Geschichte der Besatzung der Westbank und des Gazastreifens

Petra Wild

»Israels Verhältnis zu den Palästinensern ist wie Australiens [Verhältnis] zu den Aborigines.«
(Patrick Wolfe)
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Die Geschichte der israelischen Besatzung ist die Geschichte einer europäischen Siedlerbevölkerung, die in einem bereits von einer einheimischen Bevölkerung bewohnten Land mit Gewalt und per Gesetz versucht, die einheimische Bevölkerung möglichst vollständig zu verdrängen und sich deren Land anzueignen.

Von der Besetzung der Westbank und des Gazastreifens 1967 bis zum Beginn der 1. Intifada

Im Juni-Krieg von 1967 vervollständigte Israel durch die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens die Aneignung des historischen Palästinas. Die israelische Politik in den 1967 besetzten Gebieten folgt einer dezidiert siedlerkolonialistischen Logik. Ihre Hauptcharakteristiken sind Landraub, Siedlungsbau und die Zusammendrängung der einheimischen Bevölkerung auf immer kleiner werdenden Flächen. Dabei wendet Israel mehr oder weniger dieselben Methoden der geographischen und ökonomischen Strangulierung an wie zuvor gegenüber den Palästinensern innerhalb der Grünen Linie. Eine neue koloniale Geographie wird über das Land gelegt und die Spuren der einheimischen Bevölkerung nach und nach getilgt.

Ein erster Schritt dazu war die Umbenennung der Westbank in »Judäa und Samaria«. Direkt nach der Besetzung begann der Siedlungsbau. Wie mehrere strategische Siedlungspläne der israelischen Regierung und der an den Regierungsgeschäften beteiligten Zionistischen Weltorganisation (wzo) zeigen, zielte Israel von Anfang an auf die Annexion von Teilen der Westbank. Der Allon-Plan vom Juli 1967 sah Siedlungsbau zur Vorbereitung der Annexion von 40% der Westbank vor (Jordan-Tal, Ost-Jerusalem und »Judäische Wüste« im Süden der Westbank), der Drobles-Plan der wzo von 1978 dehnte den Siedlungsbau auf den Norden der Westbank aus. Eine Reihe von Militärverordnungen ermöglichte den Zugriff auf palästinensisches Land und durch die Manipulation der alten osmanischen Landgesetzgebung wurden riesige Flächen zu »Staatsland« erklärt und beschlagnahmt. Bis 2017 wurden 250 Siedlungen in der Westbank errichtet, in denen etwa 600.000 Siedler leben.

Noch im Juni 1967 annektierte Israel 70 km² Land in und um Jerusalem, einschließlich 28 palästinensischer Dörfer. Im Masterplan für Jerusalem von 1968 wurde die Errichtung eines Gürtels von zwölf Siedlungen festgelegt, um die palästinensischen Viertel einzuschließen und voneinander zu trennen.55 Die 7000 Jahre alte Stadt wird schrittweise in eine »jüdische Stadt« umgewandelt, die sie historisch niemals war. Das Maghariba-Viertel mit seinen 135 Häusern wurde komplett zerstört, um dadurch eine riesige Plaza vor der Klagemauer zu schaffen. Das ehemalige jüdische Viertel wurde von seinen nicht-jüdischen Bewohnern gesäubert und territorial erweitert. Der Stadtteil Silwan mit seinen 55.000 Bewohnern, wo Israel die biblische Stadt König Davids lokalisiert, wird schrittweise von zionistischen Siedlern und archäologischen Grabungsstätten übernommen, obwohl es seriösen israelischen Altertumswissenschaftlern wie Israel Finkelstein zufolge keinerlei Belege für die David-Erzählung gibt. König David ist eine biblische Figur und keine historische Persönlichkeit.

