JUNGE STIEHLT MEER

Die Inschrift auf der Gedenktafel lautet: Audrey Bogut, 19121983, liebende Ehefrau von Tom, Mutter von Therese und David. Ein Leben wie ihres hinterlässt der Erinnerungen so viele, dass sich ewiglich drin schwelgen lässt.

Einundsiebzig Jahre, die Audrey Bogut hier verbringen durfte.

Auf der Tafel daneben steht: Shona Todd, 19061981, geliebte Tochter von Martin und Mary Todd, Schwester von Bernice und Phillip. Den Kelch des Lebens nahm sie in die Hände, genoss die Süße bis zum Ende.

Fünfundsiebzig Jahre für Shona Todd.

»Komm schon, es geht gleich los«, sage ich zu August.

Wir gehen in eine kleine Backsteinkapelle mitten auf dem Gelände des Albany-Creek-Krematoriums. Winter 1987. Neun Monate seit dem Beginn meines großen Zeitraffer-Experiments.

Slim hatte recht. Es ist nur Zeit, mehr nicht. Neunundreißig Autominuten von unserem Haus in Bracken Ridge zum Krematorium. Zwanzig Sekunden, um mir den Schuh zu binden. Drei Sekunden, die August braucht, um sich das Hemd in die Hose zu stecken. Fast einundzwanzig Monate, bis Mum rauskommt. Ich werde immer besser darin, die Zeit zu manipulieren, kann sie nach Gutdünken dehnen und beschleunigen. Ich werde dafür sorgen, dass sich einundzwanzig Monate wie einundzwanzig Wochen anfühlen. Der Mann in dem Holzsarg hat es mir beigebracht.

Siebenundsiebzig Jahre hat Slim gebraucht, um zu sterben. Einen Großteil der letzten sechs Monate hat er im Krankenhaus verbracht, während der Krebs in alle Ecken und Winkel seines baumlangen Körpers gekrochen ist. Ich habe ihn besucht, sooft ich konnte. In der Schulzeit. Zwischen Schule und Fernsehen am Nachmittag. Zwischen meinem Erwachsenwerden und seinem Abschiednehmen. Seine letzte große Flatter.

Das Ende einer ära, lautete die Schlagzeile des Telegraph, den Dad mir gestern in die Hand drückte. Mit dem Tod von Arthur Ernest »Slim« Halliday (77) im Redcliffe Hospital ging diese Woche ein fesselndes Kapitel in der Kriminalgeschichte Queenslands zu Ende.

Hier in der Kapelle steht die Zeit still. Kein Laut dringt von den wenigen Trauergästen, die um den Sarg herumstehen, ein paar Männer in Anzügen, niemand kennt irgendjemand anderen hier.

Ich greife in die Hosentasche und taste nach dem Zettel mit den letzten Worten, die Slim mir je aufgeschrieben hat. Die Nachricht unter der Anweisung, wie und wo ich den geheimnisvollen Gefängnisschmuggler George und seinen Obstlaster finden würde.

Schnapp dir die Zeit, bevor sie dich schnappt.

Dein Freund, auf ewig, Slim

Schnapp dir die Zeit, Eli Bell, bevor sie dich schnappt.

Ein Krematoriumsmitarbeiter sagt ein paar Worte über das Leben und die Zeit, aber ich bekomme nichts davon mit, weil ich selbst über das Leben und die Zeit nachdenke. Und dann wird Slims Sarg fortgebracht.

Es ist schnell vorüber. Schnell ist gut.

Als wir aus der Kapelle treten, spricht uns ein alter Mann in schwarzem Anzug und Krawatte an.

»Woher kanntet ihr denn Slim, Jungs?«, fragt er mit freundlicher, warmherziger Miene und Mickey-Rooney-Lächeln.

»Er war unser Babysitter«, sage ich.

Der Mann nickt, wirkt aber verwundert.

»Und woher kannten Sie Slim?«, frage ich den Mann im schwarzen Anzug.

»Er hat eine Weile bei mir und meiner Familie gewohnt«, antwortet der Alte.

Und da wird mir klar, dass Slim auch noch andere Leben gelebt hat. Dass es andere Sichtweisen gab. Andere Freunde. Andere Familien.

»Es ist nett von euch, zu kommen und ihm die letzte Ehre zu erweisen«, sagt der alte Mann.

»Er war mein bester Freund«, sage ich.

Der Alte lacht in sich hinein. »Meiner auch«, sagt er.

»Wirklich?«, frage ich.

»Ja, wirklich«, erwidert der alte Mann. »Aber mach dir nichts draus«, flüstert er. »Ein Mann kann viele beste Freunde haben, und keiner davon ist besser oder schlechter als die anderen.«

Wir stiefeln über den Rasen vor dem Krematorium, auf einem Friedhof hinter der Kapelle trostlose und einförmige Reihen grauer Grabsteine.

»Glauben Sie, er hat diesen Taxifahrer getötet?«, frage ich.

Der Alte zuckt die Schultern. »Ich habe ihn nie gefragt«, sagt er.

»Aber Sie wissen es doch bestimmt, oder?«, frage ich. »Man bekommt doch ein Gespür für so etwas. Ihr Instinkt oder so würde Ihnen doch gesagt haben, ob er ’s war.«

»Was meinst du denn mit ›Instinkt‹, Junge?«

»Ich war mal in der Nähe von ’nem Typen, der ’ne Menge Leute umgebracht hat, und mein Instinkt hat mir gesagt, dass er ’ne Menge Leute umgebracht hat«, sage ich. »Mir ist so ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, und da wusste ich ’s einfach.«

Der alte Mann bleibt wie angewurzelt stehen. »Ich habe ihn allein aus Achtung nie danach gefragt«, sagt er. »Ich habe diesen Mann geachtet. Wenn er diesen Mord nicht begangen hat, dann achte ich ihn umso höher – und Gott hab ihn selig. Wenn Slim Halliday bei mir war, ist es mir nie kalt den Rücken runtergelaufen. Und wenn er ’s doch getan hat, dann ist er ein verdammtes Musterbeispiel für ’ne gelungene Resozialisierung.«

Ja, so kann man es auch ausdrücken. Danke, geheimnisvoller alter Mann.

