Verschwiegenheit

Mazarin beschreibt im Grunde eine beinahe paranoide Form von Verschwiegenheit, doch zur Verschwiegenheit gehört auch das persönliche Geheimnis, das sich bisweilen mit dem Tod seines Inhabers in Luft auflöst. Solche Geheimnisse können mit nicht eingestehbaren Taten zu tun haben, doch auch mit anderen, denn jemand kann aus gutem Grund wünschen, seine eigenen Krankheiten, seine sexuelle Orientierung oder seine Herkunft geheim zu halten. Die Gesellschaft erkennt das Recht auf Verschwiegenheit an, und ein Soziologe wie Georg Simmel würdigte dieses Recht in seiner Studie über das Geheimnis als wichtigen Bestandteil des Gesellschaftsvertrags.

Interessant ist allenfalls festzustellen, wie dieses Recht auf Verschwiegenheit in unserer massenmedialen Gesellschaft, in der der Verzicht auf Privatheit eine exhibitionistische Form annimmt, immer mehr an Wert verliert. Es verschwindet jenes großenteils segensreiche Sicherheitsventil, das der Klatsch war. Der klassische Klatsch, der Tratsch im Dorf, in der Pförtnerloge oder in der Kneipe war ein Element des sozialen Zusammenhalts, weil die Tratschenden nicht selten, statt sich am Unglück der Betratschten zu weiden, Mitleid mit ihnen empfanden und zeigten.

Allerdings funktionierte das nur, wenn die Opfer nicht anwesend waren oder nicht wussten, dass über sie geklatscht wurde (oder das Gesicht wahren konnten, indem sie so taten, als ob sie von nichts wüssten). Daher waren, damit der Wert des Klatsches als soziales Ventil gewahrt blieb, alle gehalten, Henker wie Opfer, sich möglichst in Zurückhaltung zu üben. Die erste Veränderung kam mit den spezialisierten Publikationen, die dem Klatsch über bestimmte Personen gewidmet waren, die sich aufgrund ihrer Prominenz (Schauspieler und Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen, Monarchen im Exil, Playboys) freiwillig der Beobachtung durch Fotografen und Reporter aussetzten. So wurde der Klatsch aus dem Geflüster, das er gewesen war, zu einem Gebrüll, er verlieh seinen Opfern Ruhm und wurde zur Quelle für Neid bei den Nicht-Berühmten. Deshalb entwickelte das Fernsehen Sendeformate, in denen jeder x-Beliebige als Opfer berühmt werden konnte, indem er Klatsch über sich selber verbreitete. Und so erschienen Personen auf dem Bildschirm, die mit ihrem Ehepartner über die wechselseitige Untreue diskutierten, verzweifelte Appelle an die Geliebte oder den Geliebten richteten, der oder die sie verlassen hatte, oder Scheidungsfälle nachstellten, bei denen die sexuellen Unzulänglichkeiten beider Seiten gnadenlos aufgedeckt wurden.

Im Vorgriff auf die gesellschaftliche Entwicklung war es richtig, dass ein zur Diskretion neigender Piemontese wie Cesare Pavese, als er sich zum Suizid entschloss, die denkwürdige Botschaft hinterließ: »Und klatscht nicht zu viel.« Aber niemand hat auf ihn gehört, und inzwischen wissen wir alles über seine unglücklichen Liebschaften.

In letzter Zeit hat die Preisgabe der Diskretion jedoch andere Formen angenommen. Einerseits sind wir uns bewusst, wobei es uns alles in allem anscheinend nichts ausmacht, dass man durch Überprüfung unserer Kreditkarten, unserer Telefonverbindungen und unserer Krankenakten alles über uns und jede unserer noch so kleinen Bewegungen erfahren kann, andererseits hat uns der Fall WikiLeaks davon überzeugt, dass es eine demokratische Operation sei, die arcana imperii zu veröffentlichen, obwohl man doch jedem Staat und jeder Regierung zubilligen sollte, sich Zonen der Verschwiegenheit zu reservieren, denn die umgehende Veröffentlichung mancher Informationen, Kontakte und Projekte birgt die Gefahr ihres Scheiterns, nicht selten zum Schaden der Allgemeinheit. Dasselbe gilt, wenn man die Beratungen zur Regierungsbildung sofort per Streaming öffentlich machen will und jeder daran Beteiligte, da er sich beobachtet fühlt und sein Gesicht nicht verlieren will, gar nicht anders kann, als seine offiziellen Positionen gebetsmühlenartig zu wiederholen, ohne dann in der Verhandlung – die das Herz der politischen Interaktion ist – noch irgendwelche Zugeständnisse zu machen.