Fünfzehn
Owen konzentrierte sich ganz darauf, eine Geschwindigkeit zu halten, die er sich gerade noch erlauben konnte, ohne sich in Gefahr zu bringen oder in eine Radarfalle zu tappen. Glücklicherweise war auf den Straßen wenig los, und das Wetter war trocken bis auf gelegentliche Schauer, die nie lange anhielten. Jans Auto war alt und verglichen mit dem Firmenwagen, den Owen benutzt hatte, nicht besonders luxuriös, aber es brachte trotzdem die Meilen hinter sich. Das Adrenalin hielt Owen wach, während die Minuten verstrichen, zu Stunden wurden. Nichts und niemand würde ihn von Nathan fernhalten.
An einer Raststätte im Lake District musste er einen Tankstopp einlegen, und als er auf die Uhr schaute, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es kurz vor drei Uhr morgens war. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Als er fröstelnd auf dem Vorplatz stand und zusah, wie sich die Liter auf der Anzeige an der Zapfsäule summierten, ertappte er sich beim Gähnen und sah für einen Moment vor lauter Erschöpfung alles ganz verschwommen. Er wollte keine Pause machen. Aber er brauchte Koffein und vielleicht auch etwas Süßes, da er immer noch vier bis fünf Stunden zu fahren hatte. Und er wollte zwar unbedingt so schnell wie möglich bei Nathan sein, aber es war zugegebenermaßen besser, sicher dort anzukommen statt überhaupt nicht.
Als er auf den Serviceparkplatz der Raststätte einbog, klingelte sein Handy, aber er konnte nicht schnell genug reagieren, um den Anruf entgegen zu nehmen. Der Benachrichtigungston meldete die Ankunft einer SMS, als er gerade in eine Parklücke fuhr.
Die SMS war von Charlotte, und es war die beste Nachricht, die Owen je bekommen hatte.
Sie haben sie gefunden. Sie sind okay.
Schwach vor Erleichterung schaute er nach dem verpassten Anruf, und tatsächlich war das auch Charlottes Nummer. Er rief sie zurück, während er aus dem Auto stieg und die hell erleuchtete Raststätte betrat, blinzelnd im grellen Licht.
„Owen?“, sagte sie, kaum dass sie abgenommen hatte.
„Ja. Wie geht es ihnen?“
„Ich habe gerade eben mit Ben gesprochen. Sie liegen beide im Krankenhaus und werden wegen leichter Unterkühlung behandelt. Nathan hat sich den Knöchel verletzt, und er hat eine Kopfverletzung, aber Ben denkt nicht, dass es Grund zur Sorge gibt. Sie haben sie nach Fort William in die Notaufnahme gebracht.“
„Eine Kopfverletzung?“ Vor Schreck wurde Owen ganz flau im Magen. „Wie schlimm ist es?“
„Nicht allzu schlimm, glaube ich. Ben sagt, er war die ganze Zeit wach und ansprechbar, bis der Hubschrauber kam. Und er wird jetzt behandelt. Er wird schon wieder.“ Ihr beschwichtigender Tonfall nahm Owen kaum etwas von seiner Besorgnis. Er musste Nathan mit eigenen Augen sehen, ihn berühren, seine Stimme hören.
„Okay. Danke, Charlotte. Ich muss jetzt Schluss machen. Ich will so schnell wie möglich weiterfahren. Sagst du mir Bescheid, falls du nochmal was hörst?“
„Natürlich. Ich fahre auch gleich los. In ein paar Stunden bin ich dort. Also dann, bis später.“
Er wird wieder gesund. Er wird wieder gesund. Er wird wieder gesund.
Owen wiederholte sich den Satz wie ein Mantra, während er an der Kaffeetheke auf seinen dreifachen Espresso wartete.
Nathan musste gesund werden. Alles andere war einfach inakzeptabel. Nathan würde gesund werden. Owen würde dafür sorgen, dass Nathan wusste, wie sehr er ihn liebte, und sie würden heiraten und ein glückliches Leben führen. So und nicht anders würde es laufen.
Er füllte seinen Kaffee mit kaltem Wasser auf, um ihn mit ein paar Schlucken austrinken zu können, und ging dann auf dem Weg nach draußen noch im Laden vorbei, um sich einen Schokoriegel zu holen. Der Zucker würde ihn ein bisschen aufputschen.
Im Laden starrte er dann ausdruckslos auf die Regale voller Süßigkeiten und Schokolade. Er war zu gestresst, um eine Entscheidung zu treffen. Doch dann fiel sein Blick auf die Süßwaren-Mix-Bar und blieb an einem Glas mit Fruchtgummis hängen, die wie Ringe geformt waren.
Er starrte sie an, und dabei nahm eine Idee Gestalt an. Der Ratschlag, den Meg ihm gegeben hatte, kam ihm wieder in den Sinn.
Mach‘ ihm nochmal einen Antrag. Aber diesmal so, wie es sich gehört.
Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus.
