Wo ist Palästina?
Je länger man es sucht, desto ferner scheint es.
»Heaven’s fugitives«,
Himmelsflüchtlinge, muss man nicht suchen.
Sie kennt man.
Den Himmel nicht. Das Unwahrscheinliche unterscheidet
sich von dem Unmöglichen durch ein Moment: Hoffnung
(Shannee Marks)
Es bedarf eines us-Präsidenten namens Donald Trump, damit die Europäische Union endlich damit anfängt, im Sinne ihrer eigenen Interessen zu denken und zu handeln. Die Europäische Union erlebte in der jüngsten Zeit eine Krise, die ihr Fundament zum Wanken brachte. Heute befindet sich Europa inmitten eines Prozesses des Neudenkens, der Umgestaltung und der Neuausrichtung. Auf der einen Seite haben wir den Brexit sowie das Erstarken von anti-europäischen politischen Kräften, auf der anderen Seite gibt es neue pro-europäische Kräfte wie den neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Noch ist nicht absehbar, welche Kräfte sich durchsetzen werden, es besteht aber sehr wohl die Möglichkeit, dass sich das Gesicht Europas wesentlich verändern wird, was zweifellos Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen der eu haben wird.
Der Nahe Osten befindet sich ebenfalls in einem Prozess der Umwandlung. Es ist zwar noch zu früh zu prognostizieren, wie dieser Prozess ausgehen wird, doch eines steht fest: der Einfluss des »neuen Nahen Ostens« wird gleichfalls über seine Grenzen hinausgehen. Die erste Region, die den Einfluss spüren wird, wird Europa sein. Denn Europa ist nicht nur geografisch gesehen ein unmittelbarer Nachbar, sondern auch die Geschichte der beiden Regionen ist eng miteinander verwoben. Die gemeinsame Geschichte basiert auf den Kreuzzügen, auf der islamischen Eroberung Europas und auf dem europäischen Kolonialismus. Zu dieser Geschichte gehört auch unwiderruflich der sogenannte Nahost-Konflikt.
Wenn heute der Nahost-Konflikt thematisiert wird, dann impliziert dieser in erster Linie die seit 1967 bestehende israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete Westbank – einschließlich Ost-Jerusalem – und des Gazastreifens. Es sind die Gebiete, die der Staat Palästina als sein Territorium beansprucht. Ausgehend von dieser Basis ist zwar das Jahr 1967 ein wichtiges, jedoch nicht das auschlaggebende. Das entscheidende Jahr und damit auch der Beginn des Nahost-Konfliktes lag vor genau hundert Jahren: 1917. Damals übersandte Arthur Balfour, der amtierende britische Außenminister, Walter Rothschild, dem Verfechter der zionistischen Bewegung, seinen berühmten Brief. Die historisch als »Balfour-Deklaration« eingegangene Erklärung sicherte den Zionisten die britische Unterstützung bei der »Schaffung einer nationalen Heimatstätte für das jüdische Volk in Palästina« zu, und zwar ungeachtet der nationalen Rechte dort lebender palästinensischer Einwohner.
Das Versprechen Großbritanniens ist folglich das erste offizielle europäische Dokument, das parteiisch die Errichtung eines jüdischen Staates im arabischen Raum forcierte und das in der Folge mit einem vom Völkerbund an das Königreich 1922 übertragenen »Palästina-Mandat« de facto umgesetzt werden konnte. Beinhaltet die Präambel des Mandates auf der einen Seite die in der Balfour-Erklärung zugesicherte Unterstützung für die Errichtung einer jüdischen nationalen Heimstätte, so hält sie auf der anderen Seite ebenfalls fest, dass »nichts unternommen werden sollte, das die zivilen und religiösen Rechte von existierenden nicht-jüdischen Gemeinschaften beeinträchtigt«. Mit dieser Aussage werden die nicht-jüdischen Einwohner, ergo die Palästinenser, nur als eine Gemeinde (»community«) und nicht als ein Volk mit politischen und nationalen Rechten behandelt.
Heute beweist ein Rückblick, dass Großbritannien eklatant gegen den mit dem Völkerbund geschlossenen Vertrag verstoßen hat, ohne dabei zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Allein die europäischen und selbstverständlich auch die us-amerikanischen Ambitionen, sich eine grundlegende Einflussnahme und Stellung in der Region zu sichern, sind für den nicht verfolgten Vertragsbruch ausschlaggebend.
