Plötzlich psychosomatisch

Als am 31. Dezember 1999 alle auf den großen Computerabsturz warteten, beschäftigte ich mich mit anderen Fragen. Mit meinem Zimmernachbarn, einem 45-jährigen Kettenraucher, philosophierte ich notgedrungen über das Glück oder Unglück seiner Tabakabhängigkeit.

Ich lag im Krankenhaus, weil ich einen Lungenkollaps hatte und ich in den kommenden Stunden operiert werden sollte. Sorgen machte ich mir kaum. Junge Männer mit 18 Jahren würden eben dazu neigen, erklärten mir die Ärzte, aus heiterem Himmel so einen »Pneumothorax« zu bekommen (dabei platzen wachstumsbedingt Lungenbläschen und die sich dabei im Brustkorb ausbreitende Luft bedrängt dann Lunge und Herz). Kein schöner Gedanke. Aber: »Reine Routinesache!« Die Ärzte machten einen beruhigenden Eindruck: Zusammengeschnurrte Lungen seien ihr täglich Brot.

Einige Wochen später lag ich noch immer im Krankenhaus. Es hatte verschiedene Probleme gegeben. Doch als sich alles endlich zum Guten wenden sollte und ich das Hospital »geheilt« verlassen durfte, legte mein Körper erst richtig los: Herzrasen, Rückenschmerzen, Hautausschlag und Schwindel wiesen mir kurz nach der Entlassung den Weg zurück ins Krankenhaus – wieder und wieder. Die Symptome hatten so schlagartig begonnen wie eine heftige Infektion. Als würde meinem Körper eine Substanz fehlen, ein Transmitter, der wieder für ruhige Organfunktionen sorgte.

Gefunden werden konnte allerdings nichts, »medizinisch ohne Befund«. »Dann ist das wohl psychosomatisch!«, erklärte mir die Ärztin daraufhin.

Der große Computercrash wegen einer Zwei mit drei Nullen war nicht gekommen. Die Geräte waren offenbar verlässlicher als gedacht. Und meine Psyche sollte unzuverlässiger sein?

Aber weil mein Herzrasen nicht nachließ und meine Eltern es für eine gute Idee hielten, ging ich zum Psychosomatik-Arzt: Das Fachgebiet »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« setzt sich mit der Schnittstelle psychischer und körperlicher Symptome und Krankheiten auseinander.

Möglicherweise hatten auch Sie schon einmal den Eindruck, man wolle Ihnen vorsichtig sagen, Sie bildeten sich das alles nur ein und Ihre Symptome können gar nicht real sein? So ging es mir damals.

Die Psychosomatikerin hörte sich meine Beschwerden an, sah sich alle unauffälligen Untersuchungsbefunde durch und stellte folgende These auf: »Das Sicherheitsgefühl könnte weg sein, weil Ihnen Ihr Körper seit dem Kollaps nicht mehr verlässlich erscheint.« Ich erklärte ihr, dass ich sehr wohl begreife, dass alles in Ordnung sei und ich nun gezielt die Symptome loswerden wollte. Heute weiß ich, dass meine damalige Perspektive ganz typisch war. Unsere Psyche suggeriert uns allzu gerne, dass wir alles im Griff haben. Aber sie ist eben kein programmiertes System, das garantiert von 1999 auf 2000 umspringt.

Es gab einen ersten Vorschlag der Medizinerin: Wenn das Vertrauen in die Verlässlichkeit meines Körpers beschädigt und das Herzrasen ein Überbleibsel der verdrängten Angst sei, könne ich womöglich mit neuen Erfahrungen gegensteuern. Und zwar mit Verlässlichkeit, die ich selber erzeugen würde. Das klang wirklich »psycho«. Ich sollte mir in der Folge kleine Dinge vornehmen und diese dann – ganz verlässlich – auch genau so umsetzen. Der Trick war, sich vom körperlichen Symptom zu lösen und die dahinterliegende Unsicherheit zu überwinden. Ich stellte also meine in der örtlichen Buchhandlung frisch bestellten pulmologischen Fachbücher, die sich mit Lungenheilkunde beschäftigten, ins Regal und konzentrierte mich auf die Vereinbarungen mit mir selbst sowie deren Einhaltung.

