Noch fünf Tage bis Weihnachten, und ich kann nicht schlafen. Vor dem billigen Einfachfenster in unserem Zimmer hängen weder Vorhänge noch Jalousien, und der blaue Mond nach Mitternacht fällt auf Augusts über den Bettrand hängenden Arm. Ich kann nicht schlafen, weil meine Matratze kratzt und nach Pisse riecht. Dad hat sie von Col Lloyd geschenkt bekommen, einem Aborigine, der mit seiner Frau Kylie und fünf Kindern fünf Häuser weiter wohnt, und deren Ältester, der zwölfjährige Ty, vor mir auf dieser orangefarbenen Schaumstoffmatratze geschlafen hat. Der Pissegeruch hindert mich zwar am Einschlafen, aufgewacht bin ich jedoch wegen des Plans.
»Gus, hörst du das?«
Gus sagt nichts.
Ein lang gezogener Klagelaut. »Huuuuuuuuuuuuu.«
Ich glaube, es ist Dad. Heute Abend trinkt er nicht, weil er ein dreitägiges Besäufnis hinter sich hat. Am ersten Tag hat er sich dermaßen weggeschossen, dass wir, ohne dass er ’s bemerkt hat, unters Wohnzimmersofa kriechen und die Schnürsenkel seiner Dunlop Volleys zusammenknoten konnten, während er im Fernsehen Der Texaner geguckt hat, sodass er, als er aufstehen wollte, um einen der vielen fiesen Nordstaatler zu beschimpfen, die törichterweise Clint Eastwoods Film-Ehefrau und deren Kind umgebracht haben, stumpf vornüberkippte und der Länge nach auf den Couchtisch knallte. Er fiel noch drei weitere Male hin, bevor ihm endlich aufging, dass seine Schnürsenkel verknotet waren, woraufhin er – inmitten eines größtenteils völlig unverständlichen Schwalls verwaschener Schimpfworte und mindestens dreißig »Sauhunden« – schwor, uns lebendig im Garten neben dem toten Macadamiabaum zu begraben. Wer ’s glaubt, schrieb August achselzuckend in die Luft, während er aufstand, um auf Creepshow umzuschalten, die auf Channel Seven lief. Am zweiten Tag seines Besäufnisses zog Dad sich Jeans und Hemd an und nahm – gestärkt und motiviert durch sechs große Gläser Cola-Rum und einen Spritzer Kölnischwasser – den 522er-Bus, ohne jedoch genau zu sagen, wohin er wollte. An diesem Abend kam er um zehn nach Hause, als wir uns auf Channel Nine gerade Stripes ansahen. Er kam zur Hintertür hereinmarschiert und ging schnurstracks zur Kommode, auf der das Telefon steht, das er nie abnimmt. Unter dem Telefon befindet sich die wichtige Schublade. So nennt er die Schublade, wo er wichtige Sachen aufbewahrt – unbezahlte Rechnungen, bezahlte Rechnungen, unsere Geburtsurkunden und seine Serepax-Tabletten. Dann zog er die Schublade auf und holte eine Hundekette heraus, die er sich gewissenhaft um die rechte Faust wickelte. Ohne uns beiden auf dem Sofa auch nur die geringste Beachtung zu schenken, machte er den Fernseher aus und löschte anschließend sämtliche Lichter im Haus. Dann ging er zum großen Fenster, zog die alten beigen Rüschenvorhänge zu und linste durch die Ritze dazwischen.
»Was ist los?«, fragte ich und mir wurde schlecht. »Dad, was ist los?«
Er setzte sich einfach im Dunkeln aufs Sofa und zog die Kettenleine in seiner Hand straff. Sein Kopf kippte ein paar Mal benommen zur Seite, dann taxierte er tief konzentriert seinen ausgestreckten linken Zeigefinger und führte ihn langsam zum Mund. »Schschschschsch«, zischte er. In dieser Nacht haben wir kein Auge zugemacht. August und ich ließen unserer Fantasie freien Lauf, stellten uns vor, welche gefährlichen Typen oder Organisationen er gegen sich aufgebracht haben musste, um dieses ganze Hundekettenfäustewickeln zu rechtfertigen – irgendeinen Schlägertypen im Pub, irgendeinen Muskelprotz auf dem Weg zum Pub, irgendeinen Killer auf dem Heimweg vom Pub, alle und jeden im Pub, Ninja, Yakuza, Joe Frazier, Sonny und Cher, Gott und den Teufel höchstpersönlich. August fragte sich, wie der Teufel wohl aussehen würde, wenn er vor unserer Tür stünde. Ich sagte, er würde hellblaue Flipflops tragen, einen Vokuhila mit Rattenschwanz und ein Balmain-Tigers-Cap, um seine Hörner zu verbergen. August meinte, der Teufel würde einen weißen Anzug mit weißen Schuhen tragen, er hätte weißes Haar und weiße Zähne und weiße Haut. August sagte, der Teufel würde aussehen wie Tytus Broz, und ich erwiderte, dieser Name käme mir vor wie etwas aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit und einem anderen Ort, an den wir nicht mehr gehörten. Wir gehörten jetzt nur noch in die Lancelot Street 5.
»Ein anderer Gus und Eli«, sagte er. »Ein anderes Universum«, sagte er.