Die Idee des Zionismus hat ihren Ursprung in Europa und war als Antwort des vornehmlich in Osteuropa aufkeimenden Antisemitismus zu verstehen. Hingegen stieß im westlichen Europa der Zionismus bis vor dem Zweiten Weltkrieg auf ein geringes Interesse. Erst danach und infolge der von Nazi-Deutschland begangenen Verbrechen, die eines der furchtbarsten der modernen Geschichte darstellen, erhielt die zionistische Bewegung Zulauf, was auf politischer Ebene ihre Mission erleichterte.
Denn anstatt die jüdische Bevölkerung in ihren Heimatländern wieder zu integrieren und zu rehabilitieren, entschieden die Siegermächte usa, Frankreich, Großbritannien sowie die damalige Sowjetunion nach 1945, einen jüdischen Staat in Palästina mit allen Mitteln zu unterstützen. Hieraus resultierte der un-Teilungsplan von 1947, der ohne Konsultationen mit den Vertretern der palästinensischen Bevölkerung und damit über ihre Köpfe hinweg durchgesetzt wurde. Mit Recht hat die überwältigende Mehrheit der Palästinenser den Teilungsplan abgelehnt, da er die vorherrschenden demografischen Gegebenheiten und die Landbesitzverhältnisse ignorierte. Die bedingungslose Unterstützung für den Staat Israel seitens der internationalen Gemeinschaft zeigte sich gleichfalls in einer Apathie, als Israel im anschließenden ersten israelisch-arabischen Krieg weitere dem Staat Palästina zugesprochene Gebiete eroberte. Phlegmatisch wurde die territoriale Eroberung hingenommen und diese weder als Kriegsakt definiert noch eine sofortige Rückgabe gefordert.
Angesichts dieses Desinteresses, nicht nur gegenüber dem palästinensischen Volk sondern auch gegenüber jeglichen völkerrechtlichen Prinzipien, ist die von Daniel Barenboim in der Tageszeitung Die Welt im Juni 2017 getroffene Aussage zutreffend: »Deutschland hat sich gegenüber Israel immer besonders verpflichtet gefühlt, zu Recht. Ich muss aber noch einen Schritt weitergehen: Denn auch gegenüber den Palästinensern hat Deutschland eine besondere Verantwortung. Ohne den Holocaust wäre es nie zur Teilung Palästinas gekommen, hätte es Nakba, den Krieg von 1967 und die Besatzung nie gegeben. In der Tat handelt es sich nicht nur um eine deutsche sondern eine europäische Verantwortung gegenüber den Palästinensern, denn Antisemitismus war ein gesamteuropäisches Phänomen, und es sind die direkten Folgen dieses Antisemitismus, unter denen die Palästinenser bis heute leiden – obwohl sie in keiner Weise selbst dafür verantwortlich sind.«136
Das schlechte Gewissen der Europäer gegenüber Israel manifestiert(e) sich in enormen Finanzspritzen wie dem Wiedergutmachungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel, regelmäßigen Geldmitteln in Millionenhöhe, militärischen Beihilfen zum Atomprogramm, beispielsweise von Frankreich, und sonstigen Unterstützungen. Diese sorgten schnell für eine starke israelische Wirtschaft und damit auch für einen festen wirtschaftlichen und politischen Bündnispartner in einer Region, die für Europäer stets von Interesse war. Bis heute läuft die europäisch-israelische Kooperation auf militärischer Ebene auf Hochtouren – nicht zuletzt beispielsweise von deutscher Seite mit bereits erfolgten und zukünftig geplanten Lieferungen von U-Booten, die nuklear nachgerüstet werden können.
Israel gewann für Europa sowohl geografisch-politisch als auch wirtschaftlich immer mehr an strategischer Bedeutung. Die Etablierung schlug sich schnell nieder, wie das bereits im Juni 1964 geschlossene Abkommen zeigt. In diesem Jahr unterzeichnete die damalige Sechsergemeinschaft, bestehend aus den Gründungsmitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ewg) – Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande – das erste Freihandelsabkommen mit Israel. Verfestigt wurde die zunächst wirtschaftliche Bindung mit einem 1975 geschlossenen Folgevertrag und auf politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene mit dem Assoziierungsabkommen aus dem Jahr 2000.