Er schnappte sich irgendeinen Schokoriegel, dann nahm er eine der Papiertüten, die an der Mix-Bar bereitlagen, und wählte sorgfältig zwei Fruchtgummiringe aus. Auf dem Weg zur Kasse nahm er noch einen Teddy mit, der ein rotes Stoffherz mit der Aufschrift „Sei mein“ in den Armen hielt, und einen Bund roter Rosen, die im Ausverkauf waren, weil sie schon ein bisschen die Köpfe hängen ließen. Wenn schon, denn schon.
Als Owen endlich um halb acht Uhr morgens auf den Parkplatz des Krankenhauses fuhr, war die Wirkung seines nächtlichen Cocktails aus Adrenalin, Koffein und Zucker abgeklungen. Halb benommen vor Erschöpfung fand er eine Parklücke, holte sich ein Ticket und hastete ins Hauptgebäude, die Rosen in der einen Hand, den Teddy in der anderen und den Ringen, die ihm ein Loch in die Tasche brannten. Er folgte den Hinweisschildern zur Notaufnahme und ging zum Empfangsschalter.
„Was kann ich für Sie tun?“
Die Frau am Empfang lächelte ihn höflich an. Ihr starker schottischer Akzent erinnerte ihn daran, wie weit er gefahren war.
„Hi.“ Er war außer Atem vom Rennen. „Ist Nathan Salter hier?“
Sie tippte auf ihrer Computertastatur herum und schaute auf den Monitor. „Ah ja, natürlich. Er ist vor ein paar Stunden eingeliefert worden, mit seinem Bruder.“
„Ist er okay? Kann ich ihn sehen?“
„Entschuldigung, aber darf ich fragen, wer Sie sind? Wir lassen normalerweise nur Angehörige herein.“
„Ich bin sein Partner“, sagte Owen bestimmt. Diesen Begriff hatte er noch nie benutzt, um Nathan zu beschreiben. Er hatte früher immer „Freund“ gesagt, aber jetzt kam ihm das Wort wie selbstverständlich über die Lippen. „Sein künftiger Ehemann“, fügte er hinzu. „Wir heiraten im Juni.“
Sie warf einen Blick auf die Blumen und den Teddy, und ihr Lächeln wurde freundlicher.
„Natürlich. Ihre Schwägerin hat uns gesagt, dass Sie kommen.“
„Ist er okay?“, wiederholte Owen drängend.
„Ich kenne keine Einzelheiten. Aber ich rufe ihnen gleich jemanden von der Pflege, der Ihnen mehr sagen kann und Sie zu ihm bringt.“
Der Pfleger war Schotte, ein Bär von einem Mann, bei dem Owens Gaydar sofort Sturm läutete. Während sie den nach Desinfektionsmittel riechenden Flur entlang gingen, versicherte er Owen, dass es Nathan gut ging.
„Er war stark unterkühlt, als er vor ein paar Stunden eingeliefert wurde, deshalb wurde er wegen Hypothermie behandelt, und jetzt ist seine Temperatur wieder normal. Er hat sich den Knöchel verstaucht, und er hat eine ziemliche Beule am Kopf, aber die Docs meinen, dass es wohl nicht so ernst ist. Wir machen später noch ein CT und überprüfen das, aber nur zur Sicherheit. Er ist ein bisschen benommen und hat Schmerzen, aber das ist normal. Er hat nach Ihnen gefragt.“ Der Pfleger schmunzelte. „Er hat sich Sorgen gemacht, weil Sie den ganzen weiten Weg gefahren sind. Aus Südwales, nicht? Sie müssen ja völlig erschöpft sein.“
„Ja. Ist schon eine Weile her, seit ich eine ganze Nacht nicht geschlafen habe.“
Sie betraten einen mit Vorhängen unterteilten Raum.
„Hier ist er.“ Der Pfleger zog den Vorhang beiseite. Er senkte die Stimme. „Er schläft gerade.“
Nathan war so groß und kräftig gebaut, dass er kaum in das schmale Krankenhausbett zu passen schien. Aber trotzdem schaffte er es, so verletzlich auszusehen, dass Owens Herz einen Schlag aussetzte. Nathans Kopf war bandagiert und sein Gesicht war blass.
„Sie können ihn aufwecken, wenn Sie wollen“, sagte der Pfleger. „In einer halben Stunde müssen wir sowieso das nächste Mal nach ihm sehen, dann komme ich wieder.“
„Danke.“
Der Pfleger ging und zog den Vorhang hinter sich zu.
Owen trat näher und legte die Blumen und den Teddy auf den Stuhl neben dem Bett. Er hätte Nathan gerne geküsst, war sich aber nicht sicher, ob er ihn nicht lieber schlafen lassen sollte. Nathans eine Hand lag auf seiner Brust, außen auf der Bettdecke. Owen berührte sie sanft und stellte zu seiner Beruhigung fest, dass sie warm war.
„Owen?“, fragte eine gedämpfte Stimme hinter ihm. „Bist du das?“
„Ja.“ Er drehte sich um und sah Charlotte durch den Vorhang spähen.
