gewehrt, hatte nicht um Hilfe gerufen, hatte nicht verlangt, dass er aufhöre. Ich blieb still, als er mir zum Abschied einen Klaps aufs Gesäß gab und an seinen Schlafplatz zurückging.

Er war nicht mit leeren Händen gegangen. Das bemerkte ich, als ich nach zwei Stunden aus einem Alptraum erwachte, der meine letzten Kräfte aufgezehrt hatte. Meine Mütze war verschwunden.

Ein Häftling ohne Mütze war ein toter Häftling. Jeder, der beim Morgenappell nicht vorschriftsmäßig seine Mütze trug, wurde vom Kapo oder dem diensthabenden Offizier sofort erschossen. Die beiden machten sich oft einen Spaß daraus. Der Kapo schnappte sich die Mütze eines Gefangenen und warf sie ans andere Ende des Platzes, und der SS-Offizier erschoss das Opfer. Wenn der Häftling mit bloßem Kopf dastand, erschoss er ihn, weil er keine Mütze hatte, und wenn er losrannte, um sie aufzuheben, erschoss er ihn wegen »Fluchtversuchs«.

Du gemeiner Hundesohn, verfluchte ich Árpád Bácsi in meinen Gedanken. Ich hatte nur noch zwei, vielleicht drei Stunden zu leben. Kalter Schweiß lief mir über den Rücken, ich fühlte die kalten Tropfen mein Rückgrat hinunterrinnen. Árpád Bácsis Absicht war klar. Er wollte mich loswerden. Er wollte sich eines Zeugen entledigen, der ihn belasten konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht weiter aufgefallen, dass von Zeit zu Zeit Jugendliche der Kaumannschaft verschwanden oder unter eigenartigen Umständen getötet wurden. Der letzte ertrank im Jauchetank der Lagerlatrine. Ich musste meinen Impuls unterdrücken, zu Bácsis Pritsche zu gehen und kategorisch mein Eigentum zurückzufordern. Meine Mütze hätte ich leicht erkannt. Sie hatte Blutflecken, eine Erinnerung an einen Knüppelschlag des Kapos auf meinen Kopf. Aber was hätte mir dieser Beweis schon genutzt? Árpád Bácsi hätte meine Behauptung bestimmt abgestritten, vielleicht hätte er mich sogar ausgelacht und seinen Freund, den Barackenältesten, gerufen, um mich wegen Verstoßes gegen die Lagerordnung bestrafen zu lassen. Im Reich des Bösen hatten Zeugen und Beweise kein Gewicht, und es gab kein lächerlicheres Wort als »Gerechtigkeit«. Árpád Bácsi war ein älterer und privilegierter Häftling, ich war nur ein wertloses Zubehör der Nummer, die auf meinem Arm eintätowiert war. Bei einer direkten Konfrontation mit diesem Mann hatte ich keine Chance.