Die Symptome, aus denen zuvor kein Entrinnen möglich gewesen zu sein schien, ließen tatsächlich nach, die Situation wurde erträglicher. Ich begann zu spüren, dass das Bedürfnis nach Sicherheit etwas war, was mich innerlich beschäftigt hatte, seitdem meine Lunge zusammengeklappt war. Und ich verstand, dass ich Sicherheit nicht durch die Zufuhr von Substanzen, Transmittern oder die Anfertigung weiterer Ultraschallvideos erreichen konnte.

Meine Neugier hatte sich im Jahr 2000 vom angesagten Computergehirn namens Pentium III zur Psychosomatik verlagert, einem noch jungen und geheimnisvollen medizinischen Fach. Vieles, was ich bald darauf in meinem Studium der Humanmedizin und in der anschließenden Weiterbildung zum Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie lernen und erfahren durfte, ist so alltagstauglich und bedeutsam, dass ich Sie daran teilhaben lassen möchte. Ich glaube, dass Erkenntnisse über Ihre Körper-Seele-Connection ein richtiger Game-Changer für Sie werden können. Wenn jemand heute seelisch mitbedingte Beschwerden hat, liegen die Auslöser womöglich weit zurück. Aber es lohnt sich, danach zu suchen, denn auch alte Erlebens- und Reaktionsmuster lassen sich im Hier und Jetzt verändern, wodurch Betroffene gesünder sowie zufriedener werden.

Inzwischen weiß ich, dass wir alle ab und zu psychosomatische Beschwerden haben. Das kann lange gut gehen, aber auch richtig aus den Fugen geraten. Nach einigen Jahren ärztlicher Weiterbildung in der Inneren Medizin und Akutpsychosomatik bin ich seit 2011 als Arzt in einem großen psychosomatischen und psychotherapeutischen Institut in Berlin tätig. Durch meine Sprechstunden, Untersuchungen und viele Einzel- und Gruppenpsychotherapien kenne ich die Dramen der Psychosomatik, die häufig eine lange medizinische Vorgeschichte haben. Nicht selten ist der Stein durch bisher unerkannte Angst, soziale Ausgrenzung, Herabwürdigung oder Beschämung ins Rollen gekommen. Symptome ohne Befund oder die psychischen Folgen körperlicher Erkrankungen sollten Sie nicht auf die leichte Schulter nehmen, auch wenn ihre Entstehungsmechanismen oft lange im Dunkeln bleiben.

Psychosomatische Erkrankungsbilder sind viel besser behandelbar als lange angenommen. Es dauert oft eine Weile, bis sich Betroffene damit beim Arzt melden – oder bis der Arzt sie erkennt. Obwohl sich herumgesprochen hat, dass vieles psychisch mitbedingt ist, ist die Unsicherheit groß, was dann zu tun ist. Denn psychosomatische Beschwerden erwischen uns oft plötzlich.

Es gibt eine Reihe von Punkten, die Sie selber tun können. Ich bin mir absolut sicher, dass etwas mehr Wissen über die Zusammenarbeit von Psyche und Körper ein Schlüssel zu psychosomatischer Gesundheit oder Genesung sein kann. Dieses Wissen aus Theorie und Praxis möchte ich Ihnen im vorliegenden Buch verständlich vermitteln.