Ich nicke.

Der alte Mann steckt die Hände in die Hosentaschen und marschiert davon in Richtung Friedhof. Ich blicke ihm nach, wie er die Reihen von Grabsteinen entlangschreitet, so unbeschwert, als wäre seine Seele leicht wie eine Feder, die leichteste Seele, die je ein Mensch besaß.

August steht gebeugt da und studiert an einer anderen Wand die goldenen Gedenktafeln für Verstorbene.

»Ich muss mir einen Job suchen«, sage ich.

August blickt über die Schulter, sieht mich fragend an. Warum?

»Wir müssen Mum eine Wohnung besorgen, wenn sie entlassen wird.«

August widmet sich wieder einer der Tafeln.

»Los, Gus!«, drängle ich im Weggehen. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

*

An jenem Tag, als ich von der Mauer des Frauengefängnisses fiel, landete ich direkt in den Armen der Wärter. Was ich ihnen noch immer hoch anrechne, ist, dass sie sich mehr um meine Geistesverfassung sorgten, als mich für meine Eskapaden ins Gebet zu nehmen.

»Glaubste, der is übergeschnappt?«, wunderte sich der jüngere Schließer, der mit dem fuchsroten Bart und den Sommersprossen an den Oberarmen. »Was sollen wir denn mit dem machen?«, fragte der Rotfuchs seinen Kollegen.

»Lass Muzza anrufen«, schlug der zweite Schließer vor.

Die zwei Wärter nahmen mich fest in ihre Mitte, jeder packte einen Arm, und dann schleiften sie mich den Rasen hinauf zu den beiden anderen. Der Ältere und Erfahrenere der beiden wirkte völlig aus der Puste und nicht mehr imstande, einen Teenager über den Gefängnishof zu jagen.

In einem Büro der Gefängnisverwaltung wurde ich anschließend Zeuge einer Strategiesitzung von Vollzugsbeamten – wenn diese mir auch vorkamen wie vier frühe Neandertaler beim Versuch, die Spielregeln von Twister zu kapieren.

»Der könnte uns echt tief in die Scheiße reiten, Muz«, sagte der stämmigste der Wärter.

»Sollen wir den Direktor anrufen?«, wollte der Rotschopf wissen.

»Wir werden den Direktor nicht anrufen«, sagte der Mann, den sie Muzza nannten, manchmal auch Muz, oder, was ihm am wenigsten gefiel, Murray. »Er wird schon früh genug Wind davon kriegen. Er hat genauso viel zu verlieren wie wir, wenn die Sache rauskommt. Wir müssen ihn nicht anrufen, während er mit Louise am Esstisch sitzt und seinen Weihnachtsbraten spachelt.«

Muzza ließ sich die Sache eine Weile durch den Kopf gehen. Dann beugte er sich zu mir hinab und sah mir in die Augen.

»Du hast deine Mum sehr lieb, nicht wahr, Eli?«, fragte er.

Ich nickte.

»Und du bist ein helles Bürschchen, nicht wahr, Eli?«, fragte er.

»Nicht helle genug, wie ’s aussieht«, entgegnete ich.

Muz lachte glucksend auf. »Wo du einen drauf lassen kannst«, sagte er. »Aber du bist helle genug, um zu wissen, was an einem Ort wie diesem geschehen kann, wenn man uns das Leben schwer macht. Das weißt du doch, oder?«

Ich nickte.

»Nachts können hier jede Menge schlimme Dinge passieren, Eli«, sagte er. »Wirklich furchtbare Dinge. Dinge, die du dir gar nicht vorstellen kannst.«

Ich nickte.

»Na dann erzähl mir mal, wie du Weihnachten verbracht hast.«

»Ich war bei meinem Bruder und meinem Dad und hab Dosenananas von St. Vinnies gegessen.«

Muz nickte. »Fröhliche Weihnachten und der ganze Scheiß, Eli Bell«, sagte er.

Der rothaarige Schließer, der, wie sich herausstellte, Brandon hieß, fuhr mich mit seinem Wagen nach Hause, einem lila Commodore, Baujahr 82. Die ganze Fahrt über hörten wir auf Kassette 1984 von Van Halen. Ich wollte mit gereckter Faust zum pumpenden Beat von »Panama« abrocken, aber da Brandon mich mit Handschellen an die linke hintere Armlehne gekettet hatte, waren meine Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt.

»Hau rein, Eli«, sagte Brandon, als er mich losmachte und mich auf meinen eigenen Wunsch hin drei Häuser vor unserem in der Lancelot Street rausließ.

Auf Zehenspitzen schlich ich mich zur Tür hinein und fand August schlafend auf dem Wohnzimmersofa, Papillon aufgeschlagen auf seiner Brust. Aus Dads Zimmer wogte Zigarettenrauch in den Flur. Unter dem traurigsten Weihnachtsbaum, der je geschmückt worden war, lag ein in Zeitungspapier eingewickeltes Geschenk, rechteckig wie ein Buch. Auf der Verpackung, mit Filzstift quer darübergekritzelt, stand Eli. Ich riss das Papier auf. Es war kein Buch. Es war ein Stoß Papier, vielleicht 500 leere Din-A4-Seiten.

Auf der ersten Seite stand eine kurze Widmung.

Um das Haus niederzubrennen oder die Welt in Brand zu stecken. Du hast die Wahl, Eli.

Frohe Weihnachten. Dad.

*

Zu meinem vierzehnten Geburtstag schenkte er mir einen weiteren Stapel Papier, zusammen mit einer Ausgabe von Schall und Wahn, weil ihm aufgefallen war, dass meine Schultern breiter wurden, und er der Meinung war, um Faulkner zu lesen, brauche ein junger Mann nun mal breite Schultern.