Doch die mit Israel ratifizierten Verträge sind schon per se angesichts der von der Europäischen Union vertretenden Grundprinzipien problematisch. Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtstaatlichkeit lauteten die Werte, auf denen die Außen- und Handelsbeziehungen der Europäischen Union basieren bzw. basieren sollten. Darüber hinaus enthalten alle Handelsabkommen, sei es auf bi- oder multilateraler Ebene, eine Menschenrechtsklausel. Diese besagt, dass bei Nichteinhaltung europäischer Grundprinzipien verschiedene Maßnahmen wie Einschränkung oder Aussetzung der Kooperation vorgesehen sind. So hieß es auch schon längst im europäisch-israelischen 1975er-Abkommen (Artikel 1): »Die Beziehungen zwischen den Vertragsparteien ebenso wie alle Bestimmungen des Abkommens beruhen auf der Achtung der Menschenrechte und den Grundsätzen der Demokratie, von denen die Vertragsparteien sich bei ihrer Innen- und Außenpolitik leiten lassen und die ein wesentliches Element dieses Abkommens sind.«
Alle Freihandelskommen, einschließlich des bereits 1964 geschlossenen, beinhalten zugleich eine Definition des Begriffes »Ursprungswaren«. Als diese werden nur jene Produkte als israelische Produkte bezeichnet, die »vollständig in Israel gewonnen oder hergestellt wurden«. Mit der israelischen Besatzung von 1967 und dem Bau der illegalen jüdischen Siedlungen und Fabriken begann Israel jedoch, die in der Westbank hergestellten Produkte als reine israelische Produkte zollfrei in die Europäische Union zu exportieren. Bis zum Jahr 2005 wurde dieses »offene Geheimnis« geduldet und im Zuge dessen die Glaubwürdigkeit der eu-Menschenrechtsklausel untergraben. Seit 2015 verlangt die eu, dass Produkte aus israelischen Siedlungen in den besetzen Gebieten als solche gekennzeichnet werden müssen.
Die Europäische Union als Verfechterin hätte damals wie heute ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen können, indem sie konsequent und im Rahmen des vertraglichen Regelwerks Maßnahmen gegen Israel in Anbetracht seiner Besatzung Palästinas hätte durchsetzen müssen. Die bereits vom Völkerbund verfolgte Linie des Desinteresses, eine gerechte Lösung für den Konflikt zu finden, setzte die Europäische Union bedenkenlos fort.
Palästina ist seit jeher Spielball internationaler machtpolitischer Interessen sowie – je nach aktueller Krisensituation mal mehr und mal weniger – in aller Munde. Schon für den un-Teilungsplan von 1947 diente Palästina als Spielball für die Manifestierung europäischer Einflussnahme und für die Wiedergutmachungspolitik für die im Zweiten Weltkrieg begangenen Kriegsverbrechen an jüdischen Europäern. Dabei ist die Teilung Palästinas durch die Mitglieder der Vereinten Nationen einmalig in der gesamten internationalen Geschichte, vor allem auch im Hinblick darauf, dass die internationale Gemeinschaft die Existenz des palästinensischen Volkes schlichtweg ignorierte. Der Teilungsplan sprach von einem arabischen Staat, wobei die Worte Palästina oder »das palästinensische Volk« vermieden wurden.
Doch die Palästinenser besaßen schon früh die gleichen nationalen identitätsstiftenden Merkmale wie die Europäer zu Zeiten ihrer Nationalstaatsbestrebungen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es klare Vorstellungen von Palästina als einem eigenständigen Gebiet in Grenzen, die dem späteren britischen Mandatsgebiet fast entsprachen und mit Merkmalen wie einer eigenen Geschichte, Bevölkerung, Geografie und Verwaltungsstrukturen verbunden waren. Auch die im Jahr 1912 in Jaffa gegründete Zeitung Filastin (Palästina) begann von ihrer ersten Ausgabe an, Palästinenser explizit als Palästinenser zu bezeichnen.