Dad hat den ganzen nächsten Morgen auf dem Küchenboden neben der Tür zur Waschküche gesessen und wieder und wieder auf einem Kassettenrekorder »Ruby Tuesday« gehört, die Kassette zurückgespult und abgespielt, zurückgespult, abgespielt, zurückgespult, abgespielt, so lange, bis das Band sich verheddert hat und der wirre Bandsalat in seinen Händen lag wie ein Büschel gelockter brauner Haare. August und ich saßen am Küchentisch, aßen Weet-Bix und sahen zu, wie er sich vergeblich bemühte, das Band zu reparieren, es dabei aber zu einem immer heilloseren und unentwirrbaren Knäuel zusammenzog, was ihn schließlich nötigte, auf seine Phil-Collins-Kassetten zurückzugreifen – der einzige Augenblick im Laufe dieses dreitägigen Säuferalbtraums, an dem wir ernsthaft überlegt haben, wegen Kindeswohlgefährdung Kontakt mit dem Jugendamt aufzunehmen. Dieses schillernde und drastische Besäufnis gipfelte um elf Uhr morgens schließlich in einem beeindruckenden Schwall Blut-und-Galle-Kotze, die sich in hohem Bogen über den pfirsichfarbenen Linoleumboden ergoss. Anschließend schlief er so dicht an dem undefinierbaren Ausfluss seines Mageninhalts ein, dass es mir gelang, seinen Arm zu schnappen, den Zeigefinger gerade zu biegen, um ihn als Stift zu benutzen, und eine Botschaft zu hinterlassen, die er sehen würde, sobald er wieder zu sich kam. Ich zog und wischte den Zeigefinger durch die übel riechende Kotzlache und schrieb in Großbuchstaben eine Nachricht, die von Herzen kam: HOL DIR HILFE, DAD.
*
»Huuuuuuuuuuuuh.« Das Jaulen dringt durch den Spalt unter unserer Schlafzimmertür.
Dann ein verzweifeltes Rufen, heiser und vertraut.
»August«, ruft Dad aus seinem Zimmer.
Ich rüttle an Augusts Arm. »August«, sage ich.
Er rührt sich nicht.
»August«, ruft Dad. Aber seine Stimme klingt dünn und schwach. Mehr ein Jammern als ein Brüllen.
Im Dunkeln tapse ich zu seiner Zimmertür, knipse das Licht an, und meine Augen gewöhnen sich an die Helligkeit.
Er umklammert mit beiden Händen seinen Brustkorb. Er hyperventiliert. Presst zwischen kurzen scharfen Atemzügen Worte hervor.
»Ruf … einen … Krankenwagen«, keucht er.
»Was ist los, Dad?«, brülle ich.
Er schnappt nach Luft, aber vergeblich. Hechelt. Zittert am ganzen Körper.
Er stöhnt auf. »Huuuuuuuuuu.«
Ich jage durch den Flur zum Telefon, wähle dreimal die Null.
»Polizei oder Krankenwagen?«, fragt eine Frauenstimme in der Leitung.
»Krankenwagen.«
Sie stellt mich durch zu einer anderen Stimme.
»Um was für einen Notfall handelt es sich?«
Mein Vater stirbt, und ich werde nie irgendwelche Antworten aus ihm rauskriegen.
»Ich glaube, mein Vater hat einen Herzinfarkt.«
*
Die blinkenden Lichter des Krankenwagens treiben unsere Nachbarin auf die Straße, eine fünfundsechzigjährige Taxifahrerin namens Pamela Waters, deren sperriger Busen bei jedem Schritt aus ihrem rotbraunen Nachthemd zu hüpfen droht. Zwei Sanitäter hieven eine Trage aus dem Rettungswagen und stellen sie neben den Briefkasten.
»Ist alles in Ordnung, Eli?«, fragt Pamela Waters, während sie den seidenen Gürtel ihres Nachthemds enger zieht.
»Weiß nicht«, antworte ich.
»Wieder einer seiner Anfälle«, sagt sie bedeutungsschwanger.
Was zum Teufel meint sie damit?
Die Sanitäter, einer davon mit Sauerstoffflasche und Beatmungsmaske in der Hand, hasten an uns vorüber, die wir barfuß auf dem Gehsteig stehen, in weißen Unterhemden und Pyjamashorts.
»Er ist im Zimmer am Ende des Flurs«, rufe ich ihnen hinterher.
»Das wissen wir, Kleiner, der wird schon wieder«, sagt der ältere der beiden.
Wir gehen rein, stehen im Flur beim Wohnzimmer und lauschen den Sanitätern in Dads Schlafzimmer.
»Komm schon, Robert, immer schön atmen«, mahnt der ältere Sanitäter. »Los, Kumpel, du bist in Sicherheit. Dir kann nichts passieren.«
Das Geräusch von eingesogener Luft. Schweres Atmen.
Ich drehe mich zu August um. »Waren die schon mal hier?«
August nickt.
»So ist’s gut«, sagt der Jüngere der beiden. »So ist es doch besser, nicht?«
Dann schleppen sie ihn aus dem Schlafzimmer und den Gang hinunter, je einen Arm unter Dads Oberschenkeln, so wie die Forwards der Parramatta Eels die Halfs bei der Endspielfeier übers Spielfeld tragen. Sie hieven ihn auf die Trage, und Dad presst sich die Atemmaske aufs Gesicht, so fest wie die Lippen seiner großen Liebe.
»Alles in Ordnung, Dad?«, frage ich.
Und ich frage mich, wieso mich das überhaupt einen Dreck schert. Irgendetwas tief in mir drin, etwas Schlummerndes, zieht mich zu diesem durchgeknallten Säufer hin.
»Mir geht’s gut, Kumpel«, sagt er.
Ich kenne diesen Ton, erinnere mich an diese Zärtlichkeit in seiner Stimme. Mir geht’s gut, Eli. Mir geht’s gut, Eli. Ich werde mich immer an diese Szene erinnern. Wie er auf der Trage liegt. Mir geht’s gut, Eli. Mir geht’s gut. Der Klang seiner Stimme.
»Tut mir leid, dass ihr Jungs das mit ansehen musstet«, sagt er. »Ich bin im Arsch, Kleiner, ich weiß. Ich bin echt scheiße mit diesem Dad-Zeug. Aber ich krieg mich wieder auf die Reihe. Ich krieg mich wieder hin, weißt du.«
Ich nicke. Ich muss heulen. Ich will nicht heulen. Heul nicht, verdammt.