Auf eines dieser Blätter schrieb ich meine Liste möglicher Tätigkeiten in Fahrradnähe, mit denen August und ich genügend verdienen könnten, um eine Anzahlung für ein Haus im Gap, dieser grünen Oase im Westen Brisbanes, zu leisten, in das Mum nach ihrer Entlassung würde einziehen können:

· Pommes-frites-Frittierer im Big-Rooster-Imbiss in der Barrett Street

· Regalauffüller im Foodstore-Lebensmittelmarkt in der Barrett Street mit der Kühltheke, wo wir an den heißesten Sommertagen immer rumhängen und uns streiten, bei welchem Eis man am meisten für sein Geld bekommt – Hava Heart, Bubble O’ Bill oder dem unübertroffenen Geniestreich, dem Paddle-Pop-Bananen-Stieleis

· Austräger für die verrückten Russen, denen der Zeitungskiosk in der Barrett Street gehört

· Bäckergehilfe in der Bäckerei neben dem Zeitungskiosk

· Den Taubenschlag vom alte Bill Ogden in der Playford Street ausmisten (letzter Ausweg)

Während ich mit meinem blauen Kilometrico-Kuli aufs Papier tippe, lasse ich mir sämtliche Optionen noch einmal durch den Kopf gehen. Dann schreibe ich in Anbetracht meiner begrenzten Berufserfahrung eine weitere hinzu:

· Drogendealer

*

Es klopft an der Haustür. Das passiert so gut wie nie. Das letzte Mal, dass jemand an die Vordertür geklopft hat, war vor drei Monaten, als ein junger Polizeibeamter Dad wegen eines Vorfalls vor drei Jahren befragen wollte, bei dem er einigen Müttern aus der Nachbarschaft zufolge in betrunkenem Zustand das Stoppschild vor dem Kindergarten in der Denham Street umgenietet hatte.

»Mr. Bell?«, fragte der junge Beamte.

»Wer?«, antwortete Dad.

»Ich würde gern mit Robert Bell reden«, sagte der Polizist.

»Robert Bell?«, überlegte Dad. »Nee, den Namen hab ich noch nie gehört.«

»Und wie heißen Sie, Sir?«, sagte der Polizist.

»Ich?«, erwiderte Dad. »Ich bin Tom.«

Der Polizist zückte seinen Notizblock.

»Darf ich fragen, wie Sie mit Nachnamen heißen, Tom?«, fragte der Polizeibeamte.

»Joad«, versetzte Dad.

»Wie schreibt sich das?«, fragte der Polizist.

»Joad wie toad«, erklärte Dad.

»Also … J O A D?«, wiederholte der Polizeibeamte.

Dad erschauderte.

Ein Klopfen an der Tür bedeutet in diesem Haus stets etwas Dramatisches.

August lässt seinen Papillon aufs Sofa fallen – er hat das Buch schon zweimal gelesen – und hechtet zur Haustür. Ich folge ihm dicht auf den Fersen.

Es ist Mrs. Birkbeck. Sozialarbeiterin unserer Schule. Roter Lippenstift. Rote Perlenkette. In der Hand eine Aktenmappe voller Unterlagen.

»Hallo, August«, sagt sie liebevoll. »Ist dein Vater da?«

Ich schüttle den Kopf. Sie ist hier, um die Welt zu retten. Sie ist hier, um Ärger zu machen, weil sie viel zu scheißernst und selbstgefällig ist, um zu kapieren, dass der schmale Grat zwischen Fürsorge und Vernachlässigung nur so groß ist wie ein fünf Zentimeter langer Dorn in deinem Arschloch.

»Er schläft«, sage ich.

»Könntest du ihn für mich wecken, Eli?«, fragt sie.

Ich schüttle abermals den Kopf, drehe mich dann aber um und trotte durch den Flur zu Dads Schlafzimmer.

Er liegt in Shorts und blauem Muskelshirt auf dem Bett und liest Patrick White, eine Selbstgedrehte im Mundwinkel.

»Mrs. Birkbeck ist an der Tür«, sage ich.

»Wer zum Teufel ist Mrs. Birkbeck?«, krächzt er.

»Die Sozialarbeiterin unserer Schule«, sage ich. Er verdreht die Augen, springt vom Bett und drückt die Zigarette aus. Dann keucht er einen braunen Placken Tabakrotz empor, um den Hals frei zu bekommen, und spuckt ihn in den Aschenbecher auf dem Bett.

»Magst du sie?«, fragt er.

»Sie meint es gut«, sage ich.

Dann stapft er durch den Flur zur Haustür.

»Hi«, sagt er. »Robert Bell.«

Er lächelt, und in diesem Lächeln liegt eine solche Liebenswürdigkeit, eine Sanftheit, die ich noch nie gesehen habe. Er streckt die Hand aus, und ich glaube, dass ich auch das noch nie erlebt habe, noch nie gesehen habe, wie er jemandem ganz normal die Hand gibt. Ich dachte, August und ich wären die Einzigen, mit denen er einigermaßen menschlich kommunizieren kann, wenn auch nur durch Nicken und Grunzen.

»Poppy Birkbeck, Mr. Bell«, sagt sie. »Ich bin die für Ihre Jungs zuständige Sozialberaterin der Schule.«

»Ja, Eli hat mir schon viel von Ihnen und all den wunderbaren Ratschlägen erzählt, die Sie meinen Jungen geben«, sagt er.

So ein gottverdammter Lügner.

Für einen Moment wirkt Mrs. Birkbeck ernsthaft gerührt. »Ach, hat er das?«, erwidert sie und sieht mich mit glühend roten Wangen an. »Nun, Mr. Bell, ich glaube, Ihre Jungen sind etwas ganz Besonderes. Ich glaube, sie haben großes Potenzial, und ich möchte ihnen helfen, dieses Potenzial auszuschöpfen, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen.«

Dad lächelt und nickt. Nächtliche Panikattacken. Suizidal-depressive Phasen. Dreitägiges Komasaufen. Von Fäusten aufgerissene Augenbrauen. Gallige Kotze. Dünnschiss. Braune Pisse. Das ist unsere Wirklichkeit.

»Bildung des Geistes ohne Bildung des Herzens ist keine Bildung«, erklärt Dad.

»Genau!«, staunt Mrs. Birkbeck.

»Aristoteles«, fügt er mit ernster Miene hinzu.

»Ja!«, sagt Mrs. Birkbeck. »Das Zitat ist so etwas wie mein Lebensmotto.«

»Dann machen Sie so weiter, Poppy Birkbeck, inspirieren Sie diese Burschen – und helfen Sie ihnen, ihr Potenzial auszuschöpfen«, sagt Dad voller Inbrunst.