Vorsichtig und leise kroch ich aus meiner Pritsche. Meine nackten Füße berührten den kalten Betonboden. Die Kälte tat mir gut; ich bekam wieder einen kühlen Kopf. Ich sah nach links, ich sah nach rechts. Nur eine nackte Glühbirne über der Eingangstür spendete etwas Licht. Der Raum der Baracke glich einem dunklen Tunnel. Ich hörte das Atmen der schlafenden Gefangenen. Jemand schnarchte. Ich schlich den engen Gang zwischen den Pritschen entlang. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, spitzte die Ohren, um jedes Geräusch um mich herum mitzubekommen, und tappte weiter. Meine Augen wurden wie die einer Katze, sie suchten einen leichtsinnigen Häftling, der nicht dafür gesorgt hatte, dass seine Mütze gut versteckt unter seiner Decke lag. Ich hatte Angst. Ich wusste, wenn man mich erwischte, würden sie mich kurz und klein schlagen. Niemand hätte mich verteidigt. Diebstahl war ein unverzeihliches Verbrechen. Der Schmerz in meinem Anus brannte wie Feuer. Jemand hustete. Ich erstarrte. Bewegungslos wartete ich ab, was passierte. Der Mann schlief weiter. Ich tat noch einige Schritte und blieb wieder stehen. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft, um eine plausible Ausrede zu finden, falls man mich entdecken sollte. Keine Ausrede wäre indes gut genug für die wütenden Häftlinge gewesen. In Auschwitz hatte ich gesehen, wie sie einen Mützendieb erwischten. Die Gefangenen hängten ihn an einem Balken auf, die Leiche baumelte den ganzen Tag lang an dem Strick – als Warnung für andere. Unwillkürlich schaute ich zu den Dachbalken hoch, und dieser Blick führte mich zu meinem Opfer. Er lag auf der obersten Pritsche. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn er hatte die Decke darüber gezogen. Doch die Spitze seiner Mütze lugte unter seinem angewinkelten Arm hervor. Vorsichtig zog ich an der Mütze. Der Mann rührte sich nicht. Die Mütze war in meiner Hand. Rasch steckte ich sie unter mein Hemd. Der raue Stoff kratzte an meiner Brust. Glücklich begann ich meinen Rückzug. Ich durfte nicht hetzen. Ich lauschte. Stille. Nur das laute Schlagen meines Herzens war in der Baracke zu hören. Ich ging auf Zehenspitzen, vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen. Zehn Minuten vergingen, vielleicht auch nur eine, bis ich meine Pritsche erreicht hatte. Mein Nachbar auf der unteren Pritsche drehte sich um. Hatte er gesehen, was geschehen war? Ich hielt den Atem an. Er schlief weiter. Wie alle war er bestimmt müde. Unsere Müdigkeit wirkte stärker als eine Schlaftablette. Ich kletterte auf meinen Platz und versteckte die Mütze in meiner Hosentasche. Ich konnte nicht einschlafen. Bis zum Wecken machte ich kein Auge zu.

Der Appell war pünktlich um fünf Uhr. Scheinwerfer beleuchteten das Gelände. Es schneite leicht, und die Kälte drang uns bis in die Knochen. »Achtung!«, brüllte der Kapo, und wir alle standen stramm. Das Zählen begann. Ich stellte mich in die zweite Reihe. Es war wichtig, eine gute Position in der Mitte zu erwischen, nicht zu auffällig und nicht hintenan, so weit wie möglich außerhalb des Blickfeldes des Nazi-Offiziers. Vor mir, am Ende der ersten Reihe, stand Árpád Bácsi. Er konnte es sich erlauben, vor dem Offizier und dem Kapo zu stehen; dank seiner Stellung war er gegen Unheil immun. Ich fand ihn mühelos. Nur Bácsi hatte einen fetten Nacken, der über den Kragen seiner Uniform quoll; den Nacken eines Mannes, der keinen Hunger kannte. Auch seine Mütze war mir vertraut. Es waren Blutspuren darauf.

Irgendwo hinter mir stand ein Mensch, der auf seinen sicheren Tod wartete. Außer ihm wussten nur Árpád Bácsi und ich, was an diesem Morgen passieren würde. Árpád Bácsi würde bestimmt enttäuscht sein, wenn er merkte, dass ich am Leben geblieben war. Ich hatte keine Ahnung, was der Mann ohne Mütze fühlte und dachte. Ich hatte keine Gewissensbisse, ich verweigerte mich jedem Gedanken an ihn oder an seine Gefühle. Seine Existenz war mir nicht wichtig. Wenn ich mir nicht helfe, wer sonst wird es tun?