Da nach der Vertreibung von 300.000 Menschen während des Krieges noch immer mehr als eine Million Palästinenser in den 1967 besetzten Gebieten lebten, konnte Israel die Gebiete nicht direkt annektieren, ohne die jüdische Bevölkerungsmehrheit zu gefährden. So verlegte sich Israel auf eine Politik der schleichenden Annexion und versucht parallel dazu, die einheimische Bevölkerung möglichst zu reduzieren. Die Maxime wurde bereits Anfang der 1970er-Jahre von Verteidigungsminister Moshe Dayan ausgegeben: »Ihr sollt weiterhin leben wie Hunde und wer immer will, kann gehen – wir werden sehen, wohin dieser Prozess führt … In fünf Jahren haben wir vielleicht 200.000 Menschen weniger und das ist eine Sache von großer Bedeutung.«56

Den Palästinensern wird das Leben möglichst unerträglich gemacht, damit sie das Land verlassen. Die Mittel dazu sind die Zerstörung der Lebensgrundlagen, die Vorenthaltung und der Entzug von grundlegender Infrastruktur und Wasser, die breitflächige Konfiszierung von Land sowie die permanente Terrorisierung durch Siedler und Soldaten. Palästinensische Dörfer, die in den zur Annexion vorgesehenen Gebieten liegen, werden von Israel nicht anerkannt und wurden teilweise zu militärischen »Feuerzonen« erklärt. Die dort lebenden Palästinenser wurden dadurch zu »Illegalen«, die jederzeit vertrieben werden können. In einigen Teilen der Westbank haben die Palästinenser nur zehn oder 20 Liter Wasser pro Kopf und Tag zur Verfügung. Die Siedler hingegen konsumieren 400 Liter pro Kopf und Tag.57 Zu den wichtigsten Mitteln der Zerstörung der Lebensgrundlagen gehören die Häuserzerstörungen. Da Palästinenser so gut wie keine Baugenehmigungen bekommen, müssen sie illegal bauen. Das liefert Israel die Möglichkeit, die Häuser jederzeit abreißen zu können. 2016 wurden 1100 palästinensische Bauten abgerissen. Allein in Ost-Jerusalem ist ein Drittel aller palästinensischen Häuser, in denen mehr als 90.000 Menschen leben, von Zerstörung bedroht.58

Die palästinensische Wirtschaft wurde weitgehend ruiniert und auf die Bedürfnisse Israels zugeschnitten. Im Jahr 1970 machte die Landwirtschaft 35% des Bruttosozialprodukts aus, 1991 waren es nur noch 16%, 2016 sind es noch 5%. Bis Mitte der 1980er-Jahre verringerte sich die von Palästinensern landwirtschaftlich kultivierte Fläche um 40%. Da viele Palästinenser nicht mehr von ihrem Land leben konnten, mussten sie sich als schlecht bezahlte und weitgehend rechtlose Arbeiter in Israel verdingen. Anfang der 1990er-Jahre erwarben 36% der Palästinenser ihren Lebensunterhalt durch Arbeit in Israel. Die besetzten Gebiete wurden zu einem riesigen Markt für israelische Waren.59

Die Suche nach einer kollaborierenden einheimischen Elite

Zur Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung suchte Israel von Anfang an das Bündnis mit einheimischen Eliten. In den ersten Jahren der Besatzung vermochten die pro-jordanischen Eliten in der Westbank die Bevölkerung relativ ruhig zu halten. Doch Anfang der 1970er-Jahre setzte sich die plo als dominante Kraft durch. Die Kommunalwahlen von 1976, die von Pro-plo-Kandidaten gewonnen wurden, markierten einen Wendepunkt. Als Reaktion darauf verschärfte Israel sein Vorgehen gegenüber den Palästinensern. Auf die gewählten Bürgermeister von Ramallah (Karim Khalaf), al-Bireh (Ibrahim Tawil) und Nablus (Bassam Schaka‘a) wurden im Laufe des Jahre 1980 Sprengstoffanschläge verübt, bei denen letzterer beide Beine verlor. 1982 setzte Israel die Bürgermeister und Kommunalräte mehrerer Städte ab, was zu heftigen Konfrontationen mit der palästinensischen Bevölkerung führte. Parallel dazu setzte Israel ab 1981 mit den »Dorfligen« eine neue kollaborierende einheimische Verwaltung ein, die weitreichende Befugnisse bekam, darunter die zur Erteilung von Bau- und Reisegenehmigungen sowie das Recht, Waffen zu tragen und Verhaftungen vorzunehmen. Doch die »Dorfligen« scheiterten am Widerstand der Palästinenser. Die Konfrontation nahm fortlaufend zu und kulminierte in der 1. Intifada 1987–1993. Dieser Aufstand ging als »Intifada der Steine« in die Geschichte ein. Neben Methoden des zivilen Ungehorsams wurden größtenteils »weiche Waffen« wie Steine und Molotow-Cocktails eingesetzt. Fast 1500 Palästinenser und 185 Israelis wurden in diesem Aufstand getötet.