Wer zur Hölle ist dieser Typ?

»Aber sicher.« Sie lächelt ergriffen. »Das verspreche ich Ihnen.« Dann reißt sie sich wieder zusammen. »Hören Sie, Robert, darf ich Sie Robert nennen?«

Dad nickt.

»Ähm … die Jungs waren heute schon wieder nicht in der Schule und … ähm …«

»Das tut mir leid«, unterbricht Dad sie. »Ich habe die Jungs zur Beerdigung eines alten Freundes gefahren. Die letzten Tage waren nicht leicht für sie.«

Sie schielt zu August und mir herüber. »Wohl eher die letzten Jahre, wenn ich es richtig verstehe«, sagt sie.

Dad, August und ich nicken betroffen, als wären wir in so einem kranken Vorabendfilm.

»Könnte ich einen Moment mit Ihnen reden, Robert?«, fragt sie. »Unter vier Augen, wenn das ginge?«

Dad holt tief Luft und nickt. »Na, dann macht euch mal dünne, ihr beiden, okay?«, sagt er.

Folgsam schlurfen wir die Rampe neben dem Haus hinunter, vorbei an der Warmwasseranlage und einigen von Dads vor sich hin rostenden Geräten. Kurz darauf tauchen wir ab, huschen unters Haus und schlängeln uns durch Dads Sammlung ausrangierter und kaputter Waschmaschinen und Kühlschränke. Der Platz unter dem Haus wird immer enger, je höher der Boden darunter in Richtung Wohnzimmer und Küche ansteigt. Mit schlammverkrusteten Knien kriechen wir bis in die linke obere Ecke der Fläche unter dem Haus, bis wir direkt unter der Küche hocken, wo Dad und Mrs. Birkbeck am achteckigen Tisch sitzen und über uns sprechen, jenem Tisch, an dem er für gewöhnlich volltrunken ins Koma fällt, sobald er seine Alleinerziehendenstütze eingestrichen hat. Durch die Ritzen in den Dielen können wir jedes Wort hören.

»Ganz im Ernst, die Arbeiten, die August einreicht, sind wirklich brillant«, sagt Mrs. Birkbeck. »Seine Kunstfertigkeit, seine Originalität und Begabung zeugen von echtem Talent, aber er … er …« Dann hält sie inne.

»Sprechen Sie ruhig weiter«, sagt Dad.

»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagt sie. »Beide Jungen bereiten mir Sorgen.«

Ich hätte ihr nie auch nur ein Wort sagen dürfen. Das Wort »Verräterin« stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Darf ich Ihnen etwas zeigen?«, schallt Mrs. Birkbecks Stimme durch die Ritzen. August liegt rücklings auf der groben Erde. Er lauscht zwar, interessiert sich aber nicht im Geringsten für das, was er hört. So wie er daliegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, könnte er ebenso gut strohhalmkauend am Ufer des Mississippi liegen und faulenzen.

Aber mich interessiert es.

»Das Bild hier hat August letztes Jahr im Kunstunterricht gemalt«, sagt sie.

Dann hört man eine Weile nichts.

»Und die hier …«, man hört das Rascheln von Papier in ihren Händen, »sind von Anfang dieses Jahres, und diese hat er erst letzte Woche gemalt.«

Wieder langes Schweigen.

»Wie Sie sehen können, Mr. Bell … ähm … Robert … scheint August wie besessen von dieser einen Szene. Nun ist es jüngst zu einer kleinen Meinungsverschiedenheit zwischen August und seiner Kunstlehrerin Miss Prodger gekommen, denn obwohl Miss Prodger August für einen ihrer begabtesten und eifrigsten Schüler hält, weigert er sich schlichtweg, ein anderes Motiv zu zeichnen als dieses hier. Letzten Monat sollten die Schüler ein Stillleben anfertigen, aber August hat diese Szene gemalt. Im Vormonat sollten sie ein surrealistisches Bild zeichnen, und August hat das hier gemalt. Letzte Woche lautete die Aufgabe, eine australische Landschaft darzustellen. August hat wieder das Gleiche gemalt.«

Ungerührt starrt August auf die Holzdielen.

Dad schweigt beharrlich.

»Unter normalen Umständen würde ich niemals das Vertrauen eines Schülers missbrauchen«, sagt sie. »Ich betrachte mein Büro als einen heiligen Ort des Teilens, Heilens und Lehrens. Manchmal nenne ich ihn sogar meine Schatzkammer, und nur ich und meine Schüler kennen das Losungswort, das ihnen Einlass gewährt. Und dieses Losungswort lautet ›Respekt‹.«

August verdreht die Augen.

»Aber wenn ich das Gefühl habe, die Sicherheit von Mitgliedern unserer Schulgemeinschaft steht auf dem Spiel, dann fühle ich mich verpflichtet, etwas zu sagen.«

»Wenn Sie glauben, August könnte jemandem was antun, dann sind Sie auf der falschen Fährte, fürchte ich«, sagt Dad. »Dieser Junge tut niemandem was zuleide, der ’s nicht verdient hat. Er tut gar nichts Unüberlegtes. Rührt nicht mal den kleinen Finger, ohne vorher aberhundertmal drüber nachgedacht zu haben.«

»Wie interessant, dass Sie das sagen«, meint sie.

»Was habe ich denn gesagt?«, entgegnet Dad.

»Aberhundert Mal«, sagt sie.

»Nun, er ist eben ein großer Denker«, sagt Dad.

Wieder herrscht Schweigen.

»Es sind nicht die anderen Schüler, um die ich mir Sorgen mache, Robert«, sagt sie. »Ich bin fest davon überzeugt, dass August und all die Gedanken, die er in seinem bemerkenswerten Kopf hin und her wälzt, allein für ihn selbst eine Gefahr darstellen.«

Ein Stuhlbein schabt über den Holzboden der Küche.

»Kennen Sie diese Szene?«, fragt sie.

»Klar, ich weiß, was er so malt«, sagt Dad.

»Eli nannte es den Mondsee«, meint sie. »Haben Sie ihn jemals davon sprechen hören, vom Mondsee?«

»Nein«, sagt Dad.