Der Offizier und der Kapo schritten durch die Reihen, inspizierten die Kleidung, die Haltung, die Arbeitsfähigkeit der Häftlinge. Wann würden sie zu ihm kommen? Der Offizier und der Kapo zählten die Gefangenen, ich die Sekunden. Ich wollte, dass die Sache schnell vorbei war. Die beiden inspizierten die vierte Reihe. Der Mann ohne Mütze flehte nicht um sein Leben. Der Mörder und das Opfer kannten die Spielregeln; es hatte keinen Sinn, um Gnade zu bitten. Der Schuss wurde ohne Vorwarnung abgefeuert. Ein kurzer Knall, trocken und ohne Echo. Sicher wurde er in den Kopf abgefeuert. Sie schossen immer in den Schädel. Immer von hinten. Immer aus kurzer Entfernung. Es war Krieg, und die Regierung verlangte von den Mördern, Kugeln zu sparen. Ich blickte mich nicht um. Ich wollte nicht wissen, wer erschossen worden war. Ich war froh zu leben.

Ich war fertig. Die Seiten lagen vor mir. Meine Handschrift war deutlich, die Zeilen standen gerade wie Häftlinge bei einem Appell. Die Buchstaben lehnten sich zurück, als ob sie sich der Offenbarung jedes weiteren Wortes widersetzen wollten. Ich wischte mit meinem Handrücken über das erste Blatt, als wollte ich ein Staubkorn entfernen. Ich dachte: Na also, ich bin mit dem Erlebnis gut fertig geworden, ohne in der Grauzone der Halbwahrheiten und Halblügen Zuflucht zu suchen. Alles, was blieb, war die Korrektur dessen, was ich geschrieben hatte, doch dazu fehlte mir die Kraft. Ich fürchtete, dass der Text mich wie ein Bumerang treffen würde, wenn ich ihn läse, dass ich ihn, gleichsam in Notwehr, in Fetzen reißen würde, damit niemand mich nach seinen Maßstäben würde beurteilen können. Ich schob die Seiten an die Kante des Schreibtisches, vielleicht um eine Distanz zwischen mir und der Geschichte zu schaffen. Und dann kam Muszkat ins Zimmer und nahm die Blätter zur Hand.

»Wirst du sie jetzt lesen?«, fragte ich.

»Wir warten beide auf eine Antwort«, sagte er, ohne weitere Erklärung.

Als er sich hinsetzte und las, beobachtete ich ihn neugierig. Erst jetzt bemerkte ich die weißen Haare in seinem Schnurrbart, das leichte Zittern der Augenlider hinter seiner Hornbrille, die manikürten Fingernägel. Ein heller Wollanzug verbarg seine Magerkeit. Er setzte seinen linken Fuß auf den rechten, dann wechselte er die Position, der rechte Fuß stand nun auf dem linken, eine Hand wanderte über den Schreibtisch, die Finger trommelten auf der Platte, und das irritierte mich. Zwischen uns war eine Spannung, deren Ursprung ich mir nicht erklären konnte. Als er bei der letzten Seite angelangt war, nahm er seine Brille ab und sah mich an, als könne er nicht glauben, dass ich der Mann war, der dies geschrieben hatte.

»Alles ist wahr?«, fragte er nach einer langen Minute des Schweigens.

»Jedes Wort.«

»Du wirst sicher meine Meinung wissen wollen.«

»Ja.«

Muszkat räusperte sich: »Die Geschichte ist in Ordnung. Wir werden sie in der Sonntagsbeilage veröffentlichen.«

»Kommt nicht in Frage.«

»Was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass die Geschichte nicht veröffentlicht werden kann.«

»Warum hast du sie dann geschrieben?«

»Ich weiß es nicht. Es war stärker als ich. Vielleicht wegen …«

»… wegen dem, was heute Nacht passiert ist?«

»Vielleicht.«

»Du bist noch böse, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Die besten Werke werden aus Wut und Schmerz geboren.«

»Ich bin nicht Dostojewski.«

»Das ist wahr. Aber deine Geschichte enthält eine Moral, auf die die Öffentlichkeit ein Recht hat.«