Der Oslo-Prozess 1993–2000

Der Massenaufstand der Palästinenser endete im September 1993 durch die Unterzeichnung der Oslo-Abkommen. Diese setzten die plo als einheimischen Vermittler zur Kontrolle der Bevölkerung und Gewährleistung der Sicherheit Israels ein. Zu diesem Zweck wurde 1994 die Palästinensische Autonomiebehörde (pa) gegründet, die begrenzte Selbstverwaltungsbefugnisse erhielt. Das Pariser Protokoll stellte sicher, dass die palästinensische Wirtschaft von der israelischen abhängig blieb. Israel trennte die palästinensische Bevölkerung ab, während es den größten Teil ihres Landes behielt. 1995 wurde die Westbank durch das Oslo ii-Abkommen in drei Zonen aufgeteilt. In Zone A (18%), den palästinensischen Städten, wo die Mehrheit der Palästinenser lebt, erhielt die pa die vollständige Kontrolle. In Zone B (20%) erhielt die pa die zivile Kontrolle, während Israel weiterhin für die Sicherheit verantwortlich ist. Faktisch dringt die israelische Armee jedoch regelmäßig in die palästinensischen Städte in Zone A ein. Zone A und B sind keine zusammenhängenden Gebiete, sondern unterteilt in 165 kleine Kantone, die von Zone C umgeben sind. In Zone C (62%), wo die meisten israelischen Siedler und nur sehr wenige Palästinenser leben, behielt Israel die vollständige Kontrolle.60 Dort intensivierte Israel nach der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen den Siedlungsbau und die Vertreibungsprozesse. In den Jahren 1993 bis 2000 verdoppelte sich die Anzahl der Siedler in der Westbank von 100.500 auf 191.600. Im gleichen Zeitraum beschlagnahmte Israel etwa 141 km² Land.61

Aus Protest gegen die Oslo-Abkommen eröffnete der aus den usa stammende Siedler Baruch Goldstein im Februar 1994 in der Ibrahimi-Moschee in al-Khalil/Hebron das Feuer auf betende Palästinenser, tötete 29 von ihnen und verletzte über 100 weitere. Israel nutzte das Massaker, um die Moschee zwischen Muslimen und Juden aufzuteilen und Teile der Altstadt, in der es mehrere zionistische Siedlungen gibt, für Palästinenser unzugänglich zu machen. Nach dem Massaker führten islamistische Organisationen mehrere Selbstmordattentate durch. 1995 wurde Ministerpräsident Rabin von einem national-religiösen Zionisten ermordet.

Die 2. Intifada 2000–2005

Fortgesetzter Landraub und Siedlungsbau sowie die Unzufriedenheit mit der Autonomiebehörde führten im Herbst 2000 zum Ausbruch der 2. Intifada. Der Auslöser war das Eindringen des israelischen Oppositionspolitikers und späteren Ministerpräsidenten Ariel Scharon auf den Haram al-Scharif/Tempelberg am 28. September in Jerusalem, wo die al-Aqsa-Moschee und der Felsendom liegen. Das war ein Bruch der seit Jahrzehnten geltenden Status-quo-Vereinbarung, der zufolge das Gelände muslimischer Kontrolle untersteht. Die al-Aqsa-Moschee ist nach Mekka und Medina das drittwichtigste Heiligtum des Islams. Für Palästinenser ist sie überdies ein Hauptsymbol ihres Kampfes um Befreiung und die Errichtung eines unabhängigen Staates mit der Hauptstadt Jerusalem. Israel erhebt ebenfalls Anspruch auf das Gelände. Die Proteste gegen das Eindringen Scharons unter dem Schutz von etwa 1000 Polizisten, bei denen mehrere Palästinenser getötet wurden, sprangen auf die Westbank, den Gazastreifen und die palästinensischen Gebiete innerhalb Israels über.