August funkelt mich an. Was hast du ihr erzählt, Eli, du Scheißverräter?

Ich flüstere: »Ich musste ihr irgendwas sagen. Sonst wäre ich von der Schule geflogen.«

August sieht mich an. Du hast dieser durchgeknallten Hexe vom Mondsee erzählt?

»Als der Schuldirektor, Mr. Gardner, mir von den jüngsten Vorkommnissen im Leben der Jungen erzählte, hielt ich es für ganz normal, dass sich die Folgen dieser traumatischen Ereignisse in irgendeiner Form in ihrem Verhalten niederschlagen würden«, erklärt Mrs. Birkbeck auf der anderen Seite der Holzdielen. »Ich glaube, beide leiden unter einer Art posttraumatischer Belastungsstörung.«

»Wie jetzt? Meinen Sie so was wie ’ne Kriegsneurose?«, fragt Dad. »Denken Sie etwa, die Jungs wären im Krieg gewesen, Mrs. Birkbeck? Glauben Sie denn, die wären gerade von der Somme heimgekehrt, Mrs. Birkbeck?«

Er verliert allmählich die Geduld.

»Nun, in gewisser Weise schon«, sagt sie. »Zwar kein Krieg der Bomben und Geschosse. Aber ein Krieg der Worte, Erinnerungen und traumatischer Momente, die für die Psyche eines Heranwachsenden ebenso zerstörerisch sein können wie die Erlebnisse an der Westfront.«

»Wollen Sie mir etwa erzählen, dass die beiden durchgeknallt sind?«, fragt Dad.

»Das behaupte ich doch gar nicht«, erwidert sie.

»Klingt, als hielten Sie die Jungs für plemplem«, sagt er.

»Was ich damit sagen möchte, ist, dass einige der Dinge, die in ihren Köpfen vor sich gehen, sagen wir mal … ungewöhnlich sind«, erklärt sie.

»Welche Dinge?«

August sieht mich an. Was glaubst du, wieso ich nie jemand anderem davon erzählt habe, Eli?

»Dinge, die gefährlich für beide sein könnten«, sagt Mrs. Birkbeck. »Dinge, die ich wegen einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls dem Jugendamt melden müsste.«

»Jugendamt?«, speit Dad so verächtlich, als würden die Worte seine Zunge verätzen.

August starrt mich an. Du hast alles kaputt gemacht, Eli. Schau, was du angerichtet hast. Konntest deine Klappe nicht halten, oder? Konntest nicht diskret sein.

»Ich habe das Gefühl, die beiden planen irgendetwas«, sagt Mrs. Birkbeck. »Ich befürchte, sie könnten auf einer gefährlichen Reise sein, deren Ziel niemand von uns kennt, bevor es zu spät ist.«

»Reise?«, stutzt Dad. »Dann erzählen Sie mir doch bitte schön, wo sie hinwollen, Mrs. Birkbeck. Nach London, Paris, zum Pferderennen nach Birdsville?«

»Ich meine damit nicht unbedingt einen geografischen Ort«, sagt sie. »Ich meine, sie sind unterwegs zu gewissen Orten in ihrer Psyche, die für Teenager gefährlich sein können.«

Dad lacht. »Und das lesen Sie alles aus Augusts kleinen Aquarellen hier?«, fragt er.

»Haben Ihre Jungen je Anzeichen suizidalen Verhaltens gezeigt, Robert?«, fragt Mrs. Birkbeck.

August schüttelt augenrollend den Kopf. Ich halte mir kichernd den Lauf einer unsichtbaren Pistole unters Kinn und blase mir das Hirn raus. August gluckst und erhängt sich mit rausgestreckter Zunge an einem imaginären Strick.

»Eli meint, August würde seine Träume malen«, sagt Mrs. Birkbeck. »Der Mondsee stamme aus Elis Träumen. Und dass er in ihm tiefe Empfindungen von Angst und Dunkelheit wecke. Eli sagt, er könne sich immer bildhaft und in allen Einzelheiten an den Traum erinnern, Robert. Hat Eli je mit Ihnen über seine wiederkehrenden Träume gesprochen?«

August hält einen Zweig in der Hand, den er in kleine Stücke bricht. Er schmeißt mir eins davon an den Kopf.

»Nein«, sagt Dad.

»Er kann sich mit bemerkenswerter Deutlichkeit an seine Träume erinnern«, sagt sie. »Sie sind voller Gewalt, diese Träume, Robert. Wenn er mir von manchen dieser Träume erzählt, kann er mir den Klang der Stimme seiner Mutter beschreiben, den Anblick von Blutstropfen auf dem Holzboden eines Hauses, den Geruch von Dingen. Aber ich habe ihm gesagt, dass man in Träumen nichts riechen kann. Dass Träume keinen Ton haben. Und ich habe Eli gebeten, diese Träume in Zukunft als das zu bezeichnen, was sie sind.«

Langes Schweigen.

»Und was sind sie?«, fragt Dad.

»Erinnerungen«, meint Mrs. Birkbeck.

August kritzelt etwas in die Luft. Das Jugendamt lehrt August schaudern.

August schreibt weiter: Lehrt Eli, nie was auszuplaudern.

»Eli sagte, zwei Tage, nachdem das Auto in den Mondsee gefahren sei, habe Frances Sie verlassen«, sagt Mrs. Birkbeck.

»Warum wollen Sie diese ganze Scheiße wieder aufwühlen?«, fragt Dad. »Den Jungs geht es gut. Sie kommen drüber weg. Aber sie können nicht nach vorn schauen, wenn Sorgentanten wie Sie ständig den ganzen alten Mist hochzerren, Sachen verdrehen und ihnen Dinge einreden, die wahrscheinlich nur in Ihrem eigenen Kopf passiert sind, Mrs. Birkbeck.«

»Eli hat gesagt, Sie hätten die Jungen in den Mondsee gefahren, Robert.«

Der Traum fühlt sich so anders an, wenn sie es sagt. Sie haben die Jungen in den Mondsee gefahren. Er hat uns wirklich in den Mondsee gefahren. Niemand sonst. Er muss es gewesen sein. Wir saßen hinten und haben rumgerauft, uns aufeinandergeschmissen, bis die Wucht einer Kurve einen von uns in die Wagentür gepresst hat.