»Ist schon okay, Dad«, sage ich. »Ist okay.«
Die Sanitäter schieben ihn hinten in den Rettungswagen.
Dad nimmt einen tiefen Zug Sauerstoff, dann reißt er sich die Maske vom Gesicht.
»Im Kühlschrank is ’n tiefgefrorener Shepherd’s Pie, den könnt ihr euch morgen zum Abendessen warm machen«, sagt er.
Er nimmt noch einen Zug. Sein Blick fällt auf die glotzende Pamela in ihrem Nachthemd. Er saugt genügend Luft in seine Lungen, um laut zu sprechen.
»Mach doch ein verdammtes Polaroid, Pam«, bellt Dad, keuchend vor Anstrengung. Und dann, während die Sanitäter die Hecktüren des Krankwagens schließen, reckt er Pamela Waters den Mittelfinger entgegen.
*
Am nächsten Morgen stakst ein Ibis durch unseren Vorgarten. Er zieht den linken Fuß nach, der unten mit Angelschnur umwickelt ist, da, wo sein urzeitlicher schwarzer Klauenfuß beginnt. Der verkrüppelte Ibis. August beobachtet ihn durch das Wohnzimmerfenster. Er hat seinen Casio-Taschenrechner in der Hand, tippt ein paar Zahlen ein und dreht ihn auf den Kopf: IBIS.
Ich tippe 37134 ein und drehe ihn um: HEILE.
»Zum Abendessen bin ich wieder da«, sage ich. August starrt weiter unverwandt auf den Ibis. »Lass mir was vom Auflauf übrig«, sage ich.
Ich flitze die linke Rampe hinab, vorbei an der schwarzen Mülltonne. Dads altes Fahrrad lehnt an einem der Betonpfeiler, auf denen das Haus steht, direkt neben dem hellbraunen Zylinder für die Warmwasseranlage. Hinter dem Fahrrad unter dem Haus liegt Dads persönliche Müllkippe, seine ausgedehnte Sammlung alter kaputter Haushaltsgeräte: Waschmaschinen mit Motoren wie die bei QANTAS, auseinanderfallende Kühlschränke voller Rotrückenspinnen und Braunschlangen, ausrangierte Autotüren und – räder. Das Dickicht hinter dem Haus ist mittlerweile undurchdringlich, hoch aufragende strohfarbene Grashalme, so dick, dass ich mir vorstelle, wie sich Elefantenoberst Hathi und Mogli mühsam durchkämpfen und in Richtung des Big-Rooster-Restaurants an der Barrett Street davonstapfen. Ein Buschmesser wäre nötig, um es zu roden, oder ein versehentliches Feuer. Was für ein beschissenes Drecksloch. 377304. HOELLE.
*
Das Rad ist ein rostiges schwarzes 1976er-Malvern-Star »Sport Star«, made in Japan. Das Sitzpolster ist aufgeplatzt und kneift mir in die Arschbacken. Es fährt schnell, aber es würde noch schneller fahren, wenn Dad den Originallenker nicht irgendwann durch den eines 1968er-Schwinn-Damenrads ersetzt hätte. Die Bremsen funktionieren nicht, sodass ich meinen rechten Turnschuh zwischen Vorderrad und Vordergabel klemmen muss, um zu bremsen. Es hat geregnet. Und obwohl der Himmel grau ist, spannt sich ein Regenbogen über die Lancelot Street und verspricht jedem Bewohner einen Anfang und ein Ende in sieben strahlenden Farben. Rot und Gelb für Vivian Hipwood in der Lancelot Street 16 und ihr Baby, das an plötzlichem Kindstod gestorben ist und das sie sieben Tage lang weiter an- und ausgezogen und gestillt und ihm Babyrasseln vors blaue Gesichtchen gehalten hat. Rosa und Grün für die Nummer 17, wo der sechsundsechzigjährige Albert Lewin probiert hat, sich in seiner geschlossenen Garage zu vergasen, es aber nicht hinbekam, weil er dafür seinen ratternden Rasenmäher benutzen wollte, da er zwei Monate zuvor sein Auto verkaufen musste, um die Tierarztrechnung für seinen Boxer Jaws zu bezahlen, der zwei Tage, bevor Albert seinen grünen Victa-Mäher in die Garage schob, eingeschläfert wurde. Violett, Orange und Schwarz und Blau für all die Mums in der Lancelot Street, die samstagmorgens am Küchentisch ihre Winfield Reds qualmen und hoffen, dass ihre Kinder nicht die violetten, orangefarbenen und schwarzblauen Blutergüsse unter ihrem Make-up entdecken. Make-up, das verdeckt, vertuscht, verbirgt. Verdecker, Vertuscher, Verberger, allesamt. Und Lester Crowe in der Lancelot Street 32, der seiner schwangeren Freundin Zoe Penny dreizehnmal mit einer Heroinspritze in den Bauch gestochen hat, um seine ungeborene Tochter zu töten. Die Munk-Brüder in der 53, die ihren Vater an seinen Wohnzimmersessel gefesselt und ihm mit einem Tomahawk das halbe Ohr abgehackt haben. Wenn es im Sommer so heiß ist auf dieser endlos langen Straße und die Stadt Brisbane neuen Asphalt über die vor Frust aufbrechenden Schlaglöcher pappen lässt, klebt einem der Teer an den Dunlops wie Hubba-Bubba-Kaugummi, und trotz all der von Brighton und dem Mangrovensumpf in Shorncliffe herüberwehenden Moskitos reißen alle ihre Vorhänge auf. Die ganze Straße verwandelt sich in eine Theaterbühne, und all diese Wohnzimmer werden zu Fernsehern mit Fensterrahmen, in denen eine Live-Soap mit dem Titel Gott sei Dank gibt’s endlich Stütze gespielt wird, eine freche Comedy namens Reich mir mal das Hühnersalz, Schatz oder ein Polizeikrimi namens Die Farbe einer Zwei-Cent-Münze. Fäuste werden gereckt auf diesen Vorderfensterbühnen, Tränen vergossen, und zusammen wird gelacht. Buh. Bravo. Buh. Bravo.