Aufgrund der brachialen Gewalt, mit der Israel versuchte, den Aufstand niederzuschlagen, militarisierte sich dieser innerhalb kurzer Zeit. Die Palästinenser führten bewaffnete Angriffe auf Siedler und Soldaten in der Westbank sowie Selbstmordattentate innerhalb der Grünen Linie durch. Zur Niederschlagung des Aufstands setzte Israel Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge ein und riegelte die palästinensischen Städte ab. Im Frühjahr 2002 besetzte die israelische Armee die Städte der Westbank, Präsident Arafat wurde in seinem Amtssitz belagert, das Flüchtlingslager Jenin weitgehend zerstört. Da Arafat sich geweigert hatte, sich an der blutigen Niederschlagung des Aufstandes zu beteiligen, wurde er nach und nach entmachtet. 2003 wurde Mahmoud Abbas, der Architekt der Oslo-Abkommens, der sich immer wieder gegen die Intifada ausgesprochen hatte, auf Druck der usa zum Stellvertreter Arafats ernannt. Im Herbst 2004 starb Arafat unter ungeklärten Umständen. Während der 2. Intifada wurden etwa 4000 Palästinenser und 1000 Israelis getötet.

Die 2. Intifada veränderte die Westbank grundlegend, sie wurde – wie der Gazastreifen – in ein großes Gefängnis verwandelt. Im Juni 2002 begann Israel mit dem Bau der Mauer und intensivierte den Prozess der territorialen Fragmentierung und »Bantustanisierung« der Westbank. Das Jordantal, das 30% der Fläche der Westbank ausmacht, wurde 2006 faktisch annektiert.62 Dort ist es Israel durch eine gezielte Vertreibungspolitik gelungen, die Palästinenser von 320.000 auf etwa 60.000 zu reduzieren. Die Städte Nablus und Jenin blieben bis 2007 abgeriegelt. Betreten oder verlassen werden durften sie nur mit israelischer Genehmigung.

Den Gazastreifen trennte Israel 2005 aus bevölkerungspolitischen Gründen von seinem Staatsgebiet ab. Völkerrechtlich ist es jedoch nach wie vor die Besatzungsmacht. Die palästinensische Bevölkerung der Westbank und des Gazastreifens wurde dadurch in zwei nicht miteinander verbundene »Bantustans« getrennt. Palästinenser aus dem Gazastreifen dürfen nicht in die Westbank oder nach Israel fahren und umgekehrt. Auch Palästinenser aus der Westbank brauchen für Besuche in Jerusalem oder Israel eine Genehmigung.

Von der Wahl der Hamas 2006 bis zu den Gaza-Kriegen 2008–2009/2012/2014

Nach gelungener Niederschlagung der Intifada wurden 2006 Parlamentswahlen abgehalten, die von der Hamas gewonnen wurden. Diese sprach sich klar gegen die Oslo-Abkommen und die Anerkennung Israels aus. Israel und dessen westliche und arabische Verbündeten verhängten eine Blockade gegen die gewählte Regierung. Im Gazastreifen scheiterte im Sommer 2007 ein von den usa in Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsapparat der pa initiierter Umsturzversuch. In der Westbank setzte der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas die gewählte Regierung ab, löste das Parlament auf und regiert seither per Dekret.63 Zum Ministerpräsidenten ernannte er den ehemaligen iwf-Angestellten Salam Fayyad, unter dessen Ägide 2007 ein neoliberales Umstrukturierungsprogramm eingeführt wurde. Seither regiert der iwf als eine Art »Schattenregierung« in der Westbank mit. Unter Führung des us-Generals Keith Dayton wurde gleichzeitig die palästinensische Polizei reformiert, um ihre Sicherheitsaufgaben im Dienste Israels besser erfüllen zu können.