»Ich mag Ihre Söhne, Robert«, sagt Mrs. Birkbeck. »Und ich bin hier, weil ich ihnen zuliebe hoffe, dass Sie mich überzeugen können, dem Jugendamt nicht zu melden, dass August und Eli Bell in Angst leben – in Angst vor ihrem einzigen Erziehungsberechtigten.«

Ich erinnere mich an den Traum. Erinnere mich an die Erinnerung. Es war Nacht, und das Auto bog scharf von der Straße ab, holperte über den Schotter und durch hohe Gummibäume, die an meinem Fenster vorüberflogen, so als würde Gott in Zeitraffer eine Diashow meines Lebens ablaufen lassen.

»Es war eine Panikattacke«, sagt Dad. »Ich leide unter Panikattacken. Krieg sie andauernd. Hatte schon als Kind welche.«

»Ich glaube, Eli denkt, Sie hätten es mit Absicht getan«, sagt Mrs. Birkbeck. »Ich glaube, er denkt, Sie wären in jener Nacht absichtlich von der Straße abgekommen.«

»Das hat seine Mutter auch geglaubt«, sagt Dad. »Wieso, glauben Sie, hat sie sich damals verpisst?«

Langes Schweigen.

»Es war ein Panikanfall«, keucht Dad. »Fragen Sie doch die Cops in Samford, wenn Sie mir nicht glauben.«

Samford. Klar. Samford. Es war irgendwo auf dem Land. Es muss Samford gewesen sein. Bäume und Hügel überall. Die Räder sind über die Kuhlen und Senken im Hang gerumpelt. Ich hatte genug Zeit, um nach vorn zu Dad zu schauen. »Mach die Augen zu«, sagte er.

»Ich wollte mit ihnen rausfahren, zu den Cedar Creek Falls«, sagt Dad.

»Wieso wollten Sie nachts zu den Wasserfällen fahren?«, will Mrs. Birkbeck wissen.

»Spielen Sie jetzt Polizistin oder was?«, fragt Dad. »Das gefällt Ihnen, nicht?«

»Was?«

»Dass Sie mich total in der Hand haben.«

»Wie genau habe ich Sie denn in der Hand?«

»Weil Sie mir die Jungs wegnehmen können. Sie müssen nur ein Kästchen ankreuzen«, sagt Dad.

»Es ist nun mal meine Aufgabe, schwierige Fragen zu stellen – wenn diese schwierigen Fragen dem Wohlergehen meiner Schüler dienen«, sagt Mrs. Birkbeck.

»Oh, natürlich. Sie dienen Ihrer Schule ja so aufopferungsvoll, so voller Mitgefühl«, spottet Dad. »Und dann nehmen Sie mir meine Jungen weg und reißen sie auseinander und nehmen ihnen damit das Einzige, was sie aufrechterhält, ihren Bruder, und später erzählen Sie Ihren Freundinnen bei einer Flasche Chardonnay vom Margaret River, wie Sie zwei Jungen vor ihrem Monstervater gerettet haben, der sie einmal fast ersäuft hätte, und dann werden die beiden von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht, bis sie sich vor Ihrem Haus wiedertreffen, mit Benzinkanistern in der Hand, und sie werden Ihnen dafür danken, dass Sie Ihre Nase in unsere Angelegenheiten gesteckt haben, indem Sie Ihnen das Haus abfackeln.«

Mach die Augen zu. Ich schließe die Augen. Und ich sehe den Traum. Ich sehe die Erinnerung. Das Auto rumpelt über die Kante eines Damms – eines kleinen Stausees hinter irgendeiner Farm im ländlichen Samford, in den grünen Hügeln am Westrand Brisbanes –, und dann fliegen wir.

»Die Jungen haben das Bewusstsein verloren«, sagt Mrs. Birkbeck.

Dad antwortet nicht.

»Es war ein Wunder, dass irgendjemand überlebt hat«, sagt sie. »Die Jungen waren ohnmächtig, aber Sie haben die beiden irgendwie herausgezogen?«

Das Zauberauto. Der fliegende himmelblaue Holden Kingswood.

Dad seufzt auf. Sein Seufzer dringt durch die Ritzen zu uns hinab.

»Wir wollten campen gehen«, sagt Dad. Er lässt lange Pausen zwischen den Sätzen. Um zu überlegen und an seiner Kippe zu ziehen. »August hat es geliebt, unter freiem Himmel zu schlafen. Liebte es, beim Schlafen zum Mond hochzugucken. Ihre Mutter und ich hatten damals ein paar … Probleme.«

»Sie ist Ihnen davongelaufen?«

Stille.

»Ja, so könnte man es wohl nennen.«

Stille.

»Ich schätze, ich hatte den Kopf zu voll mit den ganzen Sachen«, sagt Dad. »Ich hätte nicht Auto fahren dürfen. Direkt vor ’nem unübersichtlichen Buckel in der Cedar Creek Road hab ich den großen Tatterich gekriegt, und hinter dem Buckel lag ’ne unübersichtliche Kurve. Man konnte die Straße kaum erkennen. Und mein Hirn war wie Brei.«

Langes Schweigen.

»Ich hatte Glück«, sagt Dad. »Die Jungs hatten ihre Fenster runtergekurbelt. August hatte sein Fenster immer auf, um raus zum Mond zu gucken.«

August macht keinen Mucks.

Der Mond scheint auf das schwarze Wasser des Stausees in meinem Kopf. Der Vollmond, der sich im Wasser spiegelt. Der Staudamm. Dieser verdammte Damm. Der verdammte Mondsee.

»Der Kerl, dem das kleine Häuschen neben dem See gehörte, kam gleich rausgerannt«, höre ich Dad über uns erzählen. »Er hat mir geholfen, die Jungs rauszuziehen.«

»Und sie waren bewusstlos?«

»Ich dachte schon, ich hätte sie verloren.« Dads Stimme bebt. »Sie waren wie tot.«

»Sie haben nicht mehr geatmet?«

»Nun, das ist das Seltsame an der Geschichte, Mrs. Birkbeck«, sagt Dad.