Europa jedoch war partout nicht bereit, das palästinensische Volk als Volk anzuerkennen. In Bezug auf den Nahen Osten und den Konflikt veröffentlichten die sechs Mitglieder der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (epz) erst 1971 ihre erste eigene Erklärung. In dieser wurde Israel aufgefordert, sich aus den im Junikrieg 1967 eroberten Gebiete zurückziehen sowie den »arabischen Flüchtlingen« ein Rückkehr- und Entschädigungsrecht zuzusprechen. Doch der Terminus »palästinensisches Volk« wurde weiterhin gemieden.
Eine vorsichtige Wende im Anerkennungsprozess trat erst nach dem Oktoberkrieg im Jahre 1973 ein. Die opec (Organisation erdölexportierender Länder) setzte unter der Ägide der arabischen Länder Algerien, Irak, Kuwait, Libyen, Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emirate erstmals das schwarze Gold als wirtschaftliches Druckmittel gegenüber dem Westen ein. Die opec verhängte ein Embargo gegen die usa und die Niederlande, da in Rotterdam der wichtigste Umschlagplatz des europäischen Ölgeschäftes lag. Ziel des Boykotts war es einerseits, den Westen auf seine einseitige Parteinahme zugunsten Israels aufmerksam zu machen. Andererseits sollte Europa sich endlich für die Rechte des palästinensischen Volkes einsetzen.
Da der Lieferboykott den wirtschaftlichen Aufschwung der westlichen Industriestaaten hemmte, rangen sich die europäischen Staaten, ergo die epz-Staaten, zu einer weiteren Nahost-Erklärung durch. Im November 1973 veröffentlichten sie eine Erklärung, in der zwar ausdrücklich »die legitimen Rechte der Palästinenser« anerkannt wurden, aber es wurde ihnen weiterhin kein Territorium und damit auch keine Staatlichkeit zugesprochen. Es blieb ein bitterer Beigeschmack durch die Nicht-Anerkennung der Palästinenser als Volk. Diese Unterlassung war wahrscheinlich eine bewusste Entscheidung, wenn man die uno-Menschenrechtspakte über bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahr 1966 zu Rate zieht.
Im un-Menschenrechtspakt weisen die Vereinten Nationen einem Volk folgende legitimen Rechte zu: »Anspruch auf Selbstbestimmung« verbunden mit dem »Recht auf freie Entscheidung über den eigenen politischen Status«. Weiters ist dort klar festgelegt, dass »in keinem Fall ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden« darf und dass »Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, … die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern … und zu achten haben«.
Bewegung, die dem völkerrechtlichen Rahmen näher kam, steckte in der im Juni 1980 verfassten Venedig-Erklärung. Auf seinem Gipfeltreffen forderte der Europäische Rat Israel darin auf, die seit 1967 bestehende Besatzung zu beenden, erkannte das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und die plo als offizielle Vertretung der Palästinenser an. Gleichzeitig erklärte der Rat, dass die jüdischen Siedlungen ein »ernsthaftes Hindernis für den Friedensprozess« seien und warnte vor einseitigen Schritten, die den Status von Jerusalem verändern könnten. Neben der Anerkennung des Existenzrechts Israels schlug Europa auch die Installierung von Sicherheitsgarantien wie die Stationierung von multinationalen Truppen vor Ort vor.
Doch die durch die Venedig-Erklärung aufkommende Euphorie verflog schnell, da den für das damalige Europa starken Worten keine politische Umsetzung folgte. Im Gegenteil, die europäischen Augen richteten sich ausnahmslos auf den ersten Golfkrieg und Palästina geriet für weitere acht Jahre ins Hintertreffen. Auch die Intifada, die zwar Palästina wieder in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit rückte und sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch Druck auf Israel ausübte, konnte kein politisches Terrain gewinnen und wurde von der Golfkrise im Sommer 1990 überlagert.
13 Jahre lang, bis zum Beginn der 1990er Jahre, sandte die Europäische Union hinsichtlich des traditionellen Nahost-Konflikts keine bedeutenden politischen Signale aus. Eine nennenswerte europäische Partizipation war gleichfalls weder in den Madrider noch in den Osloer Verhandlungen zu erkennen. Während der Madrider Verhandlungen wurde weiterhin der Versuch unternommen, den Palästinensern ihre nationale Identität zu rauben. Im Rahmen der Verhandlungen wurden sie nicht als eine eigenständige palästinensische Delegation anerkannt, sondern mussten sich eine Delegation mit den Jordaniern teilen. Gleichzeitig durfte die plo, die zuvor allerdings als legitime Vertreterin der Palästinenser von Europa anerkannt wurde, nicht teilnehmen. Zugang zu den Verhandlungen hatten nur die Palästinenser aus der Westbank und dem Gazastreifen.