Nach dem Scheitern des Umsturzversuches in Gaza verschärfte Israel 2007 die Blockade des Küstenstreifens und versuchte in drei Kriegen (2008/2009, 2012, 2014), die dort regierende Hamas zu stürzen oder zumindest zu schwächen. Beides misslang. In diesen Kriegen wurden fast 4000 Palästinenser getötet und breitflächige Zerstörungen – darunter die wirtschaftliche Infrastruktur, Schulen, Wohnhäuser und Krankenhäuser – angerichtet. Dennoch vermochte Israel in keinem der Kriege seine Kriegsziele zu erreichen. Stattdessen sind die militärischen Kapazitäten der Widerstandsorganisationen gewachsen. Seit dem 2. Krieg von 2012 wird jeder Krieg gegen den Gazastreifen mit kontinuierlichem Raketenbeschuss Tel Avivs und anderer israelischer Städte beantwortet.

Vom 3. Gaza-Krieg 2014 bis zur Mini-Intifada im Herbst 2015

In den Jahren nach der Niederschlagung der 2. Intifada intensivierte Israel fortlaufend den Siedlungsbau in der Westbank. Die immer größer werdende Anzahl von Siedlern führt zur kontinuierlichen Zunahme der Siedlergewalt gegen Palästinenser. Jeden Tag wird mindestens ein Palästinenser durch Siedlergewalt verletzt.

Im Sommer 2014 entführten und erschossen Palästinenser in der Gegend von al-Khalil/Hebron drei zionistische Siedler. Daraufhin überzog Israel die Westbank mit der größten Repressionskampagne seit der Niederschlagung der 2. Intifada. Ministerpräsident Netanjahu forderte auf Facebook zur Vergeltung auf; innerhalb der Grünen Linie fanden immer wieder »Tod-den-Arabern«-Demonstrationen statt. Im Juli 2014 entführten Siedler in Jerusalem den 16-jährigen Muhammad Abu Khdeir, flößten ihm gewaltsam Benzin ein und verbrannten ihn bei lebendigem Leib. Im Sommer 2015 steckten Siedler in dem Dorf Douma bei Nablus nachts das Wohnhaus einer Familie in Brand. Ein junges Ehepaar und sein 18 Monate alter Sohn starben. Nur dessen 4-jähriger Bruder überlebte mit schweren Verbrennungen.

Die zunehmende Siedlergewalt sowie die explosive Lage in Ost-­Jerusalem führten im Oktober 2015 zum Ausbruch eines Mini-Aufstandes (Habba Scha‘biyya) in der Westbank, der sich in Windeseile auch auf den Gazastreifen und die palästinensischen Gebiete innerhalb der Grünen Linie ausbreitete. Die Lage der Palästinenser in Jerusalem ist geprägt von Vertreibung, Armut, Siedlergewalt und zunehmenden israelischen Angriffen auf die islamischen Heiligtümer. Der Mini-Aufstand dauerte bis Frühjahr 2016 an. In diesem Zeitraum unternahmen Palästinenser parallel zu den täglichen Straßenschlachten zahlreiche militante und bewaffnete Angriffe auf zionistische Siedler und Soldaten. Träger des Aufstandes war die palästinensische Jugend, die nicht mehr an die falschen Friedensversprechungen glaubt und die Autonomiebehörde als »Agenten Israels« ablehnt. Die gewaltsamen Zusammenstöße sowie die militanten und bewaffneten Aktionen halten seitdem mit niedriger Intensität an. Die Legitimität der Autonomiebehörde hat einen Tiefpunkt erreicht. Zwei Drittel der Palästinenser betrachten sie als Last und nicht als Errungenschaft und ebenso viele fordern den Rücktritt von Mahmoud Abbas, dessen Amtszeit bereits 2009 abgelaufen ist.64

