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16.

Auch eine Jacke ist verschwunden

Nach Schulschluss kamen Rosi und Bobby, begleitet von Schnoferl. Rosi verteilte Hauskekse, frisch aus dem Backofen. Ich fraß gedankenverloren meinen Anteil und merkte nicht einmal, wie gut sie schmeckten. Der Garten lag im hellen Sonnenschein. Trotzdem war mir, als hinge eine dunkle Wolke über Kirchhausen.

Rosi und Bobby hatten nichts Neues zu berichten. Außer, dass Herr Haberzettl den Reserveschlüssel zur Hintertür nicht finden konnte.

„Sonst war nichts los?“, fragte Flori.

„Nein“, sagte Bobby.

„Wirklich nicht?“

Rosi spielte mit den Zotteln von Schnoferls Fell. „Doch!“, sagte sie. „Nur ist es nicht wichtig. Die Jacke vom Max ist weg.“

„Die Jacke vom Max?“, fragte Flori, und etwas in seiner Stimme ließ mich die Ohren spitzen.

„Na ja, die hing schon ewig lang in der Garderobe“, antwortete Bobby.

„Seit es so warm geworden ist“, erklärte Rosi.

„Er vergisst immer was“, sagte Bobby verächtlich. „Heut hat er sie plötzlich haben wollen. Da war sie eben weg! Wahrscheinlich hat sie wer in den Müll geworfen. Schäbig genug ist sie.“

Flori richtete sich auf. Pip und Sternchen tatzelten nach ihm. Er streichelte sie nicht, wie er es sonst immer tat. Etwas war eingetreten, worauf er gewartet hatte, das spürte ich. Was aber hatte die Jacke vom Max mit dem Kugelschreiber zu tun?

„Rosi, Bobby“, sagte Flori, „traut ihr euch zu, jemanden zu beschatten, ohne dass er es merkt?“

„Ja!“, rief Rosi. Ihre Augen glänzten.

Bobby nickte.

Schnoferl japste und wedelte mit dem Schwanz. Jemandem nachzuspüren, war genau das Richtige für ihn. Das erfreute sein Hundeherz.

„Ich möchte alles wissen, was Augustus heute tut“, erklärte Flori. “Ob er daheim bleibt. Ob er fortgeht. Wann, wohin und zu wem. Einfach alles!“

Bobby atmete tief ein. „Der Gustl! Ist er der Dieb?“

Flori antwortete nicht sofort. Er zupfte einen Grashalm aus und drehte ihn um den Finger. Rosi und Bobby starrten ihn gespannt an. Auch ich. Auch Sternchen und Pip und Schnoferl.

Flori ließ den Grashalm fallen. „Manchmal glaubt man, etwas zu erahnen. Man kann sich aber so leicht irren. Die Frau Direktor meint, Augustus habe den Kugelschreiber nicht. Da sei sie ganz sicher. Und ihr müssen wir glauben! Ich möchte aber wissen, was er tut. Warum, das kann ich nicht erklären. Nicht einmal mir selber. Wollt ihr mir trotzdem helfen?“

„Klar!“, sagte Bobby. „Egal, was rauskommt. Schade nur, wenn’s der Gustl nicht ist.“

Ich hätte Flori gern gesagt, dass auch Motzer und Lilly Augustus bewachten. Leider kann ich aber nicht reden wie ein Mensch. Ich miaute leise und rieb den Kopf an ihm.

Rosi und Bobby verabschiedeten sich. Schnoferl rannte mit flappenden Ohren voraus, den Schwanz hoch erhoben.

Die Gartentür fiel hinter ihnen zu. Im Garten und im Haus war es nun ganz still. Die Großtanten und der Großonkel waren in Kirchhausen unterwegs. Flori begann wieder mit dem Grashalm zu spielen.

Ich miaute laut. „Flori, du weißt etwas, das ich nicht weiß. Warum sagst du es mir nicht?“ Ich schlug mit der Pfote nach ihm. Er streichelte mich. „Molly, Molly, sei nicht so ungestüm. Was du und ich jetzt brauchen, ist Geduld. Ich wollte, ich könnt es dir sagen. Aber es ist zu verrückt! Oder doch nicht?“

Er streckte sich im Gras aus. Sternchen und Pip kuschelten sich an ihn und waren bald eingeschlafen.

Oben am blauen Himmel wanderten Sommerwölkchen. In den Kletterrosen am Zaun summten Bienen. Ab und zu piepte oder flötete ein Vogel.

Flori hatte die Arme unterm Kopf verschränkt und schaute den wandernden Wölkchen zu. Begann er jetzt zu träumen? Vergaß er, dass er ein Detektiv war? Ich tatzelte nach ihm.

Er lächelte mich an. „Nur Geduld, Molly“, flüsterte er. „Nur Geduld!“

Hoch über uns, wo Mückenschwärme tanzten, strichen Schwalben pfeilschnell über den Himmel. Nichts hätte friedlicher sein können. Aber mir war nicht friedlich zumute. Was hatte Flori vor? Warum lag er hier im Gras und ließ die Zeit verstreichen?

Wieder tatzelte ich nach ihm. Wieder murmelte er: „Geduld, Molly! Wir müssen warten. Es ist noch zu früh.“

Zu früh? Warum? Was blieb mir aber anderes übrig als zu warten wie er. Ich schloss die Augen, fing an vor mich hinzudösen und schlief ein.

Als ich erwachte, war es spät am Nachmittag. Ich war sofort hellwach. Was mich geweckt hatte, war ein seltsames Kribbeln unterm Fell.

Wir Katzen haben Sinne, die den Menschen fehlen. Wir wissen, wenn ein Unwetter naht, lange bevor es losbricht. Das Kribbeln wurde stärker und stärker. Mir war, als stelle sich jedes einzelne Haar im Fell auf.

Auch Sternchen und Pip waren wach geworden.

„Flori! Flori!“, miaute ich laut und durchdringend. „Es geschieht etwas! Irgendwo! Und dort müssen wir hin!“

„Was für eine kluge Katze du bist, Molly“, sagte Flori und stand auf. „Also, gehen wir!“

Ich lief voraus, gefolgt von Sternchen, Pip und Flori. Eine kluge Katze war ich, aber was er vorhatte, wusste ich nicht. Ich wusste auch nicht, wohin wir gehen mussten. Das machte nichts. Meine Pfoten fanden von selber den Weg. Sie führten mich nicht zum Marktplatz. Nicht zur Schule. Sie führten mich aus der Stadt hinaus zum Haus von Ida Stingl.