Falsches sagen, lügen, fälschen

Die Lüge ist eines der Themen, die in der Geschichte der Logik und der Sprachphilosophie, von der Ethik und der Politikwissenschaft zu schweigen, besonders stark diskutiert werden, und wenn Sie sich einen ersten Eindruck von dieser gewaltigen Diskussion verschaffen und dazu ein ebenso zugängliches wie grundlegendes Buch lesen möchten, empfehle ich Ihnen die Breve storia della bugia von Maria Bettetini1 oder, falls Sie sich ein paar Hundert Seiten mehr zumuten möchten, die Filosofia della bugia von Andrea Tagliapietra (Mailand 2001). Wenn nun auch ich mich bereit erklärt habe, meine Nase in dieses Thema zu stecken (die Anspielung auf Pinocchio ist rein zufällig), so weil ich nicht nur Romane und Essays über Unwahrheiten und Fälschungen geschrieben habe, sondern immer noch häufig mit einer Stelle aus meinem Trattato di semiotica generale von 1975 zitiert werde, an der ich schrieb, wir müssten als Zeichen all das ansehen, was zum Lügen benutzt werden kann. Der Rauch einer vor mir befindlichen Flamme ist kein Zeichen, weil er mir nichts sagt, was ich nicht ohnehin schon weiß. Aber der Rauch auf einer Hügelkuppe ist nicht nur ein Zeichen für ein Feuer, das wir nicht sehen, und könnte von Indianern als ein Signal verwendet werden, sondern jemand könnte ihn auch chemisch erzeugen, um mir ein nicht existierendes Feuer vorzugaukeln oder mich davon zu überzeugen, dass sich auf jenem Hügel Indianer befänden (was gar nicht zutrifft).

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François Lemoyne
Die Zeit rettet die Wahrheit vor der Falschheit und dem Neid, 1737
London, Wallace Collection

Meine damalige Definition war allerdings noch zu eng. Ich hätte sagen sollen: Zeichen ist alles, was benutzt werden kann, um Falsches zu sagen, oder besser noch: um etwas zu sagen, was in der wirklichen Welt nicht zutrifft. Und so, wie Literatur erzählt, was in einer möglichen Welt zutrifft, die sich von unserer Welt unterscheidet, ist die Lüge nur eine von vielen Arten, etwas zu sagen, was in der wirklichen Welt nicht zutrifft.

Lassen Sie mich das erklären. Als Ptolemäus behauptete, die Sonne kreise um die Erde, sagte er fraglos etwas, das nicht zutraf, und er sagte es, weil er sich irrte, aber er log nicht. Lügen ist, wenn man das Gegenteil von dem sagt, was man für zutreffend hält, während Ptolemäus vollkommen aufrichtig daran glaubte, dass die Sonne sich bewegt. Stellen wir uns nun aber vor, Ptolemäus hätte sich in eine geheime Sekte von Jüngern des Aristarch von Samos einschmuggeln wollen, die behaupteten, dass die Erde sich um die Sonne dreht, und um von jenen Verschwörern akzeptiert zu werden, habe er überall versichert: »Die Erde dreht sich bestimmt um die Sonne.« In diesem Fall hätte Ptolemäus etwas gesagt, das für uns der Wahrheit entspricht, und dennoch hätte er gelogen, da er das Gegenteil von dem gesagt hätte, was er glaubte. Während Unwahres zu sagen ein »alethisches« Problem ist, bei dem es um die Frage der Aletheia (griechisch »Wahrheit«) geht, ist Lügen ein ethisches oder moralisches Problem. Ein Lügner kann man unabhängig davon sein, ob man die Wahrheit sagt oder nicht. Jago, der die unschuldige Desdemona beschuldigt, ist fraglos ein Lügner, doch hätte Desdemona dem Leutnant Cassius wirklich ihre Gunst gewährt, ohne dass Jago es wusste, so wäre Jago, obwohl er Othello dann die Wahrheit gesagt hätte, trotzdem ein Lügner gewesen.

Wenn sich jemand, wie ich in meinem Roman Der Friedhof in Prag, übermäßig mit Lügen oder besser gesagt mit verschiedenen Fällen von Fälschung befasst, halten einige Dummbeutel ihm sogleich entgegen, wer die Welt voller Fälscher sehe und die ganze Geschichte als Reich der Lüge darstelle, der behaupte, dass es keinerlei Wahrheit gebe – und sei mithin ein Relativist. Dies ist eine kolossale Dummheit, die man nicht einmal denen durchgehen lassen kann, die sich weder im Gymnasium noch im Universitätsseminar jemals mit Philosophie befasst haben.

Um sagen zu können, dass etwas falsch oder unwahr oder Ergebnis einer Fälschung sei, muss man einen Begriff von dem haben, was korrekt oder wahr oder zutreffend ist. Natürlich gibt es verschiedene Ebenen von Wahrheit und Möglichkeiten zu verifizieren, ob etwas zutreffend ist. Wenn ich sage, »draußen regnet es«, dann kann die Wahrheit meiner Aussage aufgrund persönlicher Erfahrung verifiziert werden: Man macht einen Schritt vor die Tür und streckt die Hand aus. Wenn ich sage, Schwefelsäure sei H2SO4, glaubt man mir das aufgrund allgemeiner Kenntnisse aus den Lehrbüchern, aber wenn jemand es wirklich genau wissen will, kann er um Zugang zu einem Labor bitten, wo er mit eigenen Augen sieht, wie Schwefelsäure hergestellt wird (auch wenn ich das für eine nur mäßige Genugtuung halte). Die Auskunft »Napoleon ist am 5. Mai 1821 auf Sankt Helena gestorben« stellt uns vor eine historische Wahrheit, der wir Glauben schenken, weil sie so im Lexikon steht, und dort steht sie, weil es irgendwo, sagen wir bei der britischen Admiralität, ein Dokument gibt, das diesen Glauben untermauert. Doch kann es immer sein, dass Dokumente fehlerhaft sind (Hudson Lowe hatte ungenau im Kalender nachgeschlagen) oder auf einer Lüge basieren (Hudson Lowe hatte Napoleon absichtlich und in vollem Bewusstsein, dass er damit log, für tot erklärt, um zu verschleiern, dass er ihn nach Argentinien entwischen ließ); oder jemand in London hat Hudson Lowes Originalbericht später verfälscht und aus Gründen, denen wir nicht weiter nachforschen wollen, einen falschen Tag und Monat angegeben.

Mit alledem haben wir eine Rechtfertigung für den Titel meines Vortrags: Es macht einen Unterschied, ob wir etwas Falsches sagen, ob wir lügen oder etwas (ver)fälschen, auch wenn diese Begriffstriade ein noch viel weiteres Feld von Phänomenen abdeckt. Ist es zum Beispiel falsch oder wahr, dass der Heilige Geist aus Vater und Sohn (filioque) hervorgeht? Der Papst hält es für wahr, also lügt er nicht, wenn er es sagt, aber für den Patriarchen von Konstantinopel ist es falsch, weshalb er dem Papst mindestens vorwirft, sich zu irren, andernfalls wäre es nicht zum Großen Schisma von 1054 gekommen. In welchem Sinn ist es wahr, dass Maria in Lourdes erschienen ist, wenn wir dafür nur das Zeugnis der Bernadette Soubirous haben? Und falls ja, weshalb zieht dann dieselbe Kirche die Marienerscheinung in Medjugorje entgegen dem Zeugnis von sechs Personen in Zweifel? Tatsächlich werden, um Wahrheiten dieser Art zu verifizieren, ganz andere Kriterien herangezogen als bei der Schwefelsäure.