Die Vorbereitung der Annexion von Teilen der Westbank

Seit dem Amtsantritt von us-Präsident Donald Trump Anfang 2017 verstärkt Israel den Siedlungsbau. Bereits 2016 hatte es mit 2630 Siedlerwohnungen den Siedlungsbau um 40% im Vergleich zum Vorjahr erhöht. Im Januar 2017 wurde der Bau von über 3000 neuen Siedlerwohnungen bekannt gegeben. Im selben Monat kündigte Bildungsminister Naftali Bennett von der Jewish Home Party an, nach Trumps Amtseinführung einen Gesetzesentwurf zur Annexion der Siedlung Maale Adumim bei Jerusalem einbringen zu wollen. Das sollte der erste Schritt der Umsetzung eines Plans zur Annexion von Zone C der Westbank sein. Doch da Israel dafür wider Erwarten kein grünes Licht aus dem Weißen Haus bekam, wurde das Annexionsvorhaben vorerst zurückgestellt.65

Im Februar 2017 wurden 50 ohne Genehmigung auf palästinensischem Privatland errichtete Siedlungen nachträglich legalisiert. Im März bewilligte das Sicherheitskabinett den Bau der ersten neuen Siedlung seit den 1990er-Jahren. Im April erklärte Wohnungsminister Yoav Glant, dass es Pläne für 15.000 neue Siedlerwohnungen in Jerusalem gibt; und im Juni wurden Pläne für den Bau von 3000 weiteren Siedlerwohnungen in der Westbank bekannt.66

Die Erkenntnisse der Siedlerkolonialismus-Forschung zeigen, dass Landraub und Siedlungsbau erst dann aufhören, wenn die einheimische Bevölkerung weitgehend verdrängt ist oder aber, wenn deren Kampf stark genug geworden ist, um dem siedlerkolonialistischen Projekt eine Grenze zu setzen bzw. es zurückzurollen.

54. Patrick Wolfe, New Jews for Old: Settler State Formation and the Impossibility of Zionism in: Arena Journal No. 37/38, Fitzroy/Victoria 2012, S. 285-321

55. Human Rights Council, 22. Session, Report of the Independent Fact-Findung Mission to Investigate the Implications of the Israeli Settlements on the Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights of the Palestinian People Throughout the Occupied Palestinian Territory, includings East Jerusalem, S. 23

56. Jonathan Cook, Disappearing Palestine, London/New York 2008, S. 59

57. Btselem, Acting the Landlord: Israel‘s Policy in Area C, the West Bank, Juni 2013, S. 27ff, S. 59ff.; Human Rights Council, a.a.O., S. 17f

58. un Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Record Number of Demolitions in 2016; Casualty Toll declines, Reliefweb, 29.12.2016; un ocha opt, East Jerusalem Key Humanitarian Concerns, March 2011

59. Adam Hanieh, Lineages of Revolt, Chicago 2013, S.104ff.; White, a.a.O., S. 59f.

60. Siehe dazu die Landkarten im Anhang.

61. Centre on Housing Rights (cohre)/badil, Ruling Palestine. A History of the legally sanctioned Jewish-Israeli Seizure of Land and Housing in Palestine, May 2005, S. 140; Ben White, Israeli Apartheid. A Beginner‘s Guide, London/New York 2009, S. 59f.

62. Btselem, Israel has de facto annexed the Jordan Valley, 13.2.2006

63. Joseph Massad, Pinochet in Palestine, Electronic Intifada, 11.11.2006; David Rose, The Gaza Bombshell, Vanity Fair, 3.3.2008

64. Petra Wild, Ein Jahr nach dem Mini-Aufstand – Habba Scha‘biyya im besetzten Palästina, Inamo Jahrgang 23, Winter 2016, S. 27-30

65. The New Arab, Israeli Settlement Activity Increased by 40 Per Cent in 2016, 23.3.2017; The New Arab, Israel to Build Thousands New Settlement Homes, us silent, 1.2.2017; rt, Israel Minister Outlines Plan to Annex West Bank Settlement After Trump Takes Office, 5.1.2017; ap, us Warning to Israel signals Backpedaling by Trump, Ahram Online, 6.3.2017

66. The New Arab, Israel Plans 15.000 New Settlement Homes in Jerusalem, 28.4.20117; The New Arab, Israel Announces Plans for Thousands More Settlement Homes in the Occupied West Bank, 8.6.2017