»Hey, Eli.«
Es ist Shelly Huffman, die aus ihrem Schlafzimmerfenster lehnt und Zigarettenqualm zur Seite pustet. Ich klemme meinen Schuh ins Vorderrad, mache mitten auf der Straße kehrt und strample mit Dads klapprigem Malvern Star Shellys Auffahrt hoch. Das Auto ihres Dads steht nicht im Carport.
»Hey, Shelly«, sage ich.
Sie zieht an der Zigarette, haucht beim Ausatmen gekonnt Rauchringe in die Luft.
»Willste mal ziehen?«
Ich nehme zwei Züge und lasse den Rauch entweichen.
»Bist du allein?«, frage ich.
Sie nickt. »Die andern sind alle zum Kings Beach gefahren, um Bradleys Geburtstag zu feiern.«
»Wolltest du nicht mit?«
»Ich schon, Eli Bell, aber dieses olle Klappergestell hier«, sagt Shelly im breiten Amerikanisch einer alten Oma aus dem Wilden Westen, »das läuft nu mal nich mehr so gut auf Sand.«
»Also haben sie dich allein zu Hause gelassen?«
»Meine Tante kommt bald zum Babysitten«, sagt sie. »Ich hab Mum gesagt, ich würde die Hundepension an der Fletcher Street vorziehen.«
»Ich hab gehört, da gibt’s drei warme Mahlzeiten am Tag«, sage ich.
Sie lacht, drückt die Zigarette unter der Fensterbank aus und schnippt die Kippe über den Zaun in den Garten ihres Nachbarn.
»Hab gehört, die Sanis hätten deinen alten Herrn gestern Abend ins Krankenhaus gebracht«, sagt sie.
Ich nicke.
»Was war denn mit ihm los?«
»Weiß ich auch nicht so richtig«, sage ich. »Hat einfach zu zittern angefangen. Konnte nicht mehr reden und gar nichts. Hat keine Luft mehr gekriegt.«
»Panikattacke«, sagt sie.
»Was?«
»’ne Panikattacke«, erklärt sie beiläufig. »Mum hatte vor ein paar Jahren auch andauernd welche. Hatte ’nen ziemlichen Durchhänger damals, wollte nicht mehr vor die Tür, nie wieder, weil sie diese Panikattacken bekam, wenn sie unter Leute ging. Manchmal ist sie morgens aufgestanden, fühlte sich, als könnte sie Bäume ausreißen, und wollte mit uns allen ins Kino in die Toombul Shoppingtown fahren. Also haben wir uns voll rausgeputzt, doch sobald wir im Auto saßen, hat sie so einen Panikanfall gekriegt.«
»Und wie ist sie die losgeworden?«
»Die haben bei mir Muskelschwund festgestellt«, sagt sie. »Da musste sie damit fertigwerden.« Shelly zuckt die Achseln. »Schau, Eli, so was nennt man Perspektive«, erklärt sie. »Ein Bienenstich tut höllisch weh, bis dir jemand einen Kricketschläger über den Schädel zieht. Apropos Kricket, Lust auf ’ne Runde Tischkricket? Du darfst auch die Westindischen Inseln sein.«
»Nee, ich kann nicht«, sage ich. »Ich muss jemanden besuchen.«
»Ist das Teil deines geheimen Plans?«, lächelt sie.
»Du kennst meinen Plan?«
»Gus hat mir alles darüber in die Luft geschrieben«, sagt sie.
Das macht mich stinksauer. Ich schaue hoch in den grauen Himmel.
»Keine Angst, von mir erfährt keiner was«, sagt sie. »Aber ich glaube, du bist echt verrückt.«
Ich zucke die Schultern. »Schon möglich«, sage ich. »Mrs. Birkbeck glaubt das jedenfalls auch.«
Shelly rollt die Augen. »Mrs. Birkbeck hält uns alle für plemplem.«
Ich muss grinsen.
»Das ist wirklich totaler Irrsinn, Eli …«, sagt sie. Dann schenkt sie mir ihr hübsches Lächeln, aufrichtig und warmherzig. »Aber es ist auch ziemlich süß.«
Und einen Moment lang will ich meinen Plan hinschmeißen und reingehen und auf Shelly Huffmans Bett sitzen und Brettspiel-Kricket spielen, und wenn ihr Lieblingsschlagmann, der flotte Südafrikaner Kepler Wessels, einen Sechser schlägt und die kleine Kugellagerkugel in die linke Ecke des achteckigen grünen Filzfeldes, die mit der 6, kullert, dann könnten wir uns vor Freude umarmen, und weil ihre Familie weg ist und der Himmel grau, könnten wir rückwärts auf ihr Bett fallen und uns küssen, und vielleicht könnte ich den Plan dann für immer vergessen – Tytus Broz vergessen, Lyle vergessen, Slim vergessen und auch Dad und Mum und August – und den Rest meines Lebens einfach damit verbringen, mich um Shelly Huffman zu kümmern, während sie gegen diesen ungerechten und parteiischen Arschlochgott ankämpft, der Iwan Krol zwei starke Arme zum Töten gibt, Shelly Huffman aber nur zwei wacklige Beine, mit denen sie noch nicht einmal über den goldenen Strand von Kings Beach, Caloundra, laufen kann.
»Danke, Shelly«, sage ich, als ich das Fahrrad wieder aus der Auffahrt schiebe.