Packungsbeilage für dieses Buch

Was ich Ihnen gerade über meine Erfahrung mit dem Zusammenspiel von Körper und Psyche erzählt habe, ist meine Geschichte. Das betone ich, weil es wichtig ist, dass Sie sich nicht eins zu eins Erkenntnisse oder Beispiele aus diesem Buch aufzwängen. Es gibt diverse Spielarten der Psychosomatik und unglaublich viele Ursachen, weshalb Seele und Körper SOS senden könn(t)en: Die Psyche löst körperliche Beschwerden aus oder verstärkt sie, der Körper wirkt sich auf die Psyche aus, Körper und Psyche bilden einen Symptomkreislauf und vieles mehr. Ich kann und möchte Sie nicht in irgendein Raster stecken. Vielmehr soll Sie das Geschriebene anregen, ein Experte für sich selbst zu werden und eine verfeinerte Vorstellung von den möglichen Funktionsweisen der psychosomatischen Reaktionen und Erkrankungen zu bekommen. Eine genaue Diagnose kann der Arzt und Psychotherapeut nur in der persönlichen Begegnung stellen.

Dieses Buch ist für Sie geeignet, wenn Sie sich für die Beziehung zwischen Körper und Seele interessieren, wenn Sie manchmal unerklärliche Beschwerden haben oder jemanden kennen, der jemanden kennt, der darunter leidet; oder wenn Sie es erstrebenswert finden, sich selbst, also Ihre Psyche und Ihre Körperreaktionen, besser zu verstehen. Egal ob Sie aus dem Takt sind oder sich kerngesund fühlen, Sie werden sich ziemlich sicher im ein oder anderen Kapitel dieses Buches wiederfinden und sich ein Stück weit besser kennenlernen.

Damit das funktionieren kann und Sie sich auf einen guten Weg machen, ist meiner festen Überzeugung nach etwas Theorie nötig. Wo es sinnvoll ist, versuche ich Ihnen aber auch aufzuzeigen, was Sie persönlich im Alltag damit anfangen können. Sie werden feststellen, dass es sich bei meinem Ansatz um das Üben einerseits und das Sich-selbst-Verstehen anderseits handelt, mit kleinen Tools der psychosomatischen Selbstfürsorge.

Ich habe dieses Buch mit dem Blick durch die Brille des praktisch tätigen Mediziners und Psychotherapeuten geschrieben. Mein Beruf nennt sich genau genommen Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder kurz: Psychosomatiker. Ich habe ein ganz normales Medizinstudium abgeschlossen und mich danach über Jahre auf dieses (noch immer kleine) Fachgebiet spezialisiert. Ein großer Teil der Weiterbildung besteht im Erlernen eines Psychotherapieverfahrens, sodass man schließlich Arzt und Psychotherapeut in einer Person ist. Die Psychosomatische Medizin entstand vor etwa 100 Jahren durch die Mischung aus Innerer Medizin und Psychoanalyse. Diese etablierte Spur greife ich auf. Die heutige moderne Fachrichtung »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« trägt diese Entstehungsgeschichte mit zahlreichen Weiterentwicklungen in sich. Es gibt inzwischen auch andere, ebenfalls anerkannte und wirksame Therapieverfahren für die Psyche. Dies sind unter anderem die Verhaltenstherapie und die Systemische Therapie, die hier nur begrenzt einfließen können, was sie in keiner Weise unwichtig erscheinen lassen soll. Die moderne Psychosomatische Medizin wird ohnehin methodenübergreifend gedacht.

Wenn ich im Buch von Beispielen aus der Sprechstunde oder einer Psychotherapie berichte, sind das Fälle, die sich genau so hätten ereignen können. Sie sind jedoch frei erfunden, und die Vornamen für diese Szenen sind ausgedacht.

Beim Verfassen dieses Buches habe ich mich von Beginn an sehr intensiv mit der Frage der Sprachgerechtigkeit beschäftigt. Nicht zuletzt liegt mir das am Herzen, weil eine große Anzahl der Patienten in meinem Fachgebiet weiblich ist und auch weil sehr viele Ärztinnen in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie arbeiten. Das heute manchmal gewählte zufällige Wechseln der Geschlechter im Text, wenn Frauen und Männer gemeint sind, erschien mir aber zu verwirrend, da oft unklar bleibt, ob nur alle männlichen, alle weiblichen oder alle Personen gemeint sind, was schnell zu inhaltlichen Fehlinterpretationen führen kann. Mangels exakter Alternativen zum generischen Maskulinum setze ich diesen ein und spreche alle Geschlechter gleichfalls herzlich an. Die bestehende Geschlechterungerechtigkeit liegt meiner Einschätzung nach nicht vorrangig in der Grammatik, sondern in tieferen Schichten unseres kollektiven Denkens und unserer Kultur begründet.