August schmunzelt. Ihm gefällt die Geschichte. Er nickt wissend mit dem Kopf, als kenne er sie längst, doch ich weiß, das ist unmöglich. Ich weiß, dass er sie noch nie gehört haben kann.

»Ich hätte schwören können, dass sie nicht mehr geatmet haben«, sagt Dad. »Hab versucht, sie wiederzubeleben, hab sie wie wild geschüttelt, damit sie wieder aufwachen. Aber ich konnte sie einfach nicht wach kriegen. Und dann hab ich losgeschrien, den Himmel angebrüllt wie ein Verrückter, und als ich wieder runter in ihre Gesichter schau, sind sie wach.«

Dad schnippt mit den Fingern. »Einfach so«, sagt er. »Plötzlich waren sie wieder da.«

Er zieht an seiner Zigarette. Atmet aus.

»Als die Sanis endlich aufgetaucht sind, hab ich sie gefragt, und sie meinten, die Jungs hätten wahrscheinlich unter Schock gestanden. Meinten, dann wär’s verdammt schwierig, den Puls zu finden und ihren Atem zu spüren, weil der Körper so kalt und taub ist.«

»Was halten Sie von der Erklärung?«, fragt Mrs. Birkbeck.

»Ich halte gar nichts von gar nichts, Mrs. Birkbeck«, erwidert Dad aufgebracht. »Es war eine Panikattacke. Ich hab Scheiße gebaut. Und seit dieser Nacht ist keine Minute vergangen, in der ich nicht wünschte, ich könnte diesen Wagen wieder zurück auf die Cedar Creek Road lenken.«

Langes Schweigen.

»Ich glaube, auch August hat nie aufgehört, an diese Nacht zu denken«, sagt Mrs. Birkbeck.

»Was meinen Sie damit?«, fragt Dad.

»Ich glaube, dass diese Nacht tiefe Spuren in Augusts Psyche hinterlassen hat.«

»August war bei jedem Psychologen in Südost-Queensland, Mrs. Birkbeck«, sagt Dad. »Er ist von Leuten wie Ihnen seit Jahren begutachtet, getestet und angeglotzt worden, und keiner von denen hat je was anderes gesagt, als dass er ein ganz normaler Bursche wär, der einfach nicht gern redet.«

»Er ist ein schlauer Junge, Robert. Schlau genug, um den Psychologen nicht das zu erzählen, was er seinem Bruder erzählt.«

»Und das wäre?«

Ich drehe mich zu August um. Er schüttelt den Kopf. Eli. Eli. Eli. Dann schiele ich zu den Bodenbrettern empor, die übersät sind von Nachrichten und Kritzeleien, mit denen August und ich uns mit Edding hier verewigt haben. Ein Yeti auf einem Skateboard. Mr. T im DeLorean DMC-12 aus Zurück in die Zukunft. Eine erbärmliche Aktskizze von Jane Seymour, deren Brüste aussehen wie runde Mülltonnendeckel. Eine Witzesammlung mit dämlichen Kalauern: Ich habe mich gewundert, warum der Ball immer größer wurde, bis er mich traf. Der Banker wollte den Stand meiner Einlagen überprüfen, also schubste er mich um. Ich wollte erst gar nicht glauben, dass Dad die Dampfwalze gekauft hatte, aber dann war ich wirklich platt.

»Wieso hat er aufgehört zu sprechen?«, fragt Mrs. Birkbeck.

»Keine Ahnung«, sagt Dad. »Er hat’s mir noch nicht gesagt.«

»Eli hat er erzählt, er würde nicht sprechen, weil er Angst habe, er könne sein Geheimnis preisgeben«, sagt sie.

»Was für ein Geheimnis?«, stößt Dad hervor.

»Haben die Jungs Ihnen je etwas von einem roten Telefon erzählt?«, fragt sie.

August tritt mich gegen das Schienbein. Du Schwachmat.

Langes Schweigen.

»Nein«, sagt Dad.

»Robert, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber August hat Eli eine Reihe beunruhigender Dinge erzählt«, sagt Mrs. Birkbeck. »Traumatische Dinge, die, wie ich glaube, selbst Auswirkungen eines Traumas sind. Die potenziell gefährlichen Gedanken eines intelligenten Jungen mit einer lebhafteren Fantasie, als gut für ihn wäre.«

»Ältere Brüder erzählen den jüngeren immer ’ne Menge Unsinn«, sagt Dad.

»Aber Eli glaubt das alles, Robert. Eli glaubt es, weil August es glaubt.«

»Glaubt was?«, fragt Dad entnervt.

Ihre Stimme wird zu einem Flüstern, das durch den Dielenboden nur noch schwach zu uns herabdringt.

»Nun, mir scheint, August ist davon überzeugt, dass er … ähm … ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll … ähm … Er glaubt, er wäre damals im Mondsee ertrunken, in jener Nacht«, sagt sie. »Er glaubt, er wäre gestorben und zurückgekehrt. Und meiner Ansicht nach glaubt er auch, er wäre bereits zuvor gestorben und zurückgekehrt. Möglicherweise glaubt er sogar, er wäre schon etliche Male gestorben und zurückgekehrt.«

Langes Schweigen in der Küche. Dann hören wir, wie Dad sich eine Zigarette ansteckt.

»Und anscheinend hat er Eli erzählt, er glaube, dass es nun noch andere Augusts gebe, an anderen … Orten

»An anderen Orten?«, wiederholt Dad.

»Ja«, sagt Mrs. Birkbeck.

»An was für Orten?«

»Nun ja, an Orten jenseits unserer Vorstellungkraft. Orten am anderen Ende der Leitung dieses roten Telefons, von dem die Kinder ständig reden.«

»Was denn für ein Scheißtel… äh, Verzeihung … was für ein rotes Telefon?«, dröhnt Dad, mit seiner Geduld spürbar am Ende.

»Die Jungen sagen, sie würden Stimmen hören. Die Stimme eines Mannes im Hörer des roten Telefons.«

»Ich habe keinen verfluchten Schimmer, was Sie da faseln.«

Mrs. Birkbeck redet jetzt mit ihm, als würde sie einen Sechsjährigen zurechtweisen. »Das rote Telefon im geheimen Zimmer unter jenem Haus, das Ihre Ex-Frau mit ihrem Lebensgefährten Lyle bewohnt hat, bis dieser auf unerklärliche Weise vom Erdboden verschwunden ist.«

Dad nimmt einen tiefen Zug. Wieder kehrt Stille ein.