Und als ich davonsause, höre ich sie rufen: »Bleib so süß, wie du bist, Eli Bell.«
*
Lyle hat mir mal erzählt, die Hornibrook Bridge sei mit Beton von der Queensland Cement and Lime Company in Darra erbaut worden. Er sagte, die Hornibrook sei damals die längste über Wasser führende Brücke in der südlichen Hemisphäre gewesen. Sie ist über zweieinhalb Kilometer lang und verbindet den Küstenvorort Brighton mit der idyllischen Halbinsel von Redcliffe, Heimat der Bee Gees und des Redcliffe Dolphins Rugbyclub. Die Brücke hat zwei Buckel, unter denen der Bootsverkehr auf der Bramble Bay durchfahren kann, einen kurz hinter Brighton und einen kurz vor Redcliffe.
Ich kann die sumpfigen Mangroven rings um die Bramble Bay riechen, rieche sie im Wind, der das Malvern Star über die Brücke und über den ersten Buckel katapultiert. Lyle nannte sie immer die Hüpfe-Hubbel-Brücke, wegen der Hüpfer, die das Auto seiner Eltern immer gemacht hat, wenn sie in seiner Kindheit über den unebenen groben Teerschotter geholpert sind, der noch heute unter meinen Fahrradreifen knirscht.
Im Jahr 1979 wurde die Brücke für den Verkehr gesperrt, weil sie eine stabilere, breitere und hässlichere Brücke daneben gebaut haben. Heute benutzt kaum noch jemand die alte Hornibrook, außer ein paar Anglern, die Brassen, Weißfisch und Plattköpfe fischen, und den drei Jungs aus der Gegend, die dahinten Rückwärtssaltos von den Teakholzdielen machen, so schnell in die hohen und kabbeligen Fluten wirbeln, dass das Wasser bis hoch zum Eisengeländer spritzt, von dem die gelbe Farbe blättert.
Tropfen prasseln mir auf die Stirn, und ich weiß, ich hätte einen Regenmantel anziehen sollen, aber ich liebe den Regen auf meinem Kopf und den Geruch von Regen auf Asphalt.
Der Himmel verdunkelt sich, wird düsterer und düsterer, je näher ich der Mitte der Brücke komme. Dies ist unser üblicher Treffpunkt, also finde ich ihn hier, an der Betonkante, die langen Beine über den Rand baumelnd. In einem dicken grünen Regenmantel hockt er da, die Kapuze über den Kopf gezogen. Seine rote Fiberglasrute mit der alten Alvey-Holzrolle hat er zwischen Ellbogen und Hüfte geklemmt, beugt sich nach vorn und dreht sich eine Zigarette. Wegen der Kapuze kann er nicht sehen, wie ich hinter ihm anhalte, aber er weiß, dass ich es bin. Woher auch immer.
»Warum hast du denn keinen verdammten Regenmantel angezogen?«, fragt Slim.
»Ich hab einen Regenbogen über der Lancelot Street gesehen und dachte, mit dem Regen wär’s vorbei.«
»Mit dem Regen ist es nie vorbei, Kleiner«, sagt Slim.
Ich lehne das Fahrrad gegen das gelbe Geländer und schaue in den weißen Plastikeimer neben ihm. Im Eimer schwimmen zwei fette Brassen, harren völlig reglos ihres Schicksals. Ich setze mich neben ihn, schwinge wie er die Beine über den Brückenrand. Das Wattwasser unter unseren Füßen wogt auf und ab, wirft Kämme und Täler auf.
»Beißen die Fische denn auch bei Regen?«, frage ich.
»Da unten im Wasser regnet’s nicht«, sagt er. »Die Plattköpfe kommen sogar nach oben bei dem Wetter. In ’nem Fluss ist das natürlich was ganz anderes. Im Westen hab ich Goldbarsche gesehen, die bei Regen ganz verrückt geworden sind.«
»Woher weißt du, wenn ein Fisch verrückt wird?«
»Sie fangen an, über das Ende der Welt zu predigen«, kichert Slim.
Es regnet immer heftiger. Slim fischt eine zusammengerollte Courier-Mail aus seiner Angeltasche, faltet sie auf und reicht sie mir als Regenschutz.
»Danke«, sage ich.
Wir beäugen seine straffe Schnur, die in den Wellen der Bramble Bay auf und nieder wippt.
»Willst du die Sache immer noch durchziehen?«
»Ich muss, Slim«, sage ich. »Wenn sie mich sieht, wird sie ’s durchstehen. Das weiß ich.«
»Was, wenn das nicht reicht, Kleiner?«, fragt er. »Zweieinhalb Jahre sind ’ne lange Zeit.«
»Du hast doch selbst gesagt, dass die Knastzeit mit jedem neuen Morgen ein bisschen leichter wird.«
»Ich hatte keine zwei Kinder da draußen«, sagt er. »Für deine Mum fühlen sich zweieinhalb Jahre wie zwanzig von meinen an. Im Männertrakt sitzen hundert Kerle, die sich für die härtesten Burschen der Welt halten, weil sie fünfzehn Jahre abgerissen haben. Aber die Typen lieben nichts und niemanden, und nichts und niemand liebt sie, und das macht es ihnen leicht. Die ganzen Mums gegenüber, das sind die wirklich harten Kerle. Die wachen jeden Morgen auf und wissen, dass da so ein einsamer kleiner Scheißer wie du auf sie wartet, der sie liebt und geliebt werden will.«
Ich nehme die Zeitung vom Kopf, damit der Regen mir ins Gesicht schlagen und meine heißen Tränen verbergen kann.
»Aber was ist mit dem Mann am Telefon, Slim?«, sage ich. »Dad hält mich für irre. Dad sagt, ich hätte ihn mir nur ausgedacht. Aber ich weiß, was ich gehört habe, Slim. Ich weiß, was er gesagt hat. Weihnachten rückt immer näher, und Mum liebt Weihnachten, wie niemand sonst Weihnachten liebt. Glaubst du das, Slim? Glaubst du mir?«
Jetzt heule ich erst richtig los. So heftig wie der Regen, der aus den schwarzen Wolken auf uns niederprasselt.
