Penelopes Geschichte erreichte ihren Höhepunkt – der gleichzeitig auch Wendepunkt war –, als darin ganz unerwartet Eltern und Familie der vermeintlichen Waise Penelope auftauchten. Dies war jener der Teil der Geschichte, der auch Düzens Aufmerksamkeit weckte, wie ihre häufigen Blicke in den Rückspiegel verrieten, bis sie von der vierspurigen Brücke abfuhr und sie sich in den Verkehr stadtauswärts einreihen musste.
Penelopes Familie, von der zuvor niemand etwas gewusst zu haben schien, die nun aber bei den Kochs vorgelassen werden wollte. Man war empört. Aber nicht zu sehr. Denn man wollte die Kochs nicht vergraulen und sie gar zu einem Rückzug aus der Adoption provozieren. Man war ja nicht dumm. Es war eine arme Familie. Sehr, sehr arm, und sie bedurfte der Unterstützung. Von wem auch immer.
Dies schien das Zentrum von Penelopes Universum zu sein, die gleißende, alles ausdörrende Sonne: die Familie. Und sie war auch die Erklärung, warum Penelope Geld brauchte, und sie war ebenso die Rechtfertigung für ihr Verhalten, der tiefere, nun sichtbar gewordene Grund für die versuchte Erpressung.
Diese große, wie aus dem Nichts aufgetauchte Familie schien, näher betrachtet, der Grund für so ziemlich alles zu sein, was in Penelopes Leben von Belang war.
Und seit ihr Adoptivvater Robert gestorben war, hatten sich die Dinge noch verschlechtert, denn ihre Adoptivmutter Wilma war, wie Penelope sagte, „geizig wie ein Affe“, und nun musste sie wohl oder übel nach anderen, noch verborgenen Quellen bohren. Denn die Familie war groß, und die Familie war hungrig, oder vielmehr: sie war gierig, und so blieb der armen Penelope nichts anderes übrig, als den Raps dort zu ernten, wo er gerade zu wachsen pflegte.
„So, jetzt weißt du’s“, schloss Penelope ihre Geschichte, „aber bilde dir nicht ein, dass du mich nun kennst. Du weißt gar nichts.“
„Ich möchte eigentlich nur wissen, wie du in diesen seltsamen ,Fit for Free‘-Laden geraten bist“, sagte Isa. „Das ist doch wohl nicht ganz der Stil der Familie Koch. Und schon gar nicht deiner.“
Penelope nickte ein paarmal, als gehe sie mit dem Rhythmus einer Musik mit, die, für andere unhörbar, in ihrem Kopf spielte. Der Fahrtwind, der laut und föhnheiß durch das offene Wagenfenster kachelte, ließ eine gekräuselte Locke auf ihrer dunkel schimmernden Stirn tanzen.
„Was hast du gegen ,Fit for Free‘?“, sagte sie, ohne Isa anzusehen.
„Ein bisschen was wär da schon. Das meiste gegen den Namen: ,Fit for Free‘. Da ist gar nichts for free. Die Preise in diesem Kellerloch sind mir ein Rätsel. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass du doch mindestens 45 Minuten Fahrt hinter dir hast, wenn du dann in diesem merkwürdigen Keller ankommst. Das ist eine Menge ziemlich unangenehm verbrachte Zeit. Und wenn du mir jetzt erzählst, dass du auf lange Fahrten in Bus und U-Bahn stehst oder auf lange Stehzeiten in Autokolonnen, dann glaub ich auch, dass der Papst eigentlich eine Frau ist. Und“, sagte Isa mit Nachdruck, „das ist nur der erste Punkt.“
„Du checkst noch immer nichts“, sagte Penelope triumphierend, „du weißt doch immer nichts über mich.“
„Ich weiß eine ganze Menge.“
„Ach ja? Und was denn, bitte? Außer dem, was ich dir gerade erzählt habe?“
„Dass du eine kleine Erpresserin bist, deren Hobbys Lügen und Markenklamotten sind.“
„Das würd dir auch mal guttun.“
„Was? Das Lügen?“
Penelope lachte ein kleines verächtliches Lachen. „Genau. Das Lügen“, sagte sie sarkastisch. „Aber du bist ja bestimmt schon Oma, oder?“
„Oma?“
„Hast du keine Kinder?“
„Doch. Aber mein Sohn ist katholischer Priester“, sagte Isa. Es war ihr einfach so herausgerutscht, und sie wusste nicht einmal, wieso. Doch, sie wusste es eigentlich genau. Einen Sohn zu haben bedeutete, dass sie Penelope etwas voraus hatte. Und es war, wie sich Isa eingestehen musste, so ziemlich das einzige.
