Am subtilsten über diese Probleme nachgedacht hat das Jahrhundert des Barock, das Jahrhundert des aufkommenden Absolutismus und der Staatsraison, das Jahrhundert des Kardinals Mazarin, der seine Zeit nicht nur damit verbrachte, die Lügen in den Gesichtszügen anderer zu erkennen, sondern auch verbarg, was er selbst in jenem Augenblick gerade las oder dachte, und der raffinierte Festmähler veranstaltete, bei denen das Fleisch nach Fisch und der Fisch nach Fleisch, das Obst nach Gemüse und umgekehrt aussehen sollten, weil der trügerische Anschein Bewunderung hervorrief. Im Theater war es das Jahrhundert der Lügner, eines Jago, Don Giovanni oder Tartuffe, aber es war auch das Jahrhundert, in dem Architekten wie Borromini mit trügerischen und täuschenden Perspektiven spielten, das Jahrhundert, in dem, da Auge und Blick zu Instrumenten der Erforschung des Weltalls wurden, der Schein mehr zählte als das Sein der Dinge, das Jahrhundert, in dem ein gewisser Giuseppe Battista eine Apologie der Lüge (Apologia della menzogna, 1673) verfasste und in dem immer mehr symbolische Darstellungen des Betrugs und der Täuschung auftauchten.
Torquato Accetto lobt in seiner Ehrenwerten Verhehlung (1641) nicht das Vortäuschen von etwas, das man nicht ist, sondern das Verhehlen, durch das man gerade nicht zeigt, was man ist – sondern sich in jener falschen Bescheidenheit übt, die Kant später verurteilten sollte. Für Accetto galt (in einem Jahrhundert der Intrigen, Betrügereien, Drohungen und Hinterhalte):
Ein kluges Leben und ein reines Herz [können] sehr wohl Hand in Hand gehen […] es [bringt] Vorteile mit sich […], langsamen und bedächtigen Schrittes zu gehen, wenn der Weg voller Hindernisse ist […] (wie es in dem göttlichen Wort heißt: »Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben«) […] Wer sich nicht zu verstellen weiß, der weiß auch nicht zu leben […] denn das Verhehlen ist nichts anderes als ein Schleier aus ehrenwerter Finsternis und gewaltsamer Rücksicht, hinter dem nicht das Falsche entsteht, sondern der dem Wahren ein wenig Ruhe gönnt […] Wer jeden Tag eine Maske tragen würde, wäre wegen der Neugier seiner Mitmenschen bekannter als jeder andere; von den Verheimlichungsgenies, die es schon gegeben hat und noch gibt, weiß man jedoch gar nichts. […] Die Verhehlung ist die Fertigkeit, die Dinge nicht so zu zeigen, wie sie sind.6
Diese Sentenz ist so wahr, dass Accetto, der an einer anderen Stelle bekennt, sein Buch »beinahe ausgeblutet« herausgegeben zu haben, da »das Schreiben über die Verhehlung erheischte, daß ich mich selbst verhehlte«, seinem Vorsatz so gut nachgekommen ist, dass ihn niemand beachtete und man abwarten musste, bis Benedetto Croce den in verstaubten Regalen Vergessenen wiederentdeckte.
Descartes wiederum entging zwar nicht dem Ruhm, beschloss aber nach der Verurteilung Galileo Galileis, sein Buch Le monde ou traité de la lumière, an dem er seit 1630 gearbeitet hatte, nicht zu veröffentlichen, womit er seinem Motto bene qui latuit, bene vixit7 alle Ehre erwies.
Es wäre einfach zu sagen, so wie Accetto die Verhehlung preist, so tue es Baltasar Gracián in seinem Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647) mit der Verstellung. Doch so einfach liegen die Dinge nicht, schon gar nicht bei einem Jesuiten der Barockzeit. Immer wieder betont Gracián, man dürfe Politik nicht mit Betrug verwechseln und nur die Wahrheit könne jemandem einen wahrhaft guten Ruf einbringen. Er bezichtigt Machiavelli, ein valiente embustero, also ein famoser Lügner zu sein. »Es hat den Anschein, als trüge er Einfalt auf den Lippen und Redlichkeit auf der Zunge, und doch strahlt er höllisches Feuer aus, das die Sitten versengt und die Gemeinwesen in Brand setzt.«8 Auf den ersten Blick scheint er Vorsicht, Diskretion und Zurückhaltung zu predigen, um zu seiner Zeit überleben zu können: Man solle vorsichtig, »ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten sagen« und: »Nichts erfordert mehr Behutsamkeit als die Wahrheit: sie ist ein Aderlaß des Herzens. Es gehört gleich viel dazu, sie zu sagen und sie zu verschweigen zu verstehn.«9
Doch von der äußersten Diskretion zur behutsamen Verstellung ist es nur ein kleiner Schritt. Gracián weiß (was bereits Machiavelli empfahl), dass man eher den Fuchspelz als das Löwenfell tragen sollte und dass Lebensklugheit darin besteht, sich verstellen zu können, dass Schlauheit mehr zählt als Gewalt, dass »die Dinge […] nicht für das gelten, was sie sind; sondern für das, was sie scheinen«. Er weiß, dass tüchtig zu sein und es zu zeigen bedeutet, doppelt tüchtig zu sein, dass etwas, das man nicht sehen kann, so gut wie nicht vorhanden ist und dass »mit offenen Karten spielen […] weder nützlich noch angenehm ist«. Er weiß, dass »jede Vollkommenheit […] in Barbarei ausartet, wenn sie nicht von der Kunst erhöht wird«, dass man nicht immer offen und ehrlich handeln soll, weil die anderen diese Planheit sonst bemerken und unseren Handlungen entweder zuvorkommen oder sie enttäuschen, dass man, um zu erreichen, was man will, den anderen recht geben soll und die eigenen Schwächen nicht zeigen, sondern die eigenen Fehler gekonnt dem anderen zuschieben, und »nie zu dem sich gesellen, durch den man in den Schatten gestellt wird«. Er weiß, dass »ein wohlriechender Teig […] einen angenehmen Athem verursacht. Es ist eine große Lebensklugheit, wenn man es versteht, die Luft zu verkaufen. Das Meiste wird mit Worten bezahlt.«
Und schließlich: »Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten, hinsichtlich ihres Vorhabens, bedient. Nie thut sie das, was sie vorgiebt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht ihr Spiel zu verbergen. Eine Absicht läßt sie erblicken […], kehrt ihr aber gleich wieder den Rücken und siegt durch das, woran Keiner gedacht.«
Nun denn: Gracián ist nicht Accetto, und aus eben diesem Grunde sollten sich seine Maximen in den folgenden Jahrhunderten großen Erfolgs erfreuen.