»Ich glaub dir, Kleiner«, sagt er. »Aber ich glaube auch, dass dein Dad recht hat, wenn er nicht mit dir dahin geht. Du musst diese Welt nicht sehen. Und sie soll dich nicht dort sehen. Manchmal tut es dann nur noch mehr weh.«
»Hast du mit deinem Kumpel geredet?«, frage ich.
Er nickt, holt tief Luft.
»Was hat er gesagt?«
»Er würd’s machen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
»Was verlangt er als Gegenleistung?«, will ich wissen. »Ich werd ihn dafür bezahlen, Slim. Ich werd mich revanchieren, versprochen.«
»Nicht so hastig, Roadrunner«, sagt er.
Er holt die Schnur etwas ein, kurbelt dreimal an der alten Alvey-Rolle, behutsam und instinktiv.
»Hat einer angebissen?«
»Nur geknabbert.«
Noch eine Umdrehung, dann Stille.
»Er macht das nicht für dich«, sagt Slim. »Ich hab vor ’ner Ewigkeit mal auf seinen Bruder aufgepasst, als der ’ne lange Knaststrafe abgesessen hat. Er heißt George, und das ist alles, was du wissen musst. Er hat ’nen Früchtegroßhandel und beliefert seit zwölf Jahren den Männer- wie den Frauentrakt der Boggo Road mit Obst. Die Wärter kennen George und wissen, was er in den doppelten Böden unter den Wasser- und Honigmelonenkisten reinschmuggelt. Aber sie lassen sich natürlich gut dafür bezahlen, es nicht zu wissen. Nun, wie für jeden Einzelhändler draußen ist Weihnachten auch da drinnen ein einträgliches Geschäft für alle, die sich durch Knasthandel ein paar Scheine dazuverdienen wollen. Für gewöhnlich kann George vor den Feiertagen alle möglichen Geschenke reinbringen – Sexspielzeug, Weihnachtsgebäck, Schmuck, Drogen, Reizwäsche und Rudolph-Lichterketten, die rot aufleuchten, wenn man ihn an der Nase kitzelt. Was er allerdings in seinen zwölf Jahren lukrativer Knastschmuggelei noch nie reinbugsiert hat, ist ein abenteuerlustiger dreizehnjähriger Junge mit dem unbändigen Verlangen, am Weihnachtstag seine Mum zu sehen.«
Ich nicke. »Wahrscheinlich nicht«, sage ich.
»Wenn sie dich erwischen, Eli – und sie werden dich erwischen –, kennst du George nicht und hast auch noch nie von seinem Obstlaster gehört. Nicht ein Sterbenswörtchen, kapiert? Du nimmst dir ein Beispiel an deinem Bruder und hältst einfach die Klappe. Insgesamt fünf Lieferwagen werden an Heiligabend und am Weihnachtsmorgen dort rein- und wieder rausfahren, alle mit ihrer jeweiligen Sonderfracht an Bord. Ich garantiere dir, dass die Schließer dich ebenso schnell und unauffällig rausbefördern werden, wie du reingekommen bist. Die Wärter sind Letzten, die an die große Glocke hängen wollen, dass ein dreizehnjähriger Bursche erwischt wurde, wie er auf dem Gelände des Boggo-Road-Frauengefängnisses rumgeturnt ist. Wenn das rauskommt, sind sie noch viel mehr am Arsch als du. Die Presse kommt, die Jungs von der staatlichen Gefängnisaufsicht kommen, der Knasthandel bricht zusammen, und die Frau eines dieser Schließer kriegt nicht diesen tollen Mixmaster, von dem sie schon immer geträumt hat, und dann bekommt dieser Schließer nicht seine Sonntagmorgenpfannkuchen und alles, was dazugehört, du weißt schon, was ich meine, oder?«
»Meinst du Geschlechtsverkehr?«, frage ich.
»Ja, Eli, ich meine Geschlechtsverkehr.«
Er ruckelt zweimal an der Rute und beäugt argwöhnisch das obere Ende der Schnur, so, als würde er ihm nicht trauen.
»Hat er noch mal geknabbert?«, frage ich.
Slim nickt und holt die Schnur noch etwas weiter ein. Dann senkt er den Kopf auf die Brust, zündet sich eine Zigarette an und birgt sie in der hohlen Hand, damit sie nicht nass wird.
»Also, wo soll ich ihn treffen?«, frage ich. »Woher weiß George, wer ich bin?«
Slim bläst eine Rauchwolke in den Regen und greift in die Brusttasche des Flanellhemds unter seinem Regenmantel. Dann bringt er ein gefaltetes Stück Papier zum Vorschein.
»Er wird dich erkennen«, sagt er.
Slim hält den Zettel in den Händen und überlegt.
»Damals im Krankenhaus hast du mich nach dem Guten und dem Bösen gefragt, Eli«, sagt er. »Ich habe lange drüber nachgedacht. Hab mir echt ’ne Menge Gedanken gemacht. Ich hätte dir damals antworten sollen, dass es einzig und allein um eine Entscheidung geht. Nicht um die Vergangenheit oder Mütter und Väter und wo man herkommt. Nur um die eigene Entscheidung. Gut oder böse. Mehr nicht.«
»Aber du hattest nicht immer eine Wahl«, sage ich. »Als du klein warst, meine ich. Damals hattest du keine Wahl. Du musstest tun, was du tun musstest, und dann bist du auf einen Weg geraten, der dir wieder keine Wahl gelassen hat.«
»Ich hatte immer eine Wahl«, sagt er. »Und du hast heute auch eine Wahl, Kleiner. Du kannst diesen Zettel nehmen. Oder du kannst durchatmen. Du kannst die ganze Sache abblasen, einmal durchatmen, nach Hause radeln, deinem alten Herrn sagen, dass du dich drauf freust, den Weihnachtstag mit ihm zu verbringen, und aufhören, dich verrückt zu machen, weil du weißt, dass du den Knast nicht für deine Mutter absitzen kannst, denn genau das ist es, was du tust, mein Junge, du lebst mit ihr in diesem Gefängnis, und du wirst auch noch die nächsten zweieinhalb Jahre dort verbringen, wenn du nicht einen Augenblick Pause machst und durchatmest.«
»Ich kann nicht, Slim.«
Er nickt und streckt mir die Hand mit dem Zettel hin.
