Den Rest des Tages schneit es. Als Oliver und ich nach der Schule bei den Briefkästen an der Straße stehen, liegt in den Gärten eine dicke Schicht Neuschnee. Oliver wird drei Tage allein zu Hause sein, und er zeigt mir einen Zettel, auf dem seine Mutter ihn bittet, den Schnee in der Auffahrt zu räumen.
Mama ist echt ne gerissene Alte, sagt er.
Wir gehen zur Garage. In meine Schuhe dringt Schnee und wir lassen unsere Schultaschen auf den Beton fallen. Oliver holt eine Schaufel und einen Spaten und wir fangen an, einen Pfad zum Pforte freizulegen.
Von dort, wo wir stehen, kann ich zu meinem Schlafzimmerfenster hochschauen. Ich denke, wenn ich uns von da oben sehen könnte, würden wir jetzt klein aussehen. Ich denke, dass Lea einen Bruder mit argen Problemen hat. Ich denke, dass ich Pillen in der Schultasche habe, weil mein Körper von sich aus nicht ruhig sein kann, und dass ich Angst habe, dass mein Leben zu Ende ist. Ich denke, dass ich das laut sagen müsste. Es ist ein plötzlicher Anfall von Irrsinn. Ich höre auf zu schippen und weiß nicht, was in mich gefahren ist, schaue auf Olivers Rücken und frage: Du?
Ja?, antwortet er und sieht sich um.
Er ist außer Atem. Seine Haare sind vom Schneeschippen zerzaust. Der Schnee wirbelt um seinen Kopf. Er stützt sich auf die Schaufel, wartet, dass ich etwas sage. Wir sehen einander an und in mir kommt etwas zum Stillstand. Ich finde trotz allem nichts, was ich sagen könnte. Wir sind zwei Jungen, die noch nie über so etwas gesprochen haben. Mich überkommt ein Gefühl, dass das, was ich sagen will, zu ernst ist, dass ich dann auch gleich sagen könnte, dass von jetzt an alles anders sein wird als bisher. Dann wird es still zwischen uns. Wir stehen in einem Vakuum. Am Ende mache ich einen Rettungsversuch und frage: Warum räumen wir Schnee, wenn deine Mutter doch nicht zu Hause ist? Wenn du allein bist, kannst du doch einfach bei uns essen, und wir lassen den Scheiß hier?
Oliver zögert einen Moment, lächelt und wirft die Schaufel hin.
Du hast recht, sagt er. Wenn Mama unbedingt einen Mann braucht, der die Auffahrt freischaufelt, während sie bei der Arbeit ist, hätte sie sich eben nicht von Papa scheiden lassen dürfen.
Er lacht. Er klingt so, wie Freunde eben klingen.