Dieses Buch gliedert sich in vier Teile. Im ersten Buchteil, »Wie Körper und Seele zusammenarbeiten«, möchte ich Ihnen die Grundprinzipien der Psychosomatik vorstellen und im zweiten Teil, »Psychosomatik von Kopf bis Fuß«, das Ganze praktisch beleuchten. Anregungen, die psychosomatischen Mechanismen zur Genesung oder Gesunderhaltung zu nutzen, erhalten Sie in Part drei mit dem Titel »DIY – Ihre psychosomatische Gesundheit fördern«, während es im abschließenden vierten Teil um den Ablauf einer psychosomatischen Behandlung beim Arzt und/oder Psychotherapeuten in der Praxis oder Klinik geht. Ich habe diesen vierten Teil mit »Beziehung ist die beste Medizin – so hilft der Psychosomatiker« überschrieben.

Weil es so viel gibt, was Sie selbst für Ihre Gesundheit tun können, habe ich darauf verzichtet, medikamentöse Behandlungsansätze zu beschreiben. Das soll nicht heißen, dass diese nicht in bestimmten Situationen nötig und hilfreich sind. Aber: Verschreiben kann sie sowieso nur Ihr Arzt.

Im Laufe dieses Buches begegnen Ihnen zahlreiche Kästen, die Ihnen mögliche Wege aus der »Psychosomatik-Falle« anbieten. Symptome können nämlich zur Falle werden, wenn Sie das Etikett »psychosomatisch« bekommen haben, ohne konstruktive Ideen für einen Umgang mit oder einen Zugang zum Problem. Es ist die Kerneigenschaft vieler psychosomatischer Krankheitsmechanismen, das auslösende Problem, also die Ursache des Leidens, zu verschleiern. Nicht wenige Menschen fühlen sich dann wie gefangen in einer Falle, da verstärkend hinzukommt, dass unser Medizinsystem und unsere ganze Gesellschaft dem Körper weiterhin Vorrang geben und die körperliche Sicht auf Krankheitszustände noch immer eher akzeptiert wird als die psychische Sicht darauf.

Was bedeuten diese Psycho-Wörter?

Das sage ich Ihnen in aller Kürze, damit Sie sich im Buch gut zurechtfinden.

Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: medizinisches Fachgebiet für die Erkennung und medizinische sowie psychotherapeutische Behandlung/Vorbeugung von Krankheiten, bei denen soziale und psychische Faktoren eine Rolle spielen und die körperlich-seelische Wechselwirkungen zeigen

Psychosomatik: 1. Abkürzung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 2. eine Körper und Seele umfassende Betrachtungsweise (altgriechisch psyché = Atem, Hauch, Seele; soma = Körper, Leib)

Psychosomatisches Symptom: ein körperliches Symptom, das psychisch mitbedingt oder ausgelöst wurde oder durch psychische Einflüsse zumindest aufrechterhalten wird

Psychosomatisch: Körper und Psyche betreffend; auf Wechselwirkungen von Körper und Seele zurückzuführen

Psychosomatiker: Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, hat nach dem Medizinstudium mindestens fünf Jahre mit Patienten an der Schnittstelle von Körper und Seele gearbeitet und systematisch Psychotherapie erlernt

Psychotherapeut: Arzt oder Psychologe, der eine abgeschlossene psychotherapeutische Aus- oder Weiterbildung hat; Bezeichnung ist in Deutschland geschützt

Psyche oder Seele? Psyche = psychische Funktionen und Strukturen, die sich auf das beobachtbare Denken und Fühlen beschränken; Seele = beinhaltet eher auch das nicht Fassbare, das Widersprüchliche, die Welt der inneren Bilder1; beides wird oft gleichbedeutend verwendet, es gibt keine klare Trennung