Ich konnte ihm nicht folgen. Muszkat legte seine Hand auf mein Knie. Diesmal war es die unschuldige Geste eines Lehrers, der seinem Schüler etwas erklären will. Trotzdem stieß ich sie entschieden weg. Muszkat hatte verstanden. Er dachte einen Moment nach, rückte seinen Stuhl so, dass er mir gegenübersaß, und sagte:

»Ich schaue dich an – und was sehe ich? Ich sehe einen jungen, gutaussehenden Mann, mit lockigem Haar, dunklem Teint und guten Manieren, einen typischen Sohn aus guter Familie. Und trotzdem ist dein geschliffenes Auftreten nur eine Täuschung. Jeder Mensch hat eine Schale, hinter der er seine Geheimnisse versteckt. Nur die Hand eines Chirurgen kann diese Schale durchtrennen und das Innere freilegen. Die Worte, die du geschrieben hast, sind wie ein Skalpell. Du führst seine Schneide von einer Wunde zur anderen. Du hast andere gelehrt, was Ehrlichkeit ist. Du darfst keinen Rückzieher machen, die Schale nicht wieder zunähen und so weiterleben, als sei nichts geschehen. Denke darüber nach, während ich uns Kaffee koche.«

Wir tranken Kaffee und aßen Hefekuchen, die am Gaumen klebten wie Árpád Bácsis Brot. Muszkat fand sich mit meiner Weigerung ab, meine Geschichte zu veröffentlichen. Wir verabschiedeten uns als Freunde. Bevor ich ging, schüttete er mir sein Herz aus. Ohne Hemmungen erzählte er mir über seine Aufenthalte in Konzentrationslagern, seine Neigung zu Männern und die damit verbundene Angst vor Entdeckung. »Ich beneide dich«, sagte er. »Ich beneide dich, weil ich bis an mein Lebensende nicht den Mut haben werde, meine Schale zu öffnen und ihren Inhalt preiszugeben.«

Sein Lebensende ereilte ihn in einer ärmlichen Kellerwohnung in Ramat-Gan, wo er an einer Krankheit dahinsiechte, die nicht richtig diagnostiziert worden war, weil die moderne Medizin ihr keine Bedeutung beimisst – Heimweh. Im März 1968 war Muszkat das Opfer einer antisemitischen Säuberungswelle geworden. Er war gezwungen, Polen zu verlassen. Die Behörden wussten von seiner homosexuellen Neigung und klagten ihn wegen Beischlaf mit einem Minderjährigen an. Ein junger Polizeiagent sagte bei dem Prozess aus, er habe mit Muszkat als Gegenleistung für das Versprechen, seine Befreiung von der Wehrpflicht zu bewerkstelligen, sexuellen Verkehr gehabt. Seiner Aussage zufolge hatte Muszkat ihn in seine Wohnung gelockt, ein langes Telefonat mit einem hohen Offizier eines Rekrutenlagers geführt, und nach Erhalt einer positiven Antwort hätten sie sich geliebt. Muszkat fragte den Zeugen der Anklage, wo sein Telefon stand und welche Farbe es hatte. »Das Telefon stand auf der Fensterbank, und es war schwarz«, antwortete der Junge. Am nächsten Tag überraschte Muszkat seine Richter: Er übergab ihnen eine amtliche Bescheinigung, dass in seiner neuen Wohnung noch gar kein Telefon installiert war. Das Verfahren wurde aufgehoben, aber Muszkat durfte nicht an seinen Arbeitsplatz zurückkehren; »gute Freunde« flüsterten ihm ins Ohr, dass es besser für ihn wäre, in das Land der Zionisten auszuwandern. Muszkat versöhnte sich nie mit dem Unrecht, das man ihm angetan hatte. Hier in Israel nahm ihn keiner außer mir in Empfang. Aber was immer ich auch für ihn tat, als er auf dem Sterbebett lag, war im Grunde nur die Rückzahlung einer Schuld.

