Fünf
Am Montag gaben sie ihre Verlobung auf Facebook bekannt, und dann kamen die ganze Woche lang Glückwunschbotschaften an. Alle schienen sich sehr für sie zu freuen. Owen war zwar froh über die positiven Reaktionen, aber er fühlte sich ein wenig distanziert von all dem. Jeden Morgen musste er sich daran erinnern, dass sie das wirklich tun würden, und dann gegen die begleitende Welle von Beklommenheit ankämpfen. Er konnte es einfach nicht fassen, dass er verlobt war, einen Verlobten hatte. Es kam ihm nicht real vor. Er schien immer wieder zwischen Furcht und Nichtwahrhabenwollen hin und her zu wechseln, gelegentlich unterbrochen von ein bisschen Aufregung.
Selbst als sein Vater endlich auf seine SMS antwortete. Er schrieb nicht viel, und es klang nicht sonderlich begeistert. Aber er gratulierte Owen, also war das wohl besser als nichts.
Einige Leute fragten nach Ringen, daher brachte Owen das Thema eines Abends mit Nathan zur Sprache.
„Willst du eigentlich einen Verlobungsring? Daran hatte ich gar nicht gedacht, vor allem, da keiner von uns einen richtigen Antrag gemacht hat.“
Nathan ließ seine Gabel sinken und sah Owen an. Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich weiß nicht so recht. Willst du einen?“
„Eigentlich nicht“, antwortete Owen ehrlich. Er gab sich alle Mühe, ein neutrales Gesicht zu machen. Verlobungsringe standen für ein Konzept, das ihm insgesamt nicht ganz geheuer war. Doch das wollte er nicht zeigen, denn er war sich nicht sicher, ob es Nathan wichtig war oder nicht. Owen hatte ein komisches Gefühl dabei, und er wusste nicht, warum. Vermutlich würden sie eines Tages Eheringe tragen, aber er hatte noch etwas Zeit, sich daran zu gewöhnen, bevor das ein Thema wurde. „Ich meine, es wissen sowieso alle, dass wir verlobt sind, also wozu dann noch Ringe? Nur um noch mehr Geld auszugeben?“
„Naja, sie müssten ja nicht teuer sein.“ Nathan nahm seine Gabel wieder zur Hand und schaute auf seinen Teller. Seine Wangen waren leicht gerötet, aber sein Tonfall verriet nicht viel. „Aber egal. Es macht mir nichts aus. Wir können uns die Mühe sparen.“
„Okay. Wenn du sicher bist.“ Owen hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Erleichterung, die ihn durchströmte. Er wechselte schnell das Thema. „Oh, da fällt mir was ein. Meine Mam hat vorhin eine SMS geschickt. Sie wollte wissen, ob wir am Sonntag zum Mittagessen kommen können.“
„Klar“, antwortete Nathan. „Wir haben nichts vor.“
„Und sie meinte, wir sollen alle Pläne und Notizen mitbringen, die wir bisher für die Hochzeit haben. Also mach‘ dich auf was gefasst. Hurrikan Jan ist im Anzug.“
„Hurrikan Jan“ traf es ziemlich genau. Sie waren kaum durch die Tür, da begann sie schon über Hochzeitspläne zu reden.
Sie waren absichtlich früher gekommen, um alles in Ruhe mit ihr besprechen zu können, bevor Owens sämtliche Schwestern eintrudelten und der Tag in lärmendem Chaos versank. Owen hörte nur mit halbem Ohr zu, während es Nathan besser gelang, mit ihr Schritt zu halten. Es war süß, wie aufgeregt sie war, aber sie machte Owen Kopfschmerzen. Er ging Wasser aufsetzen und überließ es Nathan, ihr von möglichen Terminen und Örtlichkeiten zu erzählen.
In der Küche war es warm, und der Duft nach Brathähnchen ließ Owen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Während er noch darauf wartete, dass das Wasser kochte, kam Megan durch die Hintertür, die direkt in die Küche führte.