Auch wenn die 1993 zwischen der plo und Israel geschlossenen Osloer Verträge schrittweise und auf die Dauer von fünf Jahren die Gründung des Staates Palästina vorsahen, wirkten die Europäer – trotz teilweiser Aufnahme von semi-diplomatischen Beziehungen – dagegen. Als Beispiel dient hier die Berliner Erklärung vom März 1999. Zugegebenermaßen unterstützte die Europäische Union die Gründung des palästinensischen Staates, doch sie wirkte im politischen Hintergrund auf Präsident Jassir Arafat ein, die geplante und in Oslo festgesetzte Staatsproklamation, die für den 4. Mai 1999 vorgesehen war, zu verschieben. So heißt es in der Erklärung: »Die eu bekräftigt das dauerhafte und uneingeschränkte Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung einschließlich der Option für einen Staat und sieht einer baldigen Verwirklichung dieses Rechts erwartungsvoll entgegen. Die Schaffung eines demokratischen, existenzfähigen und friedlichen palästinensischen Staates ist die beste Garantie für die Sicherheit Israels. Die eu ist bereit, eine Anerkennung dieses Staates zu gegebener Zeit in Erwägung zu ziehen.«
Die Bemühungen der Europäischen Union im Nahost-Konflikt beschränkten sich ab 1993 – abgesehen von der Venedig-Erklärung, die prinzipiell schon die Zweistaatenlösung einforderte – auf die finanzielle und teilweise auch auf die technische Ebene. Sie unterstützte die palästinensische Regierung – damals Palästinensische Autonomiebehörde (pa) – beim Aufbau der Staats- und Sicherheitsstrukturen und der Infrastruktur, förderte Institutionen und den Privatsektor und das Wohnungs- und Schulwesen.
Allerdings kommt die Europäische Union bis heute nicht aus ihrem Kostüm »Payer statt Player« heraus, obwohl die europäischen Staaten sich rhetorisch stark verändert haben. Betrachtet man die bindenden Erklärungen des Europäischen Rates vom 8. Dezember 2009 sowie vom 18. Januar 2016, so finden sie klare Worte, die vollständig kongruent mit dem völkerrechtlichen Rahmen sind.
Erstmals werden die jüdischen Siedlungen und die Mauer auf besetztem palästinensischem Land gemäß dem internationalen Recht als illegal bezeichnet und wiederholt betont, dass die Annexion Ost-Jerusalems nicht anerkannt wird (2009). Sieben Jahre später wird eine weitere Erklärung mit weitreichenderen Worten verfasst. So heißt es: »Die eu weist erneut darauf hin, dass die Siedlungen nach dem Völkerrecht illegal sind, ein Friedenshindernis darstellen und eine Zweistaatenlösung unmöglich machen könnten, und bekräftigt, dass sie sich entschieden gegen die Siedlungspolitik Israels und die in diesem Zusammenhang ergriffenen Maßnahmen wie den Bau der Trennmauer jenseits der Linie von 1967, den Abriss von Gebäuden und Konfiszierungen – auch betreffend Projekte, die von der eu finanziert wurden –, Räumungen, Zwangsumsiedlungen – auch von Beduinen –, illegale Außenposten sowie Bewegungs- und Zugangsbeschränkungen wendet. Sie fordert Israel nachdrücklich auf, gemäß früheren Verpflichtungen alle Siedlungstätigkeiten einzustellen und die seit März 2001 errichteten Außenposten aufzulösen. Die Siedlungstätigkeit in Ostjerusalem gefährdet ernsthaft die Möglichkeit, dass Jerusalem die künftige Hauptstadt beider Staaten werden kann.«
Noch bemerkenswerter sind die Äußerungen zu dem Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Israel: »Die eu und ihre Mitgliedstaaten sind entschlossen, die geltenden Rechtsvorschriften der eu und bilateralen Vereinbarungen, die auf Erzeugnisse aus den Siedlungen anwendbar sind, kontinuierlich, umfassend und wirksam umzusetzen. Die eu erklärt, dass sie gewillt ist, sicherzustellen, dass in allen Abkommen zwischen dem Staat Israel und der eu im Einklang mit dem Völkerrecht unmissverständlich und ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass sie nicht auf die von Israel 1967 besetzten Gebiete anwendbar sind.«
Angesichts dieser ausdrücklichen Worte ist es umso enttäuschender, dass die Europäische Union über die rhetorische Symbolik nicht hinauskommt. Vereinzelt schaffen es Staaten wie Schweden mit der Anerkennung Palästinas 2014 oder die irischen, französischen und britischen Parlamentsentscheidungen, die Anerkennung des Staates Palästinas zu vollziehen und aus dem Windschatten der europäischen Passivität herauszutreten.