Seit der Nacht in seiner Wohnung hat er nie wieder versucht, mich zu berühren. Eine tiefe intellektuelle Verbundenheit hielt ihn zurück. Mit fester Hand führte er mich in den verschlossenen Garten des Journalismus. Auf seine Empfehlung hin konnte ich bei der Słowo Polskie arbeiten, zuerst als Reporter und später als Redakteur der Hirschberger Ausgabe. Als ich eine Dummheit beging, sorgte er dafür, dass die Redaktion in Breslau mich aufnahm. Er selbst war stolz auf das, was ich getan hatte:

Wie es sich für eine sozialistische Zeitung gehörte, hatte die Redaktion ein dichtes Netz von »Arbeiterkorrespondenten« aufgebaut, meist Fabrikarbeiter und kleine Beamte, die über das Geschehen an ihren Arbeitsplätzen berichteten. Für diese Dienste bekamen sie ein kleines Entgelt. Die Berichte gingen ebenso wie das Geld, das sie dafür bekamen, durch meine Hände. Meine Aufgabe war es, das ungeschliffene Material zu redigieren und für den Druck vorzubereiten. Außerdem musste ich ihnen einmal im Monat ihr bescheidenes Salär überweisen. Alles wäre zur Zufriedenheit der Redaktion abgelaufen, wenn nicht plötzlich mein Geldbedarf gewachsen wäre. Mein Gehalt reichte nicht aus, um meine Besuche bei Monika zu finanzieren. Was tat ich also? Peu à peu löste ich das Netz der Arbeiterkorrespondenten auf und sammelte und schrieb die Berichte selbst. Meinen Bekanntenkreis verwandelte ich in eine Liste toter Seelen, auf deren Namen das Geld überwiesen wurde. In weniger als einem halben Jahr hatte ich mein Einkommen verdreifacht. Die Leitung der Redaktion wunderte sich lediglich über die verbesserte Qualität der Einsendungen. Ihre Zufriedenheit war so groß, dass sie sich ein halbes Jahr später entschloss, eine Versammlung der Arbeiterkorrespondenten in Hirschberg abzuhalten und ihnen bei dieser Gelegenheit besondere Anerkennungsurkunden zu verleihen. Ich wurde beauftragt, den Saal zu mieten und ein großzügiges Gastmahl zu bestellen. Meine toten Seelen, darunter Ärzte, Rechtsanwälte und sogar ein Polizeioffizier, weigerten sich, ihre Rollen bis zum bitteren Ende zu spielen. Ich fuhr zu Muszkat, der inzwischen nach Breslau gezogen war, und erzählte ihm alles. Er bog sich vor Lachen; anschließend versprach er mir, »die Sache zu erledigen«. Ich wurde schwer getadelt, und weil ich ein »fähiger Junge war, der unter strenger Kontrolle stehen musste«, wurde auch ich nach Breslau geschickt, in die Abteilung, die die Arbeit aller Provinzausgaben zusammenfasste. Geleitet wurde die Abteilung von Frau Maria, einer Tochter jener Generation des kleinbürgerlichen Adels, der untergegangen war. Sie empfing mich freundlich. Als ich noch Redakteur der Hirschberger Ausgabe war, hatte sie Gefallen an mir gefunden. Auch sie mochte meinen Streich. Noch bevor ich in die Provinzhauptstadt zog, war ich ein Mitglied ihres Haushalts geworden – und auch der Grund ihres ganzen Kummers. Alles natürlich wegen meiner Liebe zu Monika.

