Aus meiner Kehle kam ein leises Fauchen. Wenn es Kinder in Kirchhausen gibt, vor denen wir Katzen uns hüten müssen, dann sind es Augustus und Max.
Augustus ist der Sohn von Frau Magister Coronia Kronenburg. Sie ist die Präsidentin vom Apothekerverband. Ihr gehört die Apotheke zum Guten Samariter auf dem Marktplatz und sie ist in Kirchhausen eine angesehene Person. Ihr Mann ist seit vielen Jahren tot. Er war ein schüchterner Mensch und zeigte sich kaum in der Öffentlichkeit. Niemand in Kirchhausen vermisst ihn. Auch seine Frau nicht. Zumindest vermuten wir Katzen das, und wir irren uns selten.
Augustus hat das Gesicht eines Engels und ist bei manchen Erwachsenen beliebt. Bei uns Katzen nicht. Er ist ein Schwänzezieher und einer, der mit den Füßen nach uns tritt. Aber nur, wenn es niemand sieht.
Ebenso wenig beliebt ist Max. Und nicht nur bei uns Katzen, sondern in ganz Kirchhausen. Er wirft mit Steinen auf alles, was vier Beine oder Flügel hat. Die Kinder in der Schule gehen ihm aus den Weg. Weil sie nie sicher sein können, dass er sie boxt oder an den Haaren zieht. Augustus tut das auch, aber – wie bei uns Katzen – nur dann, wenn es niemand sieht. Das unterscheidet ihn von Max.
Berta Obermeier brach als Erste das Schweigen. „Der Max war in deinem Zimmer, Erna? Aber Augustus hat nichts davon gesagt, als wir in der vierten Klasse die Kinder ausfragten.“
„Nein, hat er nicht!“, antwortete Erna Grill. „Er ist nachher zu mir gekommen. Weil er es für seine Pflicht hielt, aber Max nur ungern verraten wollte.“
„Ungern?“, sagte Großtante Annabel. „Pah!“
Berta Obermeier ließ vor Aufregung das Taschentuch fallen. „Der Stingl Max! Warum haben wir nicht gleich an ihn gedacht! Herr Morgenstern, Sie müssen sofort zur Polizei gehen! Jetzt wissen wir, wer der Dieb ist.“
„Wissen wir das wirklich?“, fragte Flori und streichelte Sternchen. „Nur weil jemand behauptet, er habe gesehen, wie Max in das Zimmer der Frau Direktor ging?“
„Aber es war Augustus, der Sohn der Frau Präsidentin!“
„Berta“, wies Erna Grill sie zurecht. „Wir sind zu Florian gegangen, weil wir nicht wollen, dass es ein Polizeifall wird. An meinen letzten Tagen in der Schule will ich keinen Skandal. Und ob Augustus immer die Wahrheit sagt, daran habe ich meine Zweifel. Freilich, der Max ist ein schwieriges Kind!“
Tante Amelie seufzte. „Der arme Bub! Hat keinen Vater! Und die Mutter …“
„Die ist eine Schlampe!“, unterbrach sie Berta Obermeier spitz. Im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen und griff sich an den Kopf.
„Nein, Josefine, nein!“, rief Großonkel Theo. „Lass das! Man zieht eine Dame nicht an den Haaren.“
Sternchen starrte wie gespannt auf Berta Obermeier. Als sähe sie etwas, das in der Luft herumflog? … Nein, wies ich mich selber zurecht. Es gibt keine Fliegende Maus. Auch wenn Sternchen meint, es könnte sie doch geben und stets von Neuem versucht, einen Blick von ihr zu erhaschen.
Großonkel Theo tätschelte das Unsichtbare, als habe es sich wieder auf seiner Schulter niedergelassen. „So ist’s recht, Josefine! Damen belästigt man nicht. Auch dann nicht, wenn sie ein unfeines Wort benützen.“
Berta Obermeier hob verlegen das Taschentuch auf. Erna Grill nickte Großonkel Theo freundlich zu. Jeder in Kirchhausen weiß von seiner Fliegenden Maus, man erlaubt es als wunderliche Eigenart und nimmt keine Notiz davon.
„Jetzt weißt du alles, Florian“, sagte Erna Grill. „Kann ich noch etwas für dich tun?“
„Ja! Mit mir in die Schule gehen. Ich muss auch mit Herrn Haberzettl sprechen. Ist er noch im Schulhaus?“
Erna Grill nickte.
„Pip! Sternchen!“, miaute ich. „Lauft zu Moritz! Er soll alle Katzen verständigen, dass es wieder einen Fall zu lösen gibt. Treffpunkt heute Abend im Stadtpark, wenn der Mond aufgeht.“
Auf meine Kleinen ist Verlass. Als Großtante Annabel die Zimmertür öffnete, sausten sie wie der Blitz hinaus. Und als wir alle auf die Straße hinaustraten, waren sie längst im Nachbarhaus, wo Kater Moritz wohnt.