„Oh, hey“, sagte sie, als sie Owen bemerkte. „Bist du schon vor Mam geflüchtet?“
„Sie kaut Nathan gerade ein Ohr ab, da wollte ich solange Tee machen. Jetzt komm her und drück‘ deinen Bruder mal.“
Megan kam, und er schlang die Arme um sie, dabei hob er sie fast von den Füßen. Das war nicht schwierig. Sie war schon immer schlank gewesen, aber jetzt war sie dünner denn je. Er nahm Rauchgeruch an ihr wahr – Tabak, und vielleicht auch eine Spur Gras. Als er sie wieder absetzte, runzelte er die Stirn. Dasselbe hatte er in ihrem Alter zwar auch gemacht, aber trotzdem war sie immer noch seine kleine Schwester, und er fühlte sich als ihr Beschützer. Allerdings hütete er sich, sie darauf anzusprechen. Sie würde ihm den Kopf abreißen und sich weigern, überhaupt noch mit ihm zu reden. Den Fehler hatte er schon gemacht, als er sie wegen ihres Zungenpiercings geneckt hatte.
„Und, wie läuft’s bei dir so?“, fragte er beiläufig. „Schule okay? Hast du im Moment einen Freund?“
Megan zuckte die Achseln und strich sich eine lange Strähne ihrer schwarzgefärbten Haare hinters Ohr, wobei sie seinem Blick auswich. Sie fummelte an den Silberringen in ihren Ohren herum.
„Geht so. Schule ist langweilig. Und mein Liebesleben geht dich nichts an.“
„Schon gut.“ Owen hob scherzhaft die Hände. „Willst du was trinken?“
„Ja, Kaffee bitte.“
Sie drückte sich in der Küche herum und sah zu, wie Owen Tee für sich und seine Mam und Kaffee für Nathan und Megan machte. Dann half sie ihm, die Tassen ins Wohnzimmer zu tragen.
„Hi, Megan.“ Nathan stand auf und umarmte sie zur Begrüßung. Sie umarmte ihn ebenfalls.
„Hi. Willkommen in der Familie, nehm‘ ich an. Naja, fast. Du kannst immer noch flüchten, weißt du. Niemand könnte dir Vorwürfe machen, wenn du’s nicht mit meinem nervigen Trottel von Bruder aushalten würdest.“ Sie grinste, als Owen einen empörten Laut von sich gab und Nathan schmunzelte.
„Megan!“, sagte Jan mit einem scharfen, warnenden Blick. „Nicht solche Ausdrücke.“
Megan verdrehte die Augen auf eine Art, die Generationen von Teenagern perfektioniert hatten. Aber sie hielt den Mund, setzte sich aufs Sofa und zückte prompt ihr Handy.
Jan seufzte. „Ständig hängt sie an diesem Scheißding.“
„Nicht solche Ausdrücke, Mam. Du bist voll die Heuchlerin!“, sagte Megan und bewies damit, dass sie zuhörte, obwohl ihre Finger über die Tastatur flogen und sie simste oder twitterte oder was auch immer sie gerade machte.
Als das Mittagessen fertig war, hatte sich der gesamte Clan versammelt. Owens andere drei Schwestern waren da: Ceri, Beth und Rhiannon, außerdem Ceris Ehemann David und ihre beiden Kinder, die vierjährige Jess und der kleine Gareth. Mit insgesamt zehn Personen wurde es eng am Esstisch, sogar, wenn er ausgezogen war. Aber sie schafften es, mit Gareth in einem faltbaren Hochstuhl und Jess eingequetscht zwischen ihren Eltern.
Nach dem Essen halfen alle beim Aufräumen. Megan versuchte sich davonzuschleichen, bevor sie ihren Beitrag geleistet hatte – nach Ansicht ihrer Mutter – was dazu führte, dass sie und Jan sich gegenseitig anbrüllten.
„Ich hab‘ geholfen, die Spülmaschine einzuräumen“, fauchte Megan. „Diese Scheiß-Küche ist zu klein, als dass noch einer beim Abtrocknen helfen könnte. Das ist jetzt schon ein Affenzirkus.“
„Sag nicht immer solche Wörter, wenn die Kleinen im Haus sind!“, schrie Jan zurück. „Ich würde dich ja in dein Zimmer schicken, aber das willst du doch, stimmt’s? Also mach, dass du ins Wohnzimmer kommst, und wisch den Tisch ab, dann kannst du so antisozial sein, wie du willst.“
Megan schnappte sich einen Wischlappen und stürmte hinaus.