Sie musste aufpassen, dass sie nicht wieder die Kontrolle verlor. Sie war es, die hier die Fragen stellte. Zumindest in der Theorie. Sie vergegenwärtigte sich die Szene in der Sauna, diese perfekte, hinterhältige, aber gerade deswegen wirkungsvolle Aktion, die die Dinge zu ihren Gunsten gewendet hatte. Ein kleiner und ziemlich mieser Sieg. Aber doch immerhin ein Sieg.
„Dein Sohn ist katholischer Priester? Was hast du ihm angetan?“, fragte Penelope und wandte sich ihr zu, um sie verächtlich anzusehen.
„Was ich ihm angetan habe?“
„Ja. Was du ihm angetan hast.“
„Nichts“, sagte Isa überrascht.
„Nichts?“, sagte Penelope. „Das glaube ich dir nicht. Ich weiß, was du anderen antun kannst … Die Sauna. Schon vergessen?“
Isa lachte. „Du glaubst ernsthaft, dass ich meinem Sohn körperliche Strafen angedroht habe?“
„Ja.“
„Nein, habe ich nicht. Aber ich war sicher nicht die beste Mutter.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Ja, das kannst du bestimmt“, sagte Isa klirrend knapp, so dass Penelope erst wieder grimmig aus dem Fenster stierte und dann den Kopf wandte, um Isa mit unstetem Blick zu beäugen.
Isa schob das Kinn nach vorne und blickte über das Kopftuch von Düzen durch die Frontscheibe, die wie ein magisches Glas die verdorrende, gelb werdende Landschaft einsog.
„Alle katholischen Priester sind Priester geworden, weil sie schlechte Mütter hatten“, sagte Penelope triumphierend. Sie spürte, dass sie Isa am Haken hatte und dass ihr Gelegenheit zur Rache geboten wurde. „Das, oder weil sie merken, dass sie schwul sind.“
„Wie wärs mit beidem?“, sagte Isa.
„Ja. Das hat Papi auch gesagt. Schwul und schlechte Mütter. So werden aus Jungs Priester.“
„Das soll dein Papi gesagt haben? Papi Robert Koch?“
Aber anstatt zu antworten, begann Penelope bei der Erwähnung von Robert Koch zu weinen. Isa brauchte eine Weile, bis sie es erkannte, denn Penelopes Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber aus ihren Augenwinkeln lösten sich in kurzen Abständen große Tränen und rannen im Zickzack stockend über ihre Wangen. Der Ausbruch erinnerte Isa daran, dass sie es hier mit einem siebzehnjährigen Mädchen zu tun hatte, einem halben Kind noch, das vor ein paar Tagen ihren Adoptivvater beerdigt hatte. Isa wünschte sich, sie könnte mehr Mitgefühl aufbringen, aber sie wusste auch, dass sie mit Mitgefühl nichts erreichen würde. Penelope war intelligent genug, jede Art von Empathie sofort zu ihrem Vorteil zu nutzen. Aber trotzdem: Sie war siebzehn und hatte eben ihren Vater verloren.
Isa tippte Düzen auf die Schulter.
„Düzen, haben Sie Taschentücher?“
Düzen reagierte auf die Frage, indem sie sich sogleich Richtung Beifahrersitz, wo ihre Tasche lag, neigte, als hätte sie nur darauf gewartet, endlich in Aktion zu treten. Ihre kleine, helle Hand begann herumzutasten wie ein als Arm verkleideter Elefantenrüssel nach ausgestreuten Erdnüssen.