»Deine Entscheidung, Eli«, sagt er.
Ein regenbesprenkeltes Stück Papier. Nur ein kleiner Zettel. Nimm den Zettel. Nimm ihn.
»Wenn ich ihn nehme, bist du dann sauer auf mich?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er tonlos.
Ich nehme den Zettel, stopfe ihn mir in die Hosentasche, ohne zu lesen, was draufsteht. Dann blicke ich aufs Meer hinaus.
Slim schaut mich an. »Wir können uns nicht mehr treffen, Eli«, sagt er.
»Was?«
»Du darfst deine Zeit nicht mit einem alten Gauner wie mir verschwenden«, sagt er.
»Aber du hast doch gesagt, du wirst nicht sauer.«
»Ich bin nicht sauer«, sagt er. »Wenn du deine Mum sehen willst, dann ist das vollkommen in Ordnung, aber du musst mit dieser Gangster-Scheiße aufhören, verstehst du? Schluss damit.«
Mir schwirrt der Kopf. Meine Augen quellen über. Regen auf meinen Wangen und auf meinem Kopf und in meinen verheulten Augen.
»Aber du bist der einzige echte Freund, den ich habe.«
»Dann musst du dir eben ein paar neue zulegen«, sagt er.
Ich senke den Kopf. Lege mir die Fäuste an die Augen und drücke, drücke so fest, wie man auf eine Wunde drückt, um die Blutung zu stillen.
»Was wird denn dann mit mir, Slim?«
»Du wirst dein Leben leben«, sagt er. »Du wirst all die Dinge tun, von denen ich immer nur geträumt habe. Du wirst die Welt sehen.«
Mir wird kalt. Tief in mir drin, so kalt.
»Du bist kalt, Slim«, sage ich unter Tränen.
Ich bin so wütend. Tief in mir drin, so wütend.
»Ich glaub, du hast den Taxifahrer doch ermordet«, schluchze ich. »Du bist ein kaltblütiger Killer. Kalt wie eine Schlange. Ich glaub, du hast Black Peter nur überlebt, weil du kein Herz hast wie wir anderen.«
»Vielleicht hast du ja recht«, sagt er.
»Du bist ein beschissener Mörder«, brülle ich ihn an.
Von der Lautstärke überrascht, kneift er die Augen zusammen.
»Beruhige dich«, sagt er und späht die Brücke entlang, doch niemand ist in Hörweite. Alle sind gegangen. Irgendwann muss jeder mal gehen. Alle fliehen vor dem Regen. Niemand kommt mehr her. So kalt, da drinnen.
»Du hast alles verdient, was du gekriegt hast«, speie ich ihm entgegen.
»Das reicht, Eli«, sagt er.
»Du bist ein beschissener Lügner«, kreische ich.
Dann brüllt Slim zurück, und ich habe ihn noch nie brüllen gehört.
»Es reicht, verdammt noch mal!«, bellt er. Doch vom Schreien muss er röcheln und bekommt einen Hustenanfall. Er hebt den linken Arm zum Mund und hustet in seine Armbeuge, ein kehliges rasselndes Keuchen, direkt aus der Lunge, so als wäre nichts mehr in ihm außer alten Knochen und der schwarzen Erde aus Black Peter. Er atmet tief und röchelnd ein, dann würgt er einen Schleimklumpen hervor, der zwei Meter rechts von ihm neben ein paar weggeworfenen Sardinen landet. Langsam beruhigt er sich.
»Ich hab ’ne Menge schlimme Dinge getan«, krächzt Slim. »Und ich hab sie viel zu vielen Leuten angetan. Ich habe nie behauptet, ich hätte die Strafe nicht verdient, die sie mir aufgebrummt haben, Eli. Ich habe nur gesagt, dass ich diesen Mord nicht begangen habe. Aber ich hab genug angestellt, und Gott wusste, was ich alles gemacht habe, und er wollte, dass ich über ein paar dieser anderen Sachen nachdenke, und das habe ich auch getan, Kleiner. Hab meine Zeit abgesessen und über alles bis ins Kleinste nachgedacht. Und du musst das jetzt nicht auch noch tun, Junge. Du solltest an Mädchen denken, Eli. Du solltest dran denken, was mal aus dir werden soll. Wie du aus diesem Drecksloch rauskommst, in dem du wohnst, da drüben in Bracken Ridge. Hör auf, die Geschichten anderer Leute zu erzählen, sondern kümmer dich zur Abwechslung mal um deine eigene.«
Er schüttelt den Kopf. Starrt hinaus aufs grünbraune Meer.
Plötzlich biegt sich die Spitze seiner Rute nach unten. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Schweigend studiert Slim die Rute. Dann reißt er sie in einer peitschenden Bewegung jäh zurück, und sie wölbt sich wie der Regenbogen, den ich über der Lancelot Street gesehen habe.
»Hab ich dich«, sagt er.
Der Regen prasselt auf uns nieder, und wegen der raschen Bewegung bricht Slim wieder in wildes Husten aus. Er reicht mir die Angelrute, um seinen Anfall in den Griff zu bekommen. »Plattkopf«, japst er zwischen den Keuchern. »Mordsding, um die zehn Pfund.« Er hustet noch drei Mal. »Hol ihn für mich ein, okay?«
»Was?«, frage ich. »Ich kann doch nicht …«
»Hol ihn einfach ein, verdammt«, bellt er, die Hände auf die Knie gestützt, und hustet irgendein giftiges Teufelszeug empor, eine Mischung aus Schleim und schwarzem Pech. Und Blut. Da ist Blut in seiner Spucke, und es klatscht auf den Schotter der Brücke, und der Regen spült es weg, aber es kommt immer mehr davon. Es gibt keine grellere Farbe als die von Slim Hallidays rotem Blut. Fieberhaft spule ich die Rolle auf, werfe den Kopf hin und her zwischen dem Meer und dem Blut vor Slims Füßen. Meer und Blut. Meer und Blut.