Owen grinste Nathan an, der neben ihm am Spülbecken stand – Owen spülte und Nathan trocknete ab. „Ich entschuldige mich für meine Familie. Sie sind alle so laut, verglichen mit deiner.“
Nathan lachte. „Ist schon okay, ich bin’s inzwischen gewohnt.“
Owen wusste, dass Nathan seine Familie anfangs überwältigend gefunden hatte. Sie neigten alle dazu, laut zu sein – abgesehen von Rhiannon, der Stillen im Bunde – und die Emotionen kochten oft über. Nachdenkliches Schweigen gab es kaum, nicht einmal vernünftige Diskussionen. Erst rumschreien und später entschuldigen war eher die Norm.
„Ja, tut mir leid, Schatz.“ Jan nahm Nathan ein Backblech aus der Hand und räumte es weg. „Aber dieses Mädchen… ich schwöre, seit sie ein Teenager ist, hab‘ ich doppelt so viele graue Haare. Manchmal weiß ich nicht, was ich mit ihr machen soll. Sie ist immer lange weg, ruft nicht an. Die meiste Zeit weiß ich nicht, wo sie ist.“
„Das wird schon, Mam“, versuchte Beth, Owens zweitälteste Schwester, sie zu beschwichtigten. „Waren wir in ihrem Alter nicht alle so? Na ja… außer Rhiannon. Sie war immer die Brave.“
„Kann schon sein“, seufzte Jan. „Aber ich weiß nicht. Ich wusste immer, was ihr getrieben habt, auch wenn ihr gedacht habt, ich wüsste es nicht. Aber Megan ist mir manchmal ein Rätsel. Und dieser Jähzorn! Lieber Gott. Manchmal knallt sie ihre Zimmertür so fest zu, dass das ganze Haus wackelt.“
Wie aufs Stichwort kam Megan wieder in die Küche. Ohne irgendjemanden zu beachten, schmiss sie den Wischlappen ins Spülbecken und ging hinaus. Ihre Schritte donnerten die Treppe hinauf, und dann krachte eine Tür ins Schloss.
Megan tauchte nicht wieder auf, als sich der Rest der Familie mit ihren Kaffee- oder Teetassen und einer Schachtel Pralinen, die Ceri mitgebracht hatte, erneut im Wohnzimmer versammelte.
Owen musste auf die Toilette und entschuldigte sich, um nach oben ins Bad zu gehen. Auf dem Rückweg zögerte er auf dem Treppenabsatz und schaute zu Megans geschlossener Tür, an der ein Giftmüll-Symbol über einem ausgedruckten Schild mit der Aufschrift „Zutritt verboten“ klebte. Darunter war mit Filzstift gekritzelt: Ja, Mam, das gilt auch für dich!!!!
Von drinnen war aggressive Rockmusik zu hören, daher klopfe Owen laut. Als nach mehreren Versuchen keine Antwort kam, öffnete er trotzdem die Tür.
Megan saß auf dem Bett. Einige offene Schulbücher lagen um sie herum, doch sie hatte ihr Smartphone in der Hand und schrieb offenbar SMS, statt zu lernen. Sie hob ruckartig den Kopf, als Owen eintrat und die Tür hinter sich zumachte.
„Ich habe angeklopft“, schrie er über die Musik hinweg.
„Tut mir leid, hab‘ dich nicht gehört.“ Sie griff nach einer Fernbedienung und drehte die Musik leiser.
Owen setzte sich neben ihrem Knie auf die Bettkante. Sie legte das Handy weg, wich aber seinem Blick aus. Sie nahm einen Kugelschreiber zur Hand und spielte damit herum, klickte die Mine ständig auf und zu.
„Was willst du?“, fragte sie schließlich.
„Nach dir sehen. Du bist heute ein bisschen sehr kratzbürstig drauf, mehr als sonst. Bist du sicher, dass du okay bist?“
Klick, klick, klick machte der Kuli in ihrer Hand.
„Ja, mir geht’s gut, ehrlich. Nur, Mam… du weißt ja, wie sie ist. Ich kann mich noch erinnern, dass du sie auch angebrüllt hast.“
„Sie macht sich Sorgen um dich.“
„Sie regt sich unnötig auf.“
„Das ist ihr Job.“
Klick, klick, klick .