„Hey, sehen Sie auf die Straße, verdammt nochmal! Was ist denn das für eine Scheiße!“, rief Isa erschrocken.
Düzen war nun seitlich abgetaucht und hatte ihre Hand auf Erkundungstour unter den Soziussitz geschickt, was Isa freie Sicht über das Lenkrad verschaffte, was sehr eigenartig und angsteinflößend war.
„Spinnt die jetzt!“, rief Penelope mit hoher Stimme.
Dann tauchte Düzen wieder auf und schwenkte eine angebrochene Packung Taschentücher.
„Machen Sie das nie wieder“, sagte Isa. „Nie wieder.“
„Ich habe Hunger“, sagte Penelope.
„Ich auch“, sagte Düzen. „Riesenhunger.“
„Super, sie kann sprechen“, sagte Penelope.
„Ja, in Ordnung, gehen wir was essen“, sagte Isa. „Und machen Sie das nicht nochmal, Düzen. Sie hätten uns umbringen können. Sie bekommen doch ein Baby.“
Penelope griff nach der Packung Taschentücher in Isas Hand, riss sie energisch an sich und zerfetzte in plötzlicher Wut die Plastikhülle, zupfte ein Taschentuch heraus und tupfte sich damit die Wange trocken. Es sah aus, als versetze sie sich als Selbstbestrafung kleine Wangenklapse.
„Wo fahren wir überhaupt hin?“, fragte sie, nachdem sie das Papier zerknüllt und auf den Boden geworfen hatte.
„Frag Düzen.“
„Wer ist Düzen?“
„Ich bin Düzen, kleine Prinzessin“, sagte Düzen. „Und das weißt du auch, also frag nicht so blöd.“
„Ich frag aber nicht sie“, sagte Penelope. „Ich frage dich.“
„Wir fahren zu Ronny.“
„Zu Ronny? Und wo soll der sein?“
„Das weißt du doch.“
„Und woher, bitte, soll ich das wissen?“
„Abgesehen davon, dass du mir eine Adresse angegeben hast, frag’ ich mich das auch.“
Penelope lachte ein kleines, heiseres Lachen. „Aber ich weiß doch überhaupt nichts.“
„So siehst du aus.“
„Das hab ich doch nur gesagt, damit Sie mir das Geld geben“, sagte Penelope, wieder ins Sie verfallend.
„Ganz egal. Ich glaube dir nichts mehr. Wir fahren jetzt zu der Adresse und ich seh mich da um. Ich habe Zeit. Düzen hat Zeit. Und du, du wirst Zeit haben müssen. Vielleicht fällt dir ja während der Fahrt noch was ein, was du mir auftischen und verkaufen kannst.“
Dann zog Isa das Foto von Ronny aus dem Kuvert mit den Geldscheinen. Die Scheine und das Foto waren in ihrer Jeans etwas feucht geworden und alles klebte zusammen. Penelope mit dem Foto zu konfrontieren machte nicht viel Sinn, denn ein Überraschungseffekt war damit nicht mehr zu erzielen, da sie das Foto bereits gesehen haben musste, als sie das Kuvert gefunden hatte. Aber Isa hatte sonst nichts. Nur dieses Foto. Und die Lügen. Sie hielt es Penelope unter die Nase.
„Das ist Ronny, oder?“
„Das weißt du doch. Warum fragst du mich dann danach?“
„Ich frage dich, weil ich es für etwas seltsam halte, dass du Umgang mit einem ganz offensichtlich rechtsradikalen Burschen hast. Darum frage ich.“
„Na und? Ist er halt rechtsradikal. Und ich bin schwarz. Was soll’s? Und wie kommst du darauf, dass ich Umgang mit ihm habe?“, sagte Penelope trotzig.