Die Frage nach dem »Warum« der geeinigten Uneinigkeit lässt sich leicht beantworten. Israel ist zu einem starken politischen, wirtschaftlichen und militärischen Partner geworden und in dieser Hinsicht hat Palästina nichts entgegenzuhalten. Es überwiegen die machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Das moralische Handeln ist sekundär.
Doch der Europäischen Union muss es bewusst sein, dass sie eine ethisch-moralische Verantwortung trägt angesichts ihrer hundert Jahre währenden Einflussnahme in der Region. Es muss ihr auch bewusst sein, dass die Zweistaatenlösung ohne ein europäisches Eingreifen zu Grabe getragen werden kann.
Insbesondere die vergangenen fünf Jahre haben die engen zwischen Europa und dem Nahen Osten bestehenden Beziehungen verdeutlicht. Es zeigte sich, dass die Probleme des Nahen Ostens eine unmittelbare Auswirkung auf Europa und auf das Leben der europäischen Bürger haben. Dabei stehen zwei Punkte ganz oben auf der europäischen Tagesordnung: Terror und Migration. Diese beiden Tatsachen sind unter anderem Ergebnisse einer gescheiterten europäischen Politik vis-à-vis dem Nahen Osten. Diese Politik manifestierte sich im Versuch, Regime gewaltsam zu stürzen und die eigenen, westlichen Demokratievorstellungen zu installieren. Die politische Situation im Irak, in Syrien, Libyen und im Jemen zeigt aber auf, dass Demokratie keine Exportware sein kann. Ratsamer wäre es, Demokratie- und Pluralismus-Bestrebungen mit politischen und entwicklungspolitischen Mitteln zu unterstützen. Das blinde Folgen verschiedener us-Administrationen, ohne eigene europäische Sicherheitsinteressen einzubinden und zu berücksichtigen, führte maßgeblich dazu, dass das europäische Haus nun in seiner Grundfestung erschüttert wurde.
Es war immer eine palästinensische Forderung an Europa, sich politisch stärker in der nahöstlichen Region zu engagieren. Diese Forderung hat aufgrund der Ereignisse in Europa weder an Gültigkeit noch an Aktualität verloren. Europa sollte und darf politisch nicht in der zweiten Reihe sitzen. Bei allem Respekt für eine große amerikanische Rolle – Europa hat eigene Instrumente, um den politischen Diskurs in der Region zu beeinflussen und damit auch eine Lösung im Sinne des internationalen Rechts endgültig umzusetzen. Diese Instrumente sollte Europa angesichts der israelischen Politik endlich einsetzen. Es ist offensichtlich, dass Israel rücksichtslos agieren kann, da Europa bisher seine menschenrechtswidrige Politik nicht abgestraft hat. Erst wenn Israels Straffreiheit durch Europa beendet wird, internationales Recht und un-Resolutionen eingehalten werden, dann sind wir der Zweistaatenlösung einen Schritt nähergekommen.
Die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes im Sinne der Zweistaatenlösung wird gewiss nicht alle Probleme des Nahen Ostens aus der Welt schaffen, aber sie wird maßgeblich zur Stabilität in der Region und damit auch zu einer Stabilität in Europa beitragen.
136. Daniel Barenboim, Die Besatzung durch Israel muss aufhören, in: Die Welt vom 8. Juni 2017