„Owen.“ Sie hielt inne, dann sah sie ihn an und errötete leicht. „Als du Nathan damals kennengelernt hast… woher hast du da gewusst… du weißt schon. Dass du in ihn verliebt bist?“
Owen verkniff sich ein Lächeln, da er wusste, dass sie das als herablassend empfinden würde.
„Keine Ahnung. Ich hab‘ ihn gemocht. Ich war scharf auf ihn.“ Er zuckte die Achseln. „Ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken, und wollte ständig mit ihm zusammen sein. Das war’s dann auch schon. Anfangs habe ich es nicht als das erkannt, was es war, weil ich sowas noch nie empfunden hatte. Aber dann habe ich begriffen, dass es wirklich so einfach war.“
„Aber wie hat es sich angefühlt ?“
Owen dachte an Nathan und daran, wie er sich fühlte, wenn sie zusammen waren. „Da spielen viele Dinge mit rein. Glücklichsein, Aufregung, ein warmes Gefühl hier“ – er drückte sich eine Hand auf die Brust – „bei dem du immer nur lächeln willst.“
Megan errötete noch mehr. „Oh.“
Owen grinste sie an. „Willst du mir vielleicht was erzählen, Meg?“
Sie begann wieder mit ihrem Kugelschreiber zu klicken. „Kann sein.“
„Wie heißt er?“
Sie heißt Ali.“ Sie funkelte ihn zornig an. „Nicht zu fassen. Ausgerechnet du gehst davon aus, dass es ein Junge ist!“
„Tut mir leid, entschuldige.“ Er legte ihr eine Hand aufs Knie. „Ja, da hast du mich ertappt. Das habe ich nicht kommen sehen.“ Er deutete auf die Wand hinter ihrem Bett, die mit Postern von Emo-Rockbands vollgekleistert war. „Die Jungs da haben mich auf die falsche Spur gebracht.“
„Du hattest Britney und Kylie Minogue an den Wänden, als du noch zuhause gewohnt hast. Wie auch immer. Ich mag auch Jungs, oder jedenfalls hab‘ ich das mal. Ich glaube, ich bin bi… vielleicht? Keine Ahnung. Vielleicht auch nicht. Bei den Jungs hatte ich nie solche Gefühle.“
„Ich nehme an, Mam weiß nichts davon?“
„Nein. Ich meine, Ali ist öfter hier, also kennt Mam sie. Aber sie denkt, wir sind nur befreundet.“
„Nun, wenn du bereit bist, es ihr zu sagen, wird sie kein Problem damit haben. Sie hat schließlich Übung.“
„Ja. Aber Ali will nicht, dass jemand davon erfährt. Ihr Dad hätte was dagegen – da ist sie sich ziemlich sicher.“
Owen drückte Megans Knie. „Geheimnisse zu haben ist schwer. Tut mir leid. Aber ich glaube, du könntest es Mam anvertrauen, wenn nötig. Sie ist vielleicht nachsichtiger mit dir, wenn sie weiß, warum du so rumschleichst. Wahrscheinlich denkt sie, du verkaufst Drogen oder so.“
Megan lachte, und es war schön, zu sehen, wie sich ihre Miene aufhellte und die Belustigung die Ängste vertrieb. „Wenn ich Drogen verkaufen würde, müsste ich nicht bei Tesco jobben, oder?“
„Wahrscheinlich nicht. Okay, ich geh‘ mal besser wieder runter. Sonst ist der arme Nathan der Bagage da unten ganz alleine ausgeliefert. Ich muss ihn retten. Du solltest dann auch wieder runterkommen und dich bei Mam entschuldigen, weil du sie angebrüllt hast.“ Er stand auf und wandte sich zum Gehen.
„Owen.“ Megans Stimme brachte ihn dazu, sich umzudrehen, und sie lächelte. „Glückwunsch übrigens. Nathan ist cool. Ich finde es toll, dass ihr heiraten wollt, obwohl ich das nie von dir erwartet hätte.“
Schmetterlinge flatterten in Owens Bauch, aber er setzte ein Lächeln auf. „Ja. Ich auch nicht.“
„Aber du liebst ihn.“
Es war keine Frage, aber Owen nickte trotzdem, und jetzt musste er sich nicht mehr zum Lächeln zwingen. „Ja. Ich liebe ihn wirklich.“