Isa blickte aus dem Fenster, sagte nichts und fühlte sich wie die langsam verzweifelnde Mutter einer Pubertierenden. Sie erinnerte sich an die Verdammnis von Lennys Schwester, deren fünfzehnjährige Tochter sich mit Rasierklingen immer wieder die Arme zerschnitten hatte, was mehr als einmal dazu geführt hatte, dass sie mitten in der Nacht ins Auto sprang, um mit dem Mädchen ins Krankenhaus zu fahren. Lenny hatte seine Schwester beschworen, die Überwachung, ihre Überbehütung aufzugeben und stattdessen mehr ihre eigenen Ängste zu bekämpfen: „Maya ist ein gutes Mädchen, das wird schon wieder. Sie hat nur Pubertierschmerzen. Vertrau ihr. Sie wird das schon machen. Es wird sich alles geben. Du wirst sehen. Sie braucht keine Überwachung. Vertrau ihr einfach.“
Lenny hatte recht behalten. Aber was heißt das schon? Welche Mutter vertraut ihrer pubertierenden Tochter mehr als ihren eigenen Ängsten? Mit Kilian und ihr war es anders gewesen. Seine Pubertät, falls er jemals in so etwas gesteckt hatte, hatte sie nicht mitbekommen. Die hatte vielleicht in ihrer „dunklen Zeit“ stattgefunden. Sie wusste es schlicht nicht.
Als Kilian klein war, war er ein Kind voller Fragen gewesen. Er schien angefüllt davon, denn sie strömten stetig aus ihm heraus, als erscheine ihm die Welt so tatsächlich, wie sie wirklich war: ein unentwirrbares Labyrinth und ein Kosmos voller Rätsel. Er war vier oder fünf gewesen, als er jeweils an den Samstagmorgen, wenn Isa etwas länger liegen blieb, zu ihr ins Bett gekrochen kam, seinen Kopf auf ihren Arm legte, zur Decke blickte und sagte: „Bell, warum werden wir alt? Bell, warum müssen wir sterben?“ Das waren die Fragen, die den Fünfjährigen beschäftigten. Unter den letzten Fragen der Menschheit tat er es selten. Manchmal machte Isa sich Sorgen deswegen. Waren das Fragen, die ein kleines Kind beschäftigten sollten? „Ich weiß es nicht, Kili“, hatte sie, zur Aufrichtigkeit entschlossen, geantwortet. „Sieh mal“, hatte sie dann gesagt und auf das Bücherregal hinter ihnen, am Kopfende des Bettes, gezeigt, „siehst du die zwei Reihen Bücher ganz oben?“ Und der kleine Kilian hatte sich umgedreht, im Bett hingekniet in seinem mit grasenden Ponys gemusterten Pyjama und hinauf zu den zwei Reihen Bücher mit der Bibel und den Philosophen hinaufgeblickt, zu Montaigne, zu Aristoteles, Platon, Augustus, zu Sokrates und Seneca, zu Epikur und Lukrez, Nietzsche und Schopenhauer. Und noch heute fragte sich Isa manchmal, was er wohl gesehen hatte in der Rückenreihe dieser Paperbackausgaben. Und auch sie hatte sich halb umgedreht, auf den Ellenbogen abgestützt und hinaufgeblickt, zu all den Büchern, von denen sie doch nur wenige gelesen hatte. Denn es waren Lennys Bücher gewesen.
„Alle diese Bücher sind geschrieben worden, weil du mich das fragst. All diese Männer, manche sind schon mehr als zweitausend Jahre tot, haben sich genau dasselbe gefragt wie der kleine Kilian.“
„Aber warum müssen wir sterben, Bell?“
„Ach, ich weiß nicht. Vielleicht, weil sonst die Welt zu voll würde, mit all den vielen Menschen, die nicht sterben. Und auch die Tiere. Denn auch die Tiere würden ja nicht sterben, und wir hätten keinen Platz mehr und wir würden die ganze Zeit so leben müssen, wie wir manchmal in der U-Bahn stehen.“
„Das wäre nicht schön.“
Dann hatte er sich zurück in ihren Arm gelegt, zappelig in den Beinen, bis sie dann aufgestanden war und ihm Frühstück gemacht hatte.