Monika war ihre Tochter. Frau Maria hatte ihre Zukunft geplant, und Monika akzeptierte das Urteil. Es war vereinbart, dass sie den Mann, den die Mutter für sie ausgewählt hatte, heiraten und in seine Stadt ziehen würde, sobald jener sein Studium beendet hatte. Der auserkorene Bräutigam wartete geduldig. Monikas Mutter bemühte sich, mir die Lage schon am ersten Abend, an dem sie mich zum Abendessen eingeladen hatte, zu erklären. Offensichtlich, um mir zu verstehen zu geben, dass ich ein süßes Stück Kuchen zum Nachtisch bekommen würde, aber nicht mehr. Sie irrte sich nicht nur, was den Gehorsam ihrer Tochter anging, sie irrte sich auch gewaltig in der Einschätzung meines Appetits.

Die Abendessen wurden zu einer regelmäßigen Einrichtung. Es kam nur selten vor, dass wir ein Glas miteinander tranken. Der Weihnachtsabend war eine Ausnahme. Noch bevor wir beim letzten Gang angekommen waren, war die Flasche auf dem Tisch halb leer. Ich hatte noch nicht gelernt, wie man trinkt, und in meinem Kopf drehte sich alles. »Ich werde Ihnen nicht erlauben, sich auf das Motorrad zu setzen, wenn es draußen schneit und Sie einen Schwips haben«, entschied Frau Maria, ließ meine lahmen Einwände nicht gelten und schlug vor, ein Klappbett in der Küche aufzustellen. Monika schlief in dem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors. Nur zehn Schritte von mir entfernt. In jeder anderen Situation hätte ich diese Distanz, ohne zu zögern, überwunden, gleich nachdem sich die Hausherrin zurückgezogen hatte. Aber ich liebte Monika, und diese Liebe führte mich in die Irre. Ich konnte ihre Gedanken nicht entziffern. Ich hatte Angst vor einer Zurückweisung. Wenn sie nicht den ersten Schritt getan hätte, wären wir nie zusammengekommen. Ich hörte ein Quietschen, als die Tür sich öffnete. Ich machte neben mir für sie Platz. Ich berührte sie. Sie berührte mich. Wir liebten uns leise. Ich beeilte mich nicht. Ich wollte, dass der Fluss ewig fließt, ohne jemals ins Meer zu münden.

In den folgenden Nächten zogen wir es vor, uns in ihrem Zimmer einzuschließen. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett stand eine gerahmte Photographie ihres zukünftigen Ehemannes. Bevor sie sich auszog, legte sie sie immer um. Aber was der Mann auf der Photographie nicht sah, das sah ihre Mutter. Und als sie bemerkte, was unter ihrem Dach geschah, reagierte sie in der ihr eigenen Art.

»Ist euch die trockene Luft aufgefallen?«, fragte sie beim Frühstück. »Ich bin heute Nacht dreimal in die Küche gegangen, um Wasser zu trinken.«

Ich wurde rot. Sie musste mein leeres Bett gesehen haben.

»Ich bin froh, dass Sie noch rot werden können«, bemerkte sie und biss in ihr mit Butter bestrichenes Brot.

»Mutter, ich bin schon ein großes Mädchen«, mischte sich Monika ein.

»Ich vermute, dass ihr leicht verliebt seid«, fuhr Frau Maria fort, als ob sie die Anspielung ihrer Tochter nicht verstanden hätte.

Ich stimmte mit einem leichten Nicken zu.

»Gut, dann muss ich Sie über Ihre Lage aufklären.«

»Bitte, Mutti, nicht jetzt.«

»Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn es zu spät ist?« Sie wandte sich an mich: »Monika hatte recht, als sie sagte, dass sie kein kleines Mädchen mehr ist. Auch Sie sind kein kleiner Junge mehr. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, dass die Dinge, die in meinem Hause passieren, nicht nach meinem Geschmack sind. Gleichzeitig will ich Ihnen keine Moralpredigt halten. Ich werde meine Zeit nicht mit sinnlosen Reden verschwenden. Auch ich war einmal jung und verliebt. Jede Generation denkt, dass sie die Gefühle und Leidenschaften erfunden hat, aber so ist es nicht. Glaubt mir, ich verstehe das. Also sage ich nur dies eine: Tut, was ihr wollt, aber macht euch keine Illusionen über die Zukunft. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Im Alter von zweiundzwanzig Jahren hat die Zukunft keine große Bedeutung; sie ist ein so weitläufiger und abstrakter Begriff, dass die Gedanken sie nicht fassen können. Die Gegenwart hingegen ist etwas, das begreifbar und gleichzeitig unendlich ist. Uns scheint, dass die Gegenwart nie zu Ende geht; dass sie mit uns durch die Zeit läuft. Monika und ich ignorierten die Barriere, die uns am Ende des Weges erwartete, denn wir wollten die Tatsache, dass es Sackgassen gibt, nicht wahrhaben.