Der Plattkopf zerrt wie irre an der Schnur, schwimmt um sein Leben. Doch ich halte dagegen, drehe noch beharrlicher an der Alvey, vollführe lange, ruhige Kreise wie damals an der Kurbel unserer rostigen Wäschespinne hinterm Haus in Darra.
»Ist echt ein Riesenvieh, Slim!«, schreie ich in einer Mischung aus Ehrfurcht und Erregung.
»Bleib ganz ruhig«, röchelt er zwischen zwei Hustenkrämpfen. »Gib ihm ein bisschen Leine, wenn du glaubst, dass er sich losreißt.«
Erst als ich ihn stehen sehe, fällt mir auf, wie dünn er geworden ist. Klar war er immer dünn, slim eben, spindeldürr. Jetzt bräuchte Arthur Halliday einen neuen Spitznamen, aber der Ausgemergelte Halliday klingt einfach ziemlich dämlich.
»Was glotzt du so?«, keucht Slim vornübergebeugt. »Hol das Monster ein!«
Ich kann spüren, wie der Plattkopf nach rechts und links durchs Wasser zischt. Kopflos. Panisch. Er folgt mir eine Weile, folgt dem Zug des Widerhakens in seinem Maul, als hätte ihm eine göttliche Eingebung gesagt, dass dies sein vorbestimmter Weg sei, dass die Sardine und der Haken und die Gezeiten in der Bramble Bay seit jeher das Endziel all seines Strebens und Überlebens auf dem Meeresboden seien. Doch dann kämpft er. Schwimmt mit aller Kraft davon, und der Knauf der Alvey-Rolle schlägt mir in den Handballen.
»Scheiße«, kreische ich.
»Kämpf gegen ihn«, hechelt Slim.
Ich zerre an der Rute und kurble gleichzeitig an der Rolle. Spule sie mit langen und gleichmäßigen Bewegungen auf. Rhythmisch. Zielstrebig. Unerbittlich. Das Ungetüm wird müde, aber ich ebenso. Slims Stimme hinter mir.
»Kämpf weiter«, sagt er leise und bricht wieder in Husten aus.
Ich kurble und kurble, und der Regen schlägt mir ins Gesicht, und die Welt scheint mir plötzlich so nahe, jedes kleine bisschen davon, jedes einzelne Molekül. Der Wind. Der Fisch. Das Meer. Und Slim.
Das Ungetüm gibt ein wenig nach. Ich kurble noch kraftvoller, sehe, wie er sich der Oberfläche nähert, auftaucht wie ein russisches U-Boot.
»Slim, er kommt! Gleich kommt er raus!«, johle ich euphorisch. Er ist gut und gerne achtzig Zentimeter lang. Nicht zehn, sondern eher fünfzehn Pfund schwer. Ein außerirdischer Monsterfisch, olivgrün, nichts als Muskeln, Rückgrat und die Heimtücke eines Plattkopfs. »Guck dir den an, Slim«, kreische ich verzückt. Ich spule so hastig an der Alvey, dass ich damit Feuer machen könnte, ein Feuer, um das Ungetüm zu grillen, es in Alufolie einzupacken und am schlammigen Ufer der Mangroven drüben auf der Redcliffe-Seite zu braten und zu essen. Und als Nachtisch gibt es gegrillte Marshmallows in Milo gestippt. Der Plattkopf erhebt sich aus den Fluten, und meine Rute und Schnur gleichen einem Kran, der seine wertvolle Fracht einen Wolkenkratzer emporhievt; mein Ungetüm schwebt durch den dunklen Himmel, und dieser Bewohner des Meeresgrundes spürt zum ersten Mal den Regen auf der Haut, erhascht zum ersten Mal das Universum über dem Ozean, mein strahlendes Gesicht, die Augen groß vor Glück und Wunder.
»Slim! Slim! Ich hab ihn, Slim!«
Aber ich höre Slim überhaupt nicht. Meer und Blut. Meer. Und Blut.
Ich reiße mich vom Fisch los, drehe mich wieder zu Slim um. Er liegt flach auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, Augen geschlossen.
»Slim.«
Der Plattkopf schwingt seinen stachligen sehnigen Körper in die Luft und kappt mit einem Biss die Schnur.
All dies wird mich an diesen Moment erinnern: meine Tränen und wie die rauen Stoppeln seines unrasierten Gesichts an meiner Wange schaben. Die ungelenke Art, wie ich dahocke, weil ich nicht ans Sitzen denke, sondern nur an ihn. Und dass ich im Regen nicht erkennen kann, ob er atmet oder nicht. Das Blut auf seinen Lippen, das Blut, das ihm übers Kinn läuft. Der Duft von White-Ox-Drehtabak. Die kleinen Kiesel aus dem Brückenschotter, die sich in meine Knie bohren.
»Slim«, schluchze ich. »Slim«, brülle ich. Die Art, wie ich in meiner jämmerlichen Verwirrtheit vor- und zurückwippe. »Nein, Slim. Nein, Slim. Nein, Slim.«
Der Klang meines dummen, atemlosen weinerlichen Brabbelns. »Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe.«
Und die Art, wie der Monsterfisch zurück ins grünbraune Meer taucht, hinab ins Hochwasser der Bucht, nachdem er einen Blick auf das Universum darüber geworfen hat.
Er wollte es nur einen Augenblick lang sehen. Ihm gefiel nicht, was er sah. Er mochte den Regen nicht.