„Ronny ist kein Rechtsradikaler wie sein Bruder“, zerriss Penelope das Gespinst von Isas melancholischen Gedanken. „Ronny ist nur ein bisschen dumm.“
„Ihr kennt euch also näher“, sagte Isa so gelassen wie möglich. „Das erklärt so einiges.“
„Was erklärt das?“
„Vielleicht, warum du fünfundvierzig Fahrtminuten auf dich nimmst, um in diesen seltsamen Laden zu kommen. Das könnte es zum Beispiel erklären.“
„Phah, Sie haben doch keine Ahnung.“
„Wie wär’s, wenn du dich für eins entscheidest: Sie oder Du?“
„Ich mag es so, wie es ist.“
„Ich find’s auch großartig.“
„Ich habe Hunger“, sagte Penelope, und Isa bemerkte den Blick Düzens im Rückspiegel. Sie hatten also Hunger. Alle beide. Genau genommen, alle drei.
Isa sagte Düzen, sie solle beim McDonald’s-Drive-In abfahren. Düzen antwortete, dass es auf der Bundesstraße keinen McDonald’s gebe. „Mecki gibt’s nur auf der Autobahn.“
Isa überlegte. Sie hatte keine Lust, mit den beiden und mit ihr selber in irgendeine Dorfwirtschaft einzufallen. Keine mutige Entscheidung, aber es war ihr egal. Man kann nicht immer mutig sein. Außerdem traute sie den Speisekarten von Dorfwirtschaften nicht. Vor allem Düzens wegen, die aber offenbar nichts gegen Mecki einzuwenden hatte.
„Also, Düzen, fahren Sie auf die Autobahn und dann zu McDonald’s.“
Die schmalen Bögen von Düzens Augenbrauen hoben sich ganz kurz, und schon wurde der Mercedes schneller. Nicht wirklich schnell, aber die Tempoverschärfung war merkbar, und Isa deutete dies als 100 Prozent Zustimmung.
Sie hatten geradezu verdammtes Glück gehabt. Denn Düzen hatte für den Mercedes tatsächlich etwas Schatten unter einer frischgepflanzten Linde gefunden. Und nun thronten auf Isas und Penelopes Schoß die drei braunen Papiersäcke, die Isa vor ein paar Minuten aus der Hand einer gleichgültig Floskeln abspulenden McDonald’s-Servicekraft in Empfang genommen hatte. Braune, mit dem Logo bedruckte Säcke, die von der Wärme der Big Macs, der Pommes und der Apfeltaschen ihren Recyclingpapiergeruch im Wagen verströmen. Der Geruch erinnerte sie an die Kläranlage, in der sie mal für einen Artikel recherchiert hatte. Und dieser Geruch mischte sich mit dem Jod der gesalzenen Pommes, dem intensiven Glutamatduft des Fleisches, des süßen Brötchens und des gelben Käses. Isa konnte erst nicht glauben, dass sie das alles essen würden. Aber sie aßen es, und es schmeckte sogar gut.
Beschattet vom bemitleidenswert schütteren Blattwerk des Baumes, zwischen dem flachen Hauptgebäude und dem leeren Kinderspielplatz, auf dem das spröde bunte Plastik der Rutschen an der Sonne schmorte, verzehrten sie ihre Mahlzeit. Trotz des Baumschattens war das Dach des Mercedes so heiß, dass man es nicht anfassen konnte. Da saßen sie. Auf den dunklen, schweißfeuchten Ledersitzen, die Halbliterbecher Cola auf den Knien, und das Kondenswasser lief in kleinen Bächen am weichen Karton hinunter und benetzte die Oberschenkel der Frauen. Bei jeder Bewegung schwappte das Crushed Ice an die Pappwand und machte Geräusche wie eine stöbernde Ratte hinter einer Wandtäfelung.