»August hat seit der Nacht im Mondsee kein Wort mehr gesprochen, weil er vermeiden will, dass ihm die Wahrheit rausrutschen könnte«, sagt Mrs. Birkbeck, »die Wahrheit hinter seinem großen Geheimnis. Und Eli glaubt felsenfest, das magische rote Telefon sei real, da er am anderen Ende der Leitung einen Mann gehört hat, der Dinge über ihn wusste, die er unmöglich hätte wissen können.«

Wieder eine lange Pause.

Dann lacht Dad auf. Brüllt geradezu vor Lachen. »Oh, das ist verdammt gut, echt köstlich«, jauchzt er. »Das ist verdammt noch mal zum Totlachen.« Ich höre, wie er sich auf die Schenkel klopft.

»Wie schön, dass Sie dem Ganzen etwas Komisches abgewinnen können«, sagt Mrs. Birkbeck.

»Und Sie glauben im Ernst, dass meine Jungs all das wirklich glauben?«, fragt Dad.

»Ich glaube, dass die beiden womöglich schon vor einiger Zeit ein komplexes und vielschichtiges Glaubenssystem aus realen und eingebildeten Erklärungen entwickelt haben, um damit Momente großen seelischen Leids zu verarbeiten«, sagt sie. »Ich glaube, sie sind entweder massiv psychisch geschädigt – oder … oder aber …« Sie stockt.

»Oder was?«, fragt Dad.

»Oder … nun, man sollte womöglich auch die andere Erklärung für das alles zumindest in Erwägung ziehen«, sagt sie.

»Und die wäre?«, fragt Dad.

»Dass sie noch außergewöhnlicher sind, als Sie und ich auch nur annähernd begreifen können«, sagt Mrs. Birkbeck. »Vielleicht hören die beiden tatsächlich Dinge, die selbst ihr eigenes Denkvermögen übersteigen, und dieses rote Telefon, von dem die Jungen sprechen, ist ihre einzige Möglichkeit, sich das Unmögliche zu erklären.«

»Das ist so was von lächerlich«, sagt Dad.

»Schon möglich«, sagt Mrs. Birkbeck. »Aber wie auch immer – wie irrwitzig diese Theorien auch sein mögen –, was ich damit sagen will, ist, dass diese Überzeugungen, und seien sie auch nur Ausgeburten ihrer Fantasie, eines Tages katastrophale Folgen für August und Eli haben könnten. Was, wenn Augusts Glaube an das, was er ›Zurückkommen‹ nennt, in einem fehlgeleiteten Gefühl der … Unverletzlichkeit mündet?«

Dad lacht in sich hinein.

»Ich fürchte, diese Vorstellung hat ihre Jungen bereits etliche Male zu gefährlichem Wagemut verleitet, Robert.«

Dad denkt eine Weile darüber nach. Ich höre den Zündstein seines Feuerzeugs. Er bläst Rauch aus.

»Nun, Sie müssen sich um meine Jungs keine Sorgen machen, Mrs. Birkbeck«, sagt Dad.

»Wirklich nicht?«

»Nee«, sagt Dad. »Weil das alles nur ein Haufen Bockmist ist.«

»Und wieso?«, fragt Mrs. Birkbeck.

»Ich meine, August steht doch mit beiden Füßen auf dem Boden«, sagt Dad.

»Wie bitte?«

»August ist durch und durch praktisch veranlagt«, sagt Dad. »Hört sich eher an, als hätte Eli Sie verscheißert. Als hätte er Ihnen ’ne haarsträubende Geschichte aufgetischt, um sich aus irgendeiner Scheiße rauszulavieren, in die er sich geritten hat. Ist ’ne Win-win-Situation für ihn. Wenn Sie ’s ihm abnehmen, halten Sie ihn für etwas Besonderes. Wenn nicht, halten Sie ihn zwar für bräsig in der Birne, aber trotzdem für was Besonderes. Hören Sie, Eli ist ein Geschichtenerzähler. Und ich sag’s Ihnen nur ungern, Mrs. Birkbeck, aber Eli wurde mit den zwei wichtigsten Fähigkeiten geboren, die jeden guten Erzähler ausmachen – der Fähigkeit, einen guten Satz zurechtzuzimmern, und der Fähigkeit, jemanden zu verscheißern.«

Ich blicke zu August hinüber. Er nickt zustimmend. Die Beine eines Küchenstuhls kratzen über die Dielen. Mrs. Birkbeck seufzt.

August setzt sich auf und kriecht im Krebsgang unter dem Haus heraus. Am Ende der abfallenden Fläche, wo der Raum unter dem Haus wieder hoch genug ist, dass August stehen kann, macht er an einer von Dads verwaisten Waschmaschinen halt. Einem Toplader. Er öffnet die Klappe, wirft einen Blick hinein und klappt sie wieder zu. Dann winkt er mich zu sich herüber. Mach die Klappe auf, Eli. Mach schon auf.

Ich öffne den Deckel, und in der Wäschetrommel liegt eine schwarze Mülltüte. Schau in die Tüte, Eli, schau in die Tüte.

Ich schaue in die Tüte, und darin liegen, säuberlich in braunem Fettpapier verpackt und in klare Plastikfolie eingewickelt, zehn Blöcke Heroin. Die Blöcke sind so groß wie die Backsteine aus der Ziegelei in Darra.

August sagt nichts dazu. Schließt nur den Deckel der Waschmaschine, marschiert die Rampe hinauf und schnurstracks in die Küche. Mrs. Birkbeck dreht sich auf ihrem Stuhl zu ihm um, bemerkt die Anspannung in seinem Gesicht.

»Was ist denn los, August?«, fragt sie.

Er leckt sich über die Lippen.

»Ich werde mich nicht umbringen«, sagt er. Dann zeigt er auf Dad. »Und wir lieben Dad sehr, wenn auch nur halb so viel, wie er uns liebt.«