„Hi.“ Sie schlüpfte durch den Spalt und umarmte ihn fest. „Schön, dass du gut angekommen bist.“
„Wie geht’s Ben?“, fragte er.
„Gut. Er schläft. Er wird bald entlassen, dann kann ich ihn mit nach Hause nehmen… oder möchtest du, dass wir bleiben?“
„Nein. Das ist nicht nötig.“
„Owen?“ Nathans Stimme war heiser, aber unverkennbar. „Du bist hier.“
Owen drehte sich um. Ein warmer Schwall reiner Freude und Erleichterung durchströmte ihn, als er sah, dass Nathan wach war und lächelte. Er nahm gerade noch wahr, dass Charlotte sich mit einem geflüsterten „Ich lass‘ euch dann mal allein und such‘ mir eine Kaffeemaschine“ wieder hinter den Vorhang zurückzog.
„Und ob ich hier bin.“ Owens Stimme war erstickt, da die Gefühle ihm die Kehle zuschnürten. „Was zum Teufel machst du bloß für einen Scheiß?“
„Bin im Schnee ausgerutscht. Komm her.“ Nathan hob die Hand.
Owen setzte sich auf die Bettkante und ließ sich von Nathan herunterziehen, bis ihre Lippen in einem Kuss aufeinander trafen.
„Idiot“, versuchte Owen zu scherzen. Er weinte jetzt. Nathans Wangen waren auch nass, aber Owen war sich nicht sicher, ob die Tränen von ihm stammten oder von Nathan selbst.
„Ich hatte solche Angst, ich würde dich nie wiedersehen“, sagte Nathan, als Owen ein wenig zurückwich, um ihn ansehen zu können. Mit gedämpfter Stimme sprach er weiter: „Mein einziger Gedanke war, dass ich dir keinen Abschiedskuss gegeben hatte.“ Jetzt weinte er eindeutig und wischte sich mit der Hand, mit der er nicht Owens Hand fest umklammerte, die Tränen weg. „Gott, es ist so schön, dich zu sehen. Es tut mir leid, dass ich gegangen bin, ohne mich richtig zu verabschieden. Und es ist mir egal, ob wir verheiratet sind oder nicht, solange wir nur zusammen sind.“
„Was das betrifft“, sagte Owen und tastete in seiner Jackentasche nach der Papiertüte. „Das mit diesem blöden Streit tut mir schrecklich leid. Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. Ja, ich war nervös wegen der Hochzeit, aber das heißt noch lange nicht, dass ich dich nicht heiraten will. Das hätte ich dir schon längst einmal sagen sollen, aber ich wusste nicht, wie. Aber ich will es. Ich will, dass wir die Hochzeit durchziehen. Ich habe die ganze Zeit, als du weg warst, an nichts anderes gedacht und…“
Er stand auf und sank auf dem harten Krankenhausfußboden vor dem Bett auf ein Knie. Dann fasste er wieder nach Nathans Hand und sah ihm tief in die überraschten blauen Augen.
„So hätte ich es schon beim ersten Mal machen sollen, aber besser spät als nie. Nathan Salter, ich liebe dich. Ich will dich für immer in meinem Leben haben, wenn du denkst, dass du es mit mir aushalten kannst. Also bitte, bitte , würdest du mich heiraten, obwohl ich so ein Trottel bin? Diesmal habe ich sogar einen Ring für dich… warte mal eben.“ Er ließ Nathans Hand für einen Moment los, da er beide Hände brauchte, um die Fruchtgummiringe aus der Tüte zu fischen und sie voneinander zu lösen, da sie zusammengeklebt waren. „Was Besseres konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben.“
Er streckte Nathan die beiden Fruchtgummiringe auf der flachen Hand entgegen und hielt den Atem an.
Ein Lächeln spielte um Nathans Lippen und er schüttelte den Kopf. „Sowas kann doch nur dir einfallen, Owen.“
„Ist das ein Ja?“, wollte Owen wissen. Sein Herz pochte. Er fragte sich, ob es möglich war, vor Ungeduld zu sterben. Wenigstens war er in einem Krankenhaus, da konnte man ihn wiederbeleben. „Ich hab‘ dir auch noch Rosen und einen bescheuerten Teddy mitgebracht, falls das was nützt?“
Nathan lachte leise. „Ja. Natürlich ist das ein Ja.“
„Oh, dem Himmel sei Dank! Dann mal her mit deiner Hand. Tut mir leid, er ist ein bisschen eng, aber glücklicherweise dehnbar.“ Er zwängte einen der Ringe über Nathans Ringfinger und ließ sich von ihm den anderen anstecken.
„Jetzt komm hier rauf“, sagte Nathan. „Ich will dich noch ein bisschen küssen.“
Owen krabbelte zu ihm ins Bett, und Nathan rückte beiseite, um ihm Platz zu machen. Er schlang die Arme um Owen und küsste ihn, lange und langsam und bestimmt. Owen erwiderte den Kuss genauso, denn er war sich endlich sicher, dass er genau da war, wo er sein wollte.
Der Hochzeitstermin konnte gar nicht schnell genug kommen.