Sie aßen schweigend. Stocherten mit den Trinkhalmen in der geleeartigen Mischung aus Crushed Ice und Cola herum, sogen das kalte Getränk auf, das noch mehr Schweiß auf die Stirnen trieb. Düzen schob ihr Kopftuch ein wenig zurück und tupfte sich mit einem ganzen Stoß Servietten Schweißperlen von der Stirn. Die Pommes rührte sich nicht an. „Schweinefett“, sagte sie, als Isa ihr eine Portion anbot. Ja, das Schwein. Penelope verzog den Mund, als Düzen „Schwein“ sagte, und lupfte den Brötchendeckel des Big Macs, wie um nachzusehen, ob sich darunter ein Schwein versteckt hielt.
„Ich mag Schwein“, sagte sie. „Schwein ist gut. Aber das ist Rind. Rind ist auch gut. Und Huhn auch. Ich mag Fleisch.“
„Fleisch ist gut“, pflichtete Düzen bei. „Fleisch ist gut für das Baby.“
Es war offensichtlich, dass die Burger die Launen besserten. „Hungry women are angry women“. Wie wahr. Am deutlichsten machte es sich bei Penelope bemerkbar.
„Wann kommt das Baby?“, fragte sie zwischen zwei langen Zügen am Trinkhalm, und Düzen, die sich seitlich hingesetzt hatte, so dass ihr Bauch nicht mehr das Lenkrad berührte, antwortete: „Heute. Morgen. Weiß nicht.“
„Du weißt es nicht? Warum nicht? Eine Mutter muss doch wissen, wann ihr Baby kommt?“
„Das Baby kommt, wann das Baby kommt“, sagte Düzen, faltete säuberlich ein paar feucht verschwitzte Servietten und stapelte sie in der leeren Big-Mac-Schachtel, aus der sie zuvor einen Batzen zerlaufenen Cheddar geknaupelt hatte.
„Es könnte jetzt gleich kommen, was?“, sagte Penelope. Es war ihr anzusehen, dass sie sich gerade vorstellte, wie es geschah. Sie machte dabei ein Gesicht, als würde ihr die Vorstellung nicht sehr gefallen. Auch Isa fand den Gedanken bedrückend. Was würden sie tun? Sich hinüber in das Lokal von McDonald’s retten, die Sanität oder die Rettung rufen, während Düzen, gebettet auf Ronald-McDonald-Kindergeburtstagskissen, vor dem Ausgabeschalter in den Wehen lag, unter den ratlosen Blicken des Personals, während sich andere Kunden hurtig davonstahlen und verschämte Blicke über die Schultern werfend die Ausgänge suchten. Krass. Andererseits aber auch irgendwie humorig. Was sollte denn schon geschehen? Düzen würde ein Kind haben, das in einem McDonald’s zur Welt gekommen war. Ein Art Alleinstellungsmerkmal für das Kleine. Aber vielleicht gab es gar eine weltweite Vereinigung von in McDonald’s Filialen Geborenen. Und die fanden sich alle fünf Jahre im Ur-McDonald’s in San Bernardino, California, ein, um das Gedenken an dieses seltsame Ereignis zu vertiefen und mit spendierten Burgern und King-Size-Colas zu feiern.
„Geburtsort? McDonald’s Parndorf.“ Warum nicht? War als Geburtsort so gut wie jeder andere. Solange alles glatt und ohne Komplikationen verlief. Im Falle von Schwierigkeiten war natürlich eine Klinik die bessere Wahl. Aber ein pfützengroßer, öliger Batzen Blut auf dem McDonald’s-Boden würde sich nicht schlecht machen. Es wäre dem gewieften Management zuzutrauen, dieses außerordentliche und zufällige Ereignis zu Reklamezwecken heranzuziehen. Vielleicht mit einem „Birthburger“? Das Patty von extra Tomate und Ketchup unterlegt, und oben eine Schicht gebratener Bacon mit extraweißem Käse von der Milch kälbersäugender Kühe?
Isa schob das letzte Stück ihres Royals in den Mund, wischte sich die Finger an der letzten Serviette ab und dachte nicht mehr an die McDonald’s-Geburt. Sie blickte über den leeren Platz zu den großen getönten Scheiben des Restaurants. Nichts rührte sich.
„Es war nicht wegen Ronny, dass ich Mitglied im ‚Fit for Free‘ geworden bin“, sagte Penelope unvermittelt. Sie zerknüllte geräuschvoll die Big-Mac-Schachtel, stopfte sie zusammen mit ein paar ketchupverschmierten Fritten, die aussahen wie die blutverschmierten Reißzähne eines großen, tölpelhaften Raubtiers, zurück in die braune Tüte.
Sie ließ sie achtlos auf den Boden fallen.
„Heb das auf!“, sagte Düzen, der dieser Frevel nicht entgangen war.
„Reg dich nicht auf.“
„Aufheben“, sagte Düzen und blickte Penelope mit blitzenden Augen an.
„Klar, mach ich dann. Reg dich nich auf.“
„Jetzt. Aufheben.“
Isa beschloss, die Mutti zu machen.
„Gebt mir euren Müll, ich bring ihn raus, und dann geht’s weiter“, sagte sie und streckte je eine Hand zu Düzen und Penelope aus. Es dauerte eine Weile, bis sie alles bekommen hatte. Die beiden hatten sich in ein Augenduell verhakt und ließen sich Zeit.
Früher war Isa mit Lenny und später auch mit Kilian hier herausgefahren, in dieses flache, sonnenüberglühte, mit Rebenreihen durchsetzte Nichts mit seinen Feldern und Buschgruppen. Sie waren durch diese hässlichen, menschenleeren und in die Länge gezogenen Dörfer gefahren, wo ein spitzgiebliges Haus ans andere gedrängt, gleich in Art und Farbe und Größe, den Eindruck eines deprimierenden Sozialismus hinterließen. Es hatte eine Zeit gegeben, da all das einen gewissen Reiz auf sie ausgeübt hatte, einen Reiz, dem sie jetzt vergeblich nachzuspüren versuchte. Sie blickte leer auf ein schier endloses Feld riesiger Windräder, deren Flügel sich wie im Zeitraffer drehten oder die stillstanden, als stünden sie kurz davor, von ihrer Generatorenarbeit ermattet einzuknicken, um dann, wie auf einem Dalí-Gemälde, unter der Sonnenglut zu zerfließen und ihre weich gewordenen Metallhäute über die trockenen Felder zu verteilen. Vielleicht, dachte Isa, liegt es an den Windrädern. Früher war da einfach nichts. Außer Wein und eine Ahnung von Weite und Steppe.
Und dann, beinahe unbemerkt, fuhren sie über eine langgezogene flache Hügelkuppe, eine kleine Erhöhung in der Landschaft, und erblickten den See. Wie ein riesiges in die Landschaft geworfenes Stück Ausschussstahl. Der See war voll von Segeln und den Drachen der Kitesurfer. Lenny hatte den See nur „die Pfütze“ genannt.
„Gehen wir baden“, rief Penelope aus.
„Könnten wir“, antwortete Isa, „tun wir aber nicht. Lohnt nicht.“
„Warum nicht? Eine Abkühlung wär doch cool.“
„Die Pfütze ist so warm wie dein Pipi und riecht auch nicht viel besser.“
„Mein Pipi riecht gut. Jung riecht es. Junges Pipi riecht gut. Altes Pipi riecht schlecht.“
„Ist ja gut“, sagte Isa beschwichtigend und hob die Hand. „Wir gehen trotzdem nicht baden“, sagte sie.
„Warum bestimmen immer Sie, was wir machen?“
„Weil ich bezahle, und weil du gelogen hast. Schon vergessen?“
Penelope gab keine Antwort und holte stattdessen ihr Smartphone aus der Tasche und begann es mit flink tanzenden Fingern zu bearbeiten.
„Sie heißen doch Isabel Blumberg?“, sagte sie, ohne ihren Blick vom Display zu nehmen.
Nach einer Weile machte sie: „Ha!“ Dann noch einmal. „Ha!“, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
„Was ist denn das?“, sagte sie und hielt Isa das Handy unter die Nase. Isa erkannte eines von Lennys Fotos. Es zeigte sie, schwarz gewandet, enganliegende, über die Springerstiefel hochgekrempelte schwarze Jeans, Netzhemd, darunter nichts als nackte Haut und darüber eine schwarze, reißverschlussübersäte Lederjacke, einen Elektrobass mit mächtiger Mechanik in den Händen haltend. Die Haare schwarz und glatt, die Augen halb verhangen, ein Kilo Mascara drum herum.
„Was ist das?“, sagte Penelope.
„Was meinst du?“
„Ich meine, ist das Fasching oder was?“
„Vielleicht“, sagte Isa.
Penelope starrte wieder auf das Display.
„Nein, im Ernst. Was ist das?“
„Was meinst du mit das?“
„Na, das halt … das alles.“
„Punk“, sagte Isa. „Das nennt man Punk.“
„Punk? Was soll das sein?“
Isa sah ihr forschend ins Gesicht, antwortete aber nicht und wartete ab.
„Was ist Punk?“, fragte Penelope, kurbelte das Fenster hinunter, hielt ihr Gesicht in den heißen Fahrtwind und kurbelte die Scheibe gleich wieder hoch. Der See war nicht mehr zu sehen. Weingärten säumten jetzt die Straße. Eine Kreisverkehrsinsel, auf der ein paar Stücke zusammengeschweißter Formrohre einen Brocken unbehauenen Granits umschlangen, kam in Sicht.
„Du weißt nicht, was Punk ist?“
„Würd ich sonst fragen?“
„Dazu sag ich jetzt nichts.“
Penelope blickte sie einen Moment gekränkt an.
Düzen zog das Lenkrad durch ihren Kugelbauch und ließ den Mercedes den letzten Zentimeter der rechten Stoßdämpfer auskosten, während sie um die Roströhren, den Granit und das Unkraut kurvten.
„Punk war einmal. Es war die letzte Innovation in der Popmusik.“
„Du siehst so jung aus“, sagte Penelope.
„Das liegt daran, dass ich tatsächlich jung war.“
„Das muss schon ewig her sein.“
„Ja“, sagte Isa. „Ist es.“
„Wie lange?“
„Über dreißig Jahre.“
„Dreißig Jahre?“, sagte Penelope wie ein Kind, das sich der Tatsache bewusst wird, dass es schon etwas gegeben hat, bevor es da war.
„Punk heißt, gegen alles sein. Punk heißt, sich nichts scheißen, Punk heißt, einfach losgehen und machen. Punk heißt, sich durchsetzen“, sagte Isa. Es klang einstudiert und pathetisch, aber jetzt war es zu spät, und so machte sie einfach weiter.
„Punk war mehr als nur Musik. Punk war und ist eine Art zu leben.“
„Du siehst irgendwie noch genau gleich aus“, sagte Penelope. Isa hob die Augenbrauen.
„Ich meine, du siehst nicht gleich aus, weil du jetzt alt bist, aber du siehst trotzdem gleich aus. Dein Gesicht ist noch gleich. Dieser komische Ausdruck … Als wär dir alles egal und trotzdem wichtig und als würdest du … als würdest du einem am liebsten eine reinhauen.“
„Gut gesehen“, sagte Isa.
„Du hast schön ausgesehen.“
„Ja“, sagte Isa. „Hast …“
Das Ortsschild wischte an ihnen vorbei und Penelope unterbrach Isa. „Hier muss es irgendwo sein.“
„Gut“, sagte Isa, und Düzen ließ ihre Augen im Rückspiegel forschend von Isa zu Penelope wandern, fuhr dabei beinahe in ein Feld mit Reben, fing den Wagen aber noch ab, indem sie das Lenkrad erst nach links und dann nach rechts riss, was bei allen drei ein nervöses Gekicher auslöste. Jetzt wurde es ernst.