Gleich nach meiner Versetzung in die Redaktion in Breslau mietete ich mir ein Zimmer in der Wohnung von Lydia. Ich hatte sie im Gerichtssaal des Bezirksgerichts kennengelernt, als ich über den Prozess ihres Mannes berichtete, der wegen Raubüberfall angeklagt war. Die Richter verurteilten ihn zu zwanzig Jahren Haft. Er wurde in ein weitentferntes Gefängnis geschickt, um seine Strafe abzusitzen. Selbst wenn ihm ein Drittel seiner Haftzeit wegen guter Führung erlassen worden wäre, wäre er nicht vor seinem vierzigsten Lebensjahr zu seiner Frau zurückgekehrt. Lydia war damals noch keine zwanzig. Ich wollte sie interviewen, und sie sperrte sich nicht. Sie besaß die Naivität eines Mädchens, das das Leben noch nicht kannte. Sie hatten erst einen Monat vor seiner Festnahme geheiratet. Lydia hatte ihm ihre Zustimmung hauptsächlich deshalb gegeben, weil sie der strengen Disziplin ihres konservativen Elternhauses entfliehen wollte. Der junge Mann machte einen guten Eindruck. Er war der erste Mann in ihrem Leben. Er amüsierte sich gern und hatte immer Geld in der Tasche. Nie fragte sie nach der Herkunft des Geldes. Als die Polizei das Haus durchsuchte, erlitt sie einen Schock. Die Untersuchung dauerte einige Monate, und Lydia lernte, selbstständig zu sein. Freunde besorgten ihr eine Arbeitsstelle in einer Künstleragentur. Als das Interview vorbei war, verhandelten wir über die Vermietung eines Zimmers. Von da aus war es nur ein kurzer Weg zu ihrem Bett. Über Gefühle wurde nicht gesprochen. Meine reine Liebe galt Monika, und ich konnte keinen Widerspruch zwischen beidem entdecken. Lydia gab ich nur meine Männlichkeit; die Verbindung mit ihr hielt ich geheim. Aber auch Monika hatte ihr Geheimnis. Lange Zeit verschwieg sie mir, dass ihr Zukünftiger sein Diplom bekommen hatte und das Hochzeitsdatum von beiden Familien festgesetzt worden war. Bis sie plötzlich, als wir uns küssten, in Tränen ausbrach.

»Was ist passiert?«

»Das war das letzte Mal. Von morgen an werde ich eine verheiratete Frau sein. Ich habe einen Eid geschworen, meinem Mann nie untreu zu sein.«

Ich wurde nicht zur Hochzeit eingeladen. Der Himmel rächte sich für mich; er meinte es nicht gut mit dem jungen Paar. Dicke Wolken hingen über der Stadt, es schüttete wie aus Eimern. Von Lydias Bett aus telefonierte ich mit meiner Sekretärin und teilte ihr mit, dass ich nicht zur Arbeit kommen würde. Warm angezogen, fuhr ich zum Rathausplatz und parkte mein Auto direkt gegenüber dem Eingang zum Standesamt. Die Feier war vorüber, die Gäste begannen sich zu zerstreuen. Niemand bemerkte mich. Nur Muszkat, elegant gekleidet, erkannte mich. Er kam zu meinem Auto und machte mir ein Zeichen, das Fenster zu öffnen. Ein dünner Wasserstrahl fiel genau auf mein Gesicht.

»Wage es nicht, Dummheiten zu machen«, warnte er mich.

»Mach dir keine Sorgen. Ich wollte nur zusehen.«

Ich sagte die Wahrheit. Ich konnte nicht wissen, was passieren würde. Ich hatte nichts geplant, an einem Aufruhr war mir nicht gelegen. Ich ließ den Dingen einfach ihren Lauf. Monika erschien am Ausgang, und hinter ihrem Rücken sah ich zum ersten Mal ihren Mann. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte ich, dass er nicht besonders eindrucksvoll war. Seine Haare wurden nass, und er wischte sich den Kopf mit einem weißen Taschentuch ab. Monika trat auf den Bürgersteig, ihr frischgebackener Ehemann spannte einen Regenschirm über ihr auf. Ohne selbst zu begreifen, was ich tat, öffnete ich die Wagentür. Monika erschrak.

»Was machst du hier? Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht kommen.«

»Steig nur für eine Sekunde ein«, sagte ich, ohne zu wissen, was die nächste Minute bringen würde.

»Ich kann nicht.«

»Nur für eine Sekunde.«

»Du bist verrückt.«

»Komm rein.«

»Für eine Sekunde. Wie du gesagt hast.«

Ich trat auf das Gaspedal. Das Auto schoss nach vorn. Aus meinen Augenwinkeln sah ich ihren Mann, der den Regenschirm wie eine schwarze Fahne schwenkte. Er rief uns etwas nach. Ich konnte ihn nicht hören. Die Fenster waren geschlossen, und der Motor brummte. Ich bog rechts ein. Monika war still. Ich bog nach links ab. Das Auto fuhr schneller. Ich raste an den letzten Häusern Breslaus vorbei und fuhr auf die Autostraße. Die Nadel des Tachometers zeigte hundert Stundenkilometer an. Erst jetzt fragte sie:

»Wo fahren wir hin?«

»Wohin du willst.«

»Zurück zum Rathausplatz.«

»Überallhin, nur nicht zum Rathausplatz.«

Monika hielt mir ihre Hand hin. »Siehst du diesen Ring?«, fragte sie. Und als ich nicht darauf reagierte, sagte sie mit Nachdruck: »Ich habe einen Eid geschworen, erinnerst du dich?«

»Wir fahren zum Ferienhaus der Journalisten.«

Die Idee wurde in dem Sekundenbruchteil zwischen Frage und Antwort geboren. Der Journalistenverband hatte ein Ferienheim in einer schönen Villa im Riesengebirge, etwa hundert Kilometer von Breslau entfernt. Dort hatten wir unvergessliche Wochenenden verbracht. Die Villa hatte einen gepflegten Garten und war von einem dichten Wald umgeben.

Monika öffnete ihre Handtasche, zog einen Spiegel heraus, betrachtete ihr Gesicht und stellte fest:

»Das ist Wahnsinn.«

»Aber ein wunderschöner Wahnsinn. Willst du zurück?«

»Ich weiß nicht.«

Mit diesem kurzen Satz schob sie die ganze Verantwortung für das, was jetzt und in Zukunft geschehen würde, mir zu. Nur dass für mich, wie ich schon sagte, die Zukunft kein fester Begriff war. Ich fügte der Gegenwart noch drei Tage von meinem und ihrem Leben hinzu – bis ihr Mann kam und sie von der kleinen Bahnstation in den Bergen abholte. Das rote Schlusslicht ihres Wagens, das sich weiter und weiter entfernte, bis es nicht mehr zu sehen war, besiegelte dieses herrliche Abenteuer wie ein Wachssiegel ein Dokument, das im Archiv der Erinnerungen aufgehoben werden soll.

Am nächsten Morgen kehrte